Im Inneren der Wagenburg?

Politik

Das die Fantasie anregende Bild der Wagenburg gehört zu den gängigen Klischees. Im Inneren der zusammengeschobenen Planwagen: die Inhaber der Regierungsmacht mit der Winchester im Anschlag. Draußen kreisen wild entschlossene Lobbyisten mit Pfeil und Bogen und versuchen, an die Zuwendungen oder Gesetze heranzukommen. Soweit das Klischee – die Wirklichkeit ist anders. Es gilt das Motto “Mitten im Leben”. Tatsächlich sind die Minis­terien mit ihren tausenden Mitarbeitern, Verbandsvertreter, Unternehmensbeauftragte, Abgeordnete und Journalisten zu einem weitverzweigten Organismus verwachsen, wie der “Baum der Seelen” im Hollywood-Film “Avatar” – sie leben und sterben zusammen.

Selbst als erfahrener Ministerialer staunt man nicht schlecht angesichts der sichtbaren Spitze des Eisbergs an organischen Verbindungen zwischen den Ressorts und der politischen Umwelt. So gab es zu Beginn meiner Tätigkeit als Staatssekretär in einem größeren Bundesministerium einen leitenden Beamten, der es völlig normal fand, nach jedem mit mir geführten Gespräch über die jeweiligen Inhalte an interessierte Abgeordnete zu berichten. Nach dieser Gewohnheit befragt, zeigte er keinerlei Irritation. Im Gegenteil, auch über dieses kritische Gespräch wurde unverzüglich nach draußen rapportiert.

Soweit zum Thema Abschottung der Macht. Tatsächlich wäre eine Wagenburg-Konstellation auch nicht gut. Wir leben in einer offenen, lebendigen Demokratie, in der obrigkeitsstaatliches Denken zum Glück weitgehend ausgerottet oder zumindest nicht mehr politisch korrekt ist. Den eisgrauen Staatssekretär, der als technokratischer Erfüllungsgehilfe seines Ministers das Haus mit eiserner Hand zum mechanischen Ausführungsorgan formt, ist vielleicht für manche ein Wunschtraum, aber keine Realität.

Jedes Ministerium hat so viele Anknüpfungspunkte wie Menschen, die in ihm arbeiten. Das wissen erfahrene Lobbyisten, die vor Weihnachten mit Printen und Pralinenschachteln ausgestattet die Vorzimmer der Macht aufsuchen, um die Vorzimmerdamen für die nächste Terminabsprache mit den jeweiligen Chefs gnädig zu stimmen.

Die wichtigsten Synapsen der Ministerien sind aber die sogenannten Titelverwalter. Als solche agieren Minis­terialräte in den Fachabteilungen der Minis­terien, die einen bestimmten Haushaltstitel, also von der Regierung geplante und vom Parlament gebilligte Guthaben – zum Beispiel für Raumfahrtprojekte – unter sich haben. Unterabteilungsleiter werden gar nicht mehr, Abteilungsleiter und Staatssekretäre allenfalls beiläufig gegrüßt, wenn ein solcher Beamter der unteren Führungsebene auf ein entsprechend interessiertes Publikum trifft. Denn der Titelverwalter bestimmt mit seiner Sachkenntnis und seiner Erfahrung wesentlich mit, wer in den Genuss öffentlicher Mittel kommt.

Das Getümmel der Akteure

In dem organischen Miteinander des Regierungsgeschäfts tummeln sich große Gruppen mit wenig und kleine mit viel Einfluss. Das ist eine uralte Erkenntnis der politischen Ökonomie. Der viel zitierte “kleine Mann auf der Straße” ist in seiner Rolle als Einflussnehmer auf Wahltermine, Demonstrationen, Internetforen und Bürgerbriefe beschränkt. Letztere werden in den Ministerien sehr ernst genommen. In den Ressorts, in denen ich gearbeitet habe, wurden selbst polemische Zuschriften ernsthaft beantwortet. Häufig durchliefen die Antwortvorschläge die komplette Hierarchie bis zum Minister. Ich kenne einen Kollegen, der alle Antworten an Bürger von vorn bis hinten selbst geprüft hat. Es gibt auch extra beauftragte Beamte in den Minis­terien, die sich ausschließlich mit der Auswertung von Bürgereingaben und Internetforen beschäftigen, um so Erkenntnisse über Meinungen und Trends zu gewinnen. Aber die einzelne Stimme erreicht natürlich selten etwas.

Journalisten würden sich empört dagegen wehren, zu den Belagerern der Wagenburg gezählt zu werden. Tatsächlich gibt es auch dort Persönlichkeiten, die sich nicht nur auf ihre eigentliche Aufgabe der objektiven Berichterstattung oder Kommentierung beschränken wollen. Ihre Zielansprache richtet sich allerdings in den meisten Fällen direkt an die Minister oder Parlamentarischen Staatssekretäre, weniger an den Beamtenapparat. Dem Journalisten geht es auch nicht um ein politisches Ziel, sondern um die Produktion einer Meldung. Er schlägt dem Politiker eine Initiative, zum Beispiel die Forderung nach “Tempolimit 100” vor, stimmt mit ihm einige Zitate ab und beide haben etwas davon. Die Aufgabe des Ministeriums ist in diesen Fällen, die überzeugende Begründung und einen ausgereiften Vorschlag zur Umsetzung nachzuliefern. Beamtenkommentare der Art “das war nur so eine Spontanidee des Chefs” sollten diese wichtige Arbeit eher nicht begleiten.

