Jean Ziegler und die Analyse einer kannibalischen Weltordnung

Praxis

Vor einigen Wochen ist der sogenannte “Mittagsmörder” nach fast 50 Jahren aus der Haft entlassen worden. In der “Süddeutschen” stand, dass zu den größten Veränderungen, denen er sich stellen muss, gehöre, dass an die Stelle der Tante-Emma-Läden riesige Supermärkte getreten sind. Dort findet er nun meterlange Regale voller Joghurt, Müsli und Kaffeekapseln in 25 Geschmacksrichtungen.

Der Gegensatz zur Lage der hungernden und mangelernährten Menschen in Dutzenden Staaten der Erde könnte nicht größer sein. Und dieser Gegensatz ist es, den Ziegler thematisiert. Wobei “Gegensatz” nicht das richtige Wort ist für das, was den Schweizer Soziologen, langjährigen UN-Berater und Linksintellektuellen umtreibt. Es ist der Skandal, das schreiende Unrecht, das “Massaker”, wie Ziegler es nennt: der Hunger in einer Welt des Überflusses.

Die Analysen sind knapp, die Formulierungen scharf

Auf Reisen hat Ziegler das alles mit eigenen Augen gesehen. Seine Berichte aus den Elendsvierteln dieser Welt gehen unter die Haut. Wer in einem früheren Buch von ihm gelesen hat, wie ein Millionenheer von Wanderheuschrecken ein afrikanisches Dorf überfällt, versteht, wovor sich der Pharao des Alten Testaments fürchtete. Aber Ziegler kämpft nicht gegen biblische Plagen. Seine Gegner heißen WTO und GATT, TTIP und CETA, Finanzinvestoren, Nahrungsmittel-Spekulanten und Lebensmittelkonzerne. Seine Analysen sind knapp und unmissverständlich, seine Formulierungen scharf und brutal. Ziegler ist niemals lau, er ist Überzeugungs­täter und Fundamentalist. Nicht alle Thesen muss man teilen. Das beginnt bei seiner Perspektive: Ziegler hat eine dezidiert globalisierungskritische Grundhaltung.

Und doch durchziehen ein neuer Tonfall und eine neue Grundsätzlichkeit sein jüngstes Buch. Es ist das intellektuelle Vermächtnis des 80-Jährigen. Das Nachdenken über die Soziologie, die Rolle der Universität und die Verantwortung des Intellektuellen (“definitionsgemäß subversiv”) legen Zeugnis ab von seinem aktiven Wirken als Weltbürger. Es ist ein Buch der Hoffnung und Zuversicht, dass sich die “solidarische Vernunft” durchsetzt. Es lohnt, Zieglers Buch zu lesen. Nicht, um ihm in allem Recht zu geben, sondern weil man an seiner Kapitalismus- und Globalisierungskritik die eigenen Überzeugungen schärfen kann. Und weil man danach noch überzeugter für soziale Marktwirtschaft und freien Handel eintreten mag. Denn nur faire Handelsbedingungen und die Teilhabe ärmerer Staaten an den Chancen der Globalisierung sorgen dafür, dass der aus der Haft entlassene „Mittagsmörder“ auch fair gehandelte Produkte kaufen kann, die in armen Ländern Arbeit und Einkommen schaffen.

Fazit

Zieglers Buch ist eine lehrreiche Rückschau auf vergangene politische Debatten und eine gute Grundlage für eine Vorbereitung auf die wichtige Diskussion über das Freihandels­abkommen zwischen den USA und Europa. Wir müssen diese Debatte stärker führen als bisher. Auch das ist eine Antwort auf den Zieglers Appell.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Denken. Das Heft können Sie hier bestellen.