Kämpfe, Nerd!

Wenn die „Tagesthemen“ oder das „Heute-Journal“ über Netzthemen berichten, dann sieht der Zuschauer immer öfter einen freundlich lächelnden Mittdreißiger mit Brille, der ihnen erklärt, was Internetsperren sind, oder was Wikileaks eigentlich macht. Der Mann, den die Fernsehredakteure wahlweise als „Blogger“ oder „Internetaktivisten“ bezeichnen, heißt Markus Beckedahl und ist inzwischen bei Journalisten ein gefragter Experte. Beckedahl ist Autor des Blogs netzpolitik.org und weiß, wovon er spricht – vor allem aber kann er sich ausdrücken, und das unterscheidet ihn vom gemeinen Nerd.
Netzpolitik war bis vor drei Jahren selten ein Thema für die Mainstream-Medien, doch seit der Zensursula-Kampagne gegen Netzsperren und dem Achtungserfolg der Piratenpartei bei der Bundestagswahl sehen die Redaktionen, wie wichtig diese Themen für die Gesellschaft geworden sind.

„Campact“ als Vorbild

Der so häufig interviewte Beckedahl befasst sich seit Jahren mit Netz-Themen, er ist Mitveranstalter der jährlichen Blogger-Konferenz „Republica“ – und inzwischen ist er zum politischen Aktivisten geworden. Im April gründete er mit Gleichgesinnten den Verein „Digitale Gesellschaft“ (Digiges), der sich als Bürgerrechtsorganisation versteht und sich für eine „offene und freie digitale Gesellschaft“ einsetzt, so die Selbstbeschreibung. Auf der Agenda stehen der Kampf gegen Netzsperren, gegen Vorratsdatenspeicherung und für Netzneutralität. Ein Vorbild nehmen die Aktivisten sich an den Strategien von „Campact“, der schlagkräftigen Kampagnenplattform, die onlinegestützt zum Beispiel gegen Panzerexporte und gegen Atomkraft kämpft.
In persona anzutreffen ist der Netzaktivist an seinem Arbeitsplatz bei der von ihm mitgegründeten Agentur Newthinking, die in klassischen Hinterhofbüros in Prenzlauer Berg arbeitet. Beckedahl spricht so, wie er im Fernsehen spricht: bedächtig, meist verbindlich lächelnd. „Netzpolitische Kampagnen waren bisher eher reaktiv und von Nerds für Nerds gemacht“, sagt er. „Das Problem ist, dass die Netzgemeinde heute gegen Internet­sperren kämpft und morgen, wenn ein neues Computerspiel auf den Markt kommt, den Kampf erstmal wieder einstellt“, sagt er. Die neue Kampagnenplattform soll die Aufmerksamkeit nun kontinuierlich hoch halten und so medienwirksam sein, dass auch die auflagen- und quotenstarken Medien sie wahrnehmen. Nach der TV-Präsenz ihres Vordenkers zu schließen, ist das bereits gelungen.
Doch hat die Community die Eigenart, Menschen, die ihrer Meinung nach zu hoch fliegen, schnell wieder herunterzuzerren. Statt sich womöglich zu freuen, dass ihre Themen auf stärkere Resonanz stoßen, gingen einige Kommentatoren die „Digitale Gesellschaft“ erst einmal frontal an. So ergoss sich Kritik in einer Vielzahl von Twitter-Nachrichten über den Verein, und ein Blogger verirrte sich zu der Äußerung, Beckedahl sehe sich als „Kaiser des Internets“, die Digiges sei gar ein „faschistischer Kreis“. „Shitstorm“ nennt die Netzgemeinde so etwas. Sachlicher, aber immer noch deutlich stellte der Blogger Robin Meyer-Lucht auf Carta.info die Legitimation der Digiges in Frage: Er warf ihr ein „anmaßendes und politisch naives Öffentlichkeits- und Vertretungskonstrukt“ vor. Der Verein „inszeniere sich als Sprachrohr“, und das mediale Establishment ginge ihm prompt „auf den Leim“.
Hatten die Kampagnenmacher womöglich unterschätzt, wie sehr die Community sich als Basis-Bewegung versteht und sich im Besitz der „Weisheit der Vielen“ wähnt? Dass „die Vielen“ sich wie ein Fischschwarm organisieren und der Politik auch ohne Lobbyisten zeigen könnten, was eine Harke ist? Die Kampagne gegen das von der damaligen Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen initiierte Sperren von Kinderpornografie-Seiten muss dafür häufig als Beispiel herhalten. „Der Glaube an die reine Lehre der Schwarmintelligenz ist falsch“, meint Beckedahl. Internetprojekte, die sich das Wissen der Masse zunutze machen, seien nie reine Basisbewegungen: „Erfolgreiche Open-Source-Projekte organisieren Strukturen, so läuft es auch bei Wikipedia, wo es zwei-, dreihundert Autoren mit besonderen Rechten gibt.“ Tatsächlich sehen Kampagnenprofis bei Parteien und Verbänden den Vorteil des Online-Campaignings vor allem darin, viele Mitstreiter zum Mitmachen zu befähigen, neudeutsch: zu „enablen“. Im Juli hat die Digiges denn eine erste konkrete Kampagne gestartet: für Netzneutralität, also die Gleichbehandlung der Daten aller Internetnutzer durch die Provider. Eine Stiftung hat dafür 9500 Euro gespendet.