Die klassischen Einflussversuche erreichen die Wagenburginsassen über die verschiedenen Gruppen von Lobbyisten. Um es vorwegzunehmen: Lobbyisten sind auch Menschen mit allen Vorzügen und persönlichen Besonderheiten. Ich habe ihre Besuche in meiner aktiven Zeit immer als Bereicherung des Informationsspektrums erlebt. Terminanfragen wurden nur in extremen Fällen abgewiesen, beispielsweise wenn dieselbe Person innerhalb kurzer Zeit mehrfach anfragte oder überhaupt kein Sachzusammenhang zur eigenen Aufgabe erkennbar war. Sogenannte Türöffner gab es auch. Ihr Einsatz wäre allerdings nicht nötig gewesen, die Anfragen wären auch ohne Verpflichtung eines prominenten Fürsprechers positiv beantwortet worden.

Systematisch lassen sich drei Klassen von Lobbyisten unterscheiden: Der Unternehmensrepräsentant, der Verbandslobbyist und der Allgemeinlobbyist. Der Unternehmenslobbyist versteht am meisten von der Sache und hat die konkretesten Anliegen. Er möchte zum Beispiel die Förderung eines innovativen Projekts erreichen oder ein Produkt verkaufen. Als Führungskraft in einem Ministerium holt man sich meist einen kundigen Fachbeamten zu einem solchen Termin und verweist am Schluss auf dessen noch abzuwartende Prüfungsarbeit. Konkrete Verabredungen gibt es bei solchen Gesprächen selten. Sie werden auch kaum erwartet, da der Unternehmensvertreter noch eine Serie ähnlicher Treffen vor sich hat.

Der Verbandslobbyist kommt mit konkreten Anliegen, wenn aktuell über einschlägige Gesetze beraten wird. Die Anlieferung kompletter Gesetzentwürfe, über die in der Presse häufiger berichtet wird, mag vorkommen. Ich habe das allerdings nicht erlebt. Verbandsvertreter kommen aber auch ohne konkrete Wünsche, um sich einfach nach dem aktuellen Stand der politischen Diskussion zu erkundigen. Solche Gespräche sind meist sehr entspannt, weil sie ohne die gefürchteten 30-seitigen Power-Point-Präsentationen auskommen. Neben dem verständlichen Wunsch nach aktueller Information dienen diese Besuche auch dem innerverbandlichen Arbeitsnachweis. Deshalb sind die Gruppenfotos mit Smartphone am Ende des Treffens gerade für kleinere Verbände oft von erheblicher Bedeutung, scheinen sie doch das Einvernehmen mit – und den Einfluss auf – wichtige Regierungsstellen zu beweisen.

Wenn man unbedingt eine Reihenfolge aufstellen will, ist der Besuch eines Allgemeinlobbyisten der am ehesten verzichtbare. Das Geschäftsmodell dieser Berufsgruppe besteht häufig darin, von Regierungsvertretern oder Mitarbeitern möglichst viele gesicherte oder auch ungesicherte Informationen zu erfragen. Diese Neuigkeiten werden dann als brandheiß und exklusiv an das nicht hauptstadtkundige Publikum im Lande weiterverkauft. Aus achtlos hingeworfenen Bemerkungen werden so wichtige Insiderkenntnisse. Und aus flüchtigen Bekanntschaften mit Ministeriumsmitarbeitern entstehen in der Verkaufsdarstellung enge Freundschaften. Zum Glück sind Besuche dieser Lobbyisten-Gruppe eher die Ausnahme.

Wer nimmt wie Einfluss?

Zu Recht zählen Abgeordnete in einer Demokratie zu den am besten legitimierten und wichtigsten Einflussnehmern. Manche Minister sehen sich – unterstützt vom Parlamentsreferat – als alleinige Schnittstelle zu den Volksvertretern. Das ist im Sinne der Gewaltenteilung vollkommen korrekt, in der Wirklichkeit aber nicht immer durchzuhalten. Und so begegnet die Führungskraft im Ministerium Abgeordneten in zwei Konstellationen: Einmal kommen die Wahlkreisabgeordneten als normale Interessenvertreter, weil sie für Infrastrukturprojekte werben oder einen Bundeswehrstandort sichern wollen. Diesen Anliegen lauscht man selbstverständlich mit großer Aufmerksamkeit, insbesondere, wenn der Volksvertreter ein sehr enges Verhältnis zum eigenen Ressortchef pflegt. Aber auch Abgeordnete mit weniger guten Beziehungen oder solche aus der Opposition erfahren bei ihren Besuchen im Ministerium meist eine erstklassige Behandlung – wenn auch nicht immer die sofortige Erfüllung ihrer Wünsche: Man weiß ja nie, wann man auf sie als Teil der Gesetzgebung für die Durchsetzung von Ressortvorhaben dringend angewiesen sein wird.

Und damit ist man bei der zweiten Gattung der Abgeordnetenkontakte. Dabei wird der Ministerialbeamte zum Bittsteller, weil er die Genehmigung von Haushaltsmitteln oder die Billigung von Gesetzen und Verordnungen erreichen will. Bittsteller zu sein, ist immer unangenehm. Das gilt umso mehr, als man ja nicht für sich selbst – allenfalls für die eigene Karriere – sondern für das Gemeinwohl Überzeugungsarbeit leistet. Die meisten Abgeordneten können diese Kalamität nachvollziehen, weil sie selbst häufig für ihre Wahlkreisbürger bitten müssen. Einige wenige genießen es aber auch, mal in der Rolle der Inquisitoren auftreten zu können.

Die Methoden der Einflