Kein Raum für Duelle

Politik

Angela Merkel und Friedrich Merz werden jenen 14. Juli des Jahres 2000 gewiss nie vergessen. Die frisch bestallte CDU-Vorsitzende und der Unionsfraktionschef hatten sich vorgenommen, die rot-grüne Steuerreform zu stoppen – aus inhaltlichen wie aus machtpolitischen Erwägungen. Beide waren neu im Amt und mussten sich beweisen. Die Chancen standen günstig, denn die Union hatte eine Mehrheit im Bundesrat. Doch dem machtpolitisch noch etwas ausgefuchsteren Kanzler Gerhard Schröder (SPD) gelang es unter anderem, Berlins Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) auf seine Seite zu ziehen. So holten sich Merkel und Merz in der Länderkammer eine blutige Nase an den eigenen Leuten. In der CDU-Spitze war inoffiziell von einer Katastrophe die Rede. Merkel gestand, zu gutgläubig gewesen zu sein. Derlei sollte ihr nicht wieder passieren.

Einen solchen Tag hat der ehrwürdige Bundesrat freilich lange nicht mehr erlebt. Zwar wurde ein paar Jahre später hart um die Agenda 2010 gerungen, die ebenfalls bei Schröder zu Buche schlug. Dabei ging es um die Frage, wie kompromisslos die Arbeitsmarktgesetze ausfallen sollten, die das Land bis heute spalten. Aber derartige High-Noon-­Situationen finden im Bundesrat kaum noch statt.

Das hat grundsätzlich mit den guten Umgangsformen und dem Kammerton zu tun, die im Bundesrat seit jeher gepflegt werden. Es gibt keine offensiven oder gar aggressiven Debatten. Die Redner gehen mit vorbereiteten, stets sachlich gehaltenen Manuskripten ans Pult. Niemand versuche dem Kontrahenten zu zeigen, “dass er ein bisschen doof ist”, wie der Chef der Thüringer Staatskanzlei, Benjamin Hoff (Linke), sich ausdrückt. Es wird nicht gebrüllt. Es wird nicht dazwischengerufen. Es wird auch nicht applaudiert. Nur dann und wann klopfen die Ministerpräsidenten beifällig auf die Tische – wenn einer der Ihren das Amt an den Nagel hängt. Volker Ratzmann, Bevollmächtigter des Landes Baden-Württemberg beim Bund, räumt ein: “Für eingefleischte Parlamentarier ist das alles etwas seltsam.”

Die Zuschauer auf den Tribünen scheinen sich entsprechend häufig zu langweilen. Von Ausnahmen abgesehen, besuchen überdies relativ wenige Journalisten das Gebäude in der Leipziger Straße unweit des Potsdamer Platzes. Die meisten von ihnen kommen, um gleich am Eingang O-Töne von den Ministerpräsidenten “abzu­fischen” – zu allen möglichen aktuellen und nicht so aktuellen Themen. Hier sind nämlich meist alle 16 Regierungschefs, sonst auf die gesamte Republik verstreut, für zwei oder drei Stunden an einem Ort versammelt. Das ist für Medienvertreter außerordentlich praktisch.

Saloon-Duelle sind heute selten

Meldemarathon in der Plenarsitzung vor der Sommer­pause 2018: Mehr als 200 Einzelabstimmungen ­allein zum künftigen EU-Haushalt.Dass machtpolitische Konflikte zur Ausnahme geworden sind und sogar der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat nur noch in Ausnahmefällen konsultiert wird, liegt jedoch in erster Linie daran, dass sich die Mehrheitsverhältnisse in der Länderkammer, in der 69 Stimmen zu vergeben sind, grundlegend verändert haben. Früher gab es nur die “A-Seite”; damit sind im Fachjargon des Regierungsviertels die SPD-regierten Länder gemeint. Und es gab die “B-Seite” unter Führung von CDU und CSU. Früher gab es auch lediglich Zweier-Koalitionen, angeführt von CDU oder SPD, meist mit Liberalen oder Grünen als Juniorpartner – oder absolute Mehrheiten. Das begünstigte Situationen wie vorm Saloon, bei denen entweder Sozialdemokraten oder Christdemokraten und Christsoziale das jeweilige Duell für sich entschieden.