Piraten schlagen den Takt

Die „Digitale Gesellschaft“ ist jedoch nicht die einzige und nicht die erste Organisation, die sich Netz-Themen auf die Fahnen geschrieben hat. Einen unschätzbaren Dienst hat der Internetgemeinde eine noch junge Partei erwiesen: die Piraten. Als diese 2009 auf der Anti-Zensursula-Welle segelten, zur Bundestagswahl antraten und aus dem Stand zwei Prozent der Stimmen erhielten, war das Erschrecken der etablierten Politiker groß. Plötzlich drohte jemand, ihnen bei jungen Wählern und im großstädtischen Milieu das Wasser abzugraben. „Die Sensibilität für Netzpolitik hat bei den Parteien stark zugenommen, seit die Piraten auf den Plan getreten sind“, sagt der Politik-Professor Christoph Bieber, der den Blog „Internet und Politik“ schreibt. „Auch mit nur zwei Prozent der Stimmen können sie durchaus Taktgeber sein.“ Inzwischen haben sich Vereinigungen wie die Arbeitskreise Netzpolitik der SPD und der CDU oder der „CSU-Netzrat“ gegründet – für den die stellvertretende CSU-Generalsekretärin Dorothee Bär vollmundig eine „Vorreiterrolle“ in der Netzpolitik proklamiert hat.

Viele „Digitale Gesellschaften“

„Die Parteien wanzen sich an die Netzpolitik ran“, resümiert Constanze Kurz die Entwicklung. Kurz ist Sprecherin der Hackervereinigung Chaos Computer Club (CCC), die ebenfalls für mehr digitale Freiheiten eintritt. Kurz kann aus der Nähe beobachten, wie die Politiker sich netzpolitisch positionieren: Die Linkenfraktion im Bundestag berief sie in die voriges Jahr vom Bundestag eingesetzte „Enquete-Kommission Internet und Digitale Gesellschaft“. Diese soll die Auswirkungen des Internets auf Politik und Gesellschaft untersuchen und ist mit Abgeordneten, Wissenschaftlern und Netz-Experten besetzt. Neben Kurz gehört dem Gremium auch Beckedahl an, zudem Vertreter von Wirtschaftsverbänden, wie der Bitkom-Hauptgeschäftsführer Bernhard Rohleder.
Die Piratenpartei aber konnte seit der Bundestagswahl nur noch wenig von sich reden machen, auch ist ihr der Einzug in ein Länderparlament noch nicht geglückt. „Die Medien interessieren sich kaum für außerparlamentarische Parteien“, sagt Sebastian Nerz, der seit Mai Vorsitzender der Partei ist. Trotzdem glaubt er fest an die Existenzberechtigung einer Partei wie seiner: „Es gibt in den etablierten Parteien niemanden, der wirklich konsequent unsere Themen vertritt“, meint Nerz. Bei den Abgeordneten fänden vorrangig die Verbände der Kommunikationswirtschaft Gehör. Auf die nahende Abgeordneten­hauswahl in Berlin blicken die Piraten jedenfalls verhalten optimistisch: Hier holten sie bei der Bundestagswahl ihr bestes Zweitstimmenergebnis, immerhin 3,4 Prozent.
Was aber ist nun der richtige Weg für die Freunde des freien Internets: der lange Marsch durch die Institutionen oder die schlagkräftige Nichtregierungsorganisation (NGO)? „Wir brauchen beides“, sagt Piratenkäpitän Nerz. „Wir sehen eine NGO wie die Digiges nicht als Konkurrenz zu unserer Partei.“ Und auch Christoph Bieber meint: „Es ist zu begrüßen, wenn netzpolitische Themen es überhaupt auf die Agenda schaffen. Eigentlich brauchen wir viele ,Digitale Gesellschaften’.“ Mit organisierten Akteuren könne die Politik etwas anfangen, weil diese sich den Anschein von Legitimität geben würden – ob dieser berechtigt sei oder nicht. Wenn ein Branchenverband eine Studie veröffentliche, würden Fachpolitiker sich schon wegen des ihnen bekannten Absenders mit dem Inhalt befassen.
Auch CCC-Sprecherin Kurz findet es gut, dass die Macher der „Digitalen Gesellschaft“ ihr Projekt professionell aufziehen. Es sei wichtig, auf Augenhöhe mit Branchenverbänden wie dem Bitkom zu kommen. „In der Internetenquete schütten die uns aufgrund ihrer personellen Ressourcen mit Papieren zu.“

„Schmierenkomödie“

Vielleicht ist die Netzgemeinde schon auf dem Weg zu den „vielen ,Digitalen Gesellschaften’“, die Christoph Bieber vorschweben. So haben im August die Macher der Internet-Tagung „Politcamp“ den Politcamp e.V. gegründet, der ebenfalls netzpolitische Themen vorantreiben soll. Dass auch Markus Beckedahl mit der „Republica“ eine große Netz-Tagung veranstaltet, sticht als Parallele ins Auge. Der Unterschied zur ,Digitalen Gesellschaft’ allerdings ist die politische Enthaltsamkeit, die sich die Politcamp-Vereinsmitglieder auferlegen: „Wir möchten vor allem den Austausch über Netzpolitik voranbringen“, sagt Valentin Tomaschek, der Geschäftsführer des neuen Vereins. Dieser sei aber gerade nicht als Kampagnenplattform gedacht, und so heißt es denn auch in der Selbstbeschreibung: „Der Politcamp e.V. wird keine konkreten Handlungsempfehlungen oder Positionen erarbeiten.“ Bei der Mitgliedervielfalt dürfte das auch schwierig sein: Ihm gehören Bundestagsabgeordnete aller Fraktionen an. Diese und alle anderen Mitglieder stellt der Verein mit großen Fotos auf seiner Webseite vor.
Womöglich hat das Politcamp von den Querelen beim Start der Digiges gelernt: Denn nicht nur der Beckedahl unterstellte Anspruch, für alle Internetnutzer zu sprechen, rief Kritik hervor. Die Kritiker mahnten auch mehr Transparenz an, weil die Digiges zwar die Gründungsmitglieder öffentlich machte, nicht aber die gesamte Mitgliederliste. Schnell kam der Verdacht auf, es handele sich um ein den Grünen nahestehendes Projekt – schließlich engagierten sich nicht nur Beckedahl, sondern auch einige der Mitgründer wie dessen Agenturkollege Andreas Gebhard oder Benjamin von der Ahé früher bei der Grünen Jugend. Der CDU-Abgeordnete und Netzpolitiker Peter Tauber argwöhnt: „Wer hinter dem BDI, Greenpeace oder Attac steht, wissen wir, doch bei der Digiges ist das nicht der Fall.“ Für Politiker sei es wichtig, Ansprechpartner aus der Zivilgesellschaft zu haben, meint Tauber – nur müsse in Sachen Transparenz für diese das Gleiche gelten wie für Wirtschaftsverbände. Der Politiker lobt den parteiübergeifenden Ansatz des Politcamp-Vereins – und ist dort selbst Mitglied geworden.
Ob die Gemeinsamkeiten zwischen Netzaktivisten und denen, die im Parlament Politik mit all den dazugehörenden Kompromissen betreiben, am Ende groß genug sind, muss sich noch zeigen. Wie fremd beide Seiten sich zuweilen noch sind, zeigte sich jedenfalls bei der letzten Sitzung der Internet-Enquete vor der Sommerpause: Diese endete im Streit, weil die Mehrheit – die Vertreter der Koalition – eine Vertagung auf September durchsetzte und so eine drohende Abstimmungsniederlage beim strittigen Thema Netzneutralität verhinderte. Weil ein von der Koalition berufener Sachverständiger fehlte, hatte das Oppositionslager sich zuvor schon bei einigen Abstimmungen durchgesetzt. Nun wollte das Regierungslager die Blamage vermeiden, mit der Enquete eine Empfehlung pro Netzneutralität abzugeben. Eine solche stände nämlich im Gegensatz zum offiziellen Kurs der Regierungs-Fraktionen. Also Vertagung.
Nicht nur die Oppositionspolitiker in der Runde waren sauer, auch einige der Sachverständigen. „Eine Schmierenkomödie“ war die Sitzung für Markus Beckedahl – vielleicht aber war sie auch eine Lektion darin, was geschieht, wenn Parlamentarier alle Register der Verfahrens-Tricks ziehen. „Jeder spielt das Spiel auf seine Weise und nach seinen Regeln“, sagt Christoph Bieber. Doch immerhin ist festzustellen: Das Spiel ist eröffnet.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Kampf ums Internet – Die Lobby der Netzbürger formiert sich. Das Heft können Sie hier bestellen.