Meldemarathon in der Plenarsitzung vor der Sommer­pause 2018: Mehr als 200 Einzelabstimmungen ­allein zum künftigen EU-Haushalt. (c) Frank Bräuer/Bundesrat

Heute gibt es mit Winfried Kretschmann nicht bloß einen grünen Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg, sondern auch einen linken Ministerpräsidenten namens Bodo Ramelow in Thüringen. Immer öfter regieren außerdem keine Zweier-, sondern Dreier-Koalitionen. 13 verschiedene Regierungsvarianten existieren derzeit insgesamt. “Das Leben ist extrem bunt geworden”, sagt Hoff. “Und das merkt man im Bundesrat total.” Kompromisse müssen mühsam ausgehandelt werden. Die Frontverläufe sind sehr unübersichtlich geworden. Das Spiel “Einer wird gewinnen” wird eher nicht mehr gespielt.

Ratzmann stellt mithin fest: “Der Bundesrat lebt nicht von der Debatte, sondern von der Koordinierung im Vorfeld.” Und die vollzieht sich in Ritualen. Bevor im Schnitt alle drei Wochen das Plenum des Bundesrats tagt, treten seine 16 Fachausschüsse zusammen. Anschließend werden die Voten der Länder zusammengetragen. Diese werden von den Kabinetten der 16 Landesregierungen jeweils dienstags festgezurrt. Bis donnerstagsabends oder freitagsmorgens haben die Bevollmächtigten der Länder oder an den Donnerstagabenden die Ministerpräsidenten selbst dann die Möglichkeit, Kompromisse auszuhandeln, wo diese nötig sind. Da ist auch der Staatsminister bei der Bundeskanzlerin Hendrik Hoppenstedt mit von der Partie. Denn manchmal erhält die Bundesregierung die ersehnte Mehrheit für ein Gesetz allein dann, wenn sie noch mal etwas auf den Tisch legt. Überwiegend handelt es sich dabei um finanzielle Zugeständnisse an die Länder – auch wenn das auf den ersten Blick oft nicht erkennbar ist.

Es gibt klare Spielregeln

Natürlich gibt es unverändert strittige Themen. Die Ausweitung der Liste sogenannter sicherer Herkunftsstaaten von Flüchtlingen war und ist so eines. Demnächst wird das Thema in Gestalt der Länder Algerien, Marokko und Tunesien wieder auf die Tagesordnung kommen. Von Kretschmann abgesehen, sind die Grünen dagegen. In den Sitzungen selbst gibt es so oder so aber kaum noch Überraschungen. Wer wie votiert, steht vor der Abstimmung fest. Können sich Koalitionsregierungen nicht auf ein Ja oder ein Nein verständigen, ist Enthaltung die Folge. Hält sich ein Koalitionspartner gleichwohl nicht an diese Spielregel, ist eine Koalitionskrise absehbar. Da bleibt in der Länderkammer für Spontaneitäten kein Raum.

“Der Bundesrat ist eine der am meisten unterschätzten Institutionen, die wir haben”, sagt Ratzmann aus “BaWü”. Sämtliche Gesetze müssten durch ihn hindurch. Man unterscheidet zwischen Gesetzen, bei denen die Zustimmung der Länderkammer zwingend ist, den so genannten Zustimmungsgesetzen, und den sogenannten Einspruchsgesetzen, bei denen die Ablehnung des Bundesrats durch ein neuerliches Votum des Bundestags überstimmt werden kann.

Zugleich sei der Bundesrat neben dem Bundestag und der Bundesregierung die einzige Instanz, die laut Verfassung überhaupt einen Gesetzentwurf einbringen könne, fährt Ratzmann mit Blick auf die über 500 Gesetze fort, die jährlich verabschiedet werden. “Ein Blockade- und Verhinderungsinstrument ist der Bundesrat, wie früher behauptet wurde, schon lange nicht mehr.” Im Gegenteil: Die Länderkammer habe die deutsche Vereinigung ab 1990 ebenso gewuppt wie die Euro- und die Flüchtlingskrise – und das alles ohne größere Verwerfungen. Dies sei auch der konstruktiven Haltung der Grünen geschuldet, die an knapp einem Dutzend Regierungen beteiligt sind und ohne die nichts mehr geht. 

In dieser Lesart erweist sich die Qualität des Gremiums, das Hoff wegen seines unaufgeregten Stils einen “angenehmen Anachronismus” nennt, gerade dadurch, dass es so unauffällig (geworden) ist. Volker Ratzmann, der Stuttgarter Bevollmächtigte in Berlin, ist darauf jedenfalls, so scheint es, ziemlich stolz.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 124 – Thema: Die Macht der Länder. Das Heft können Sie hier bestellen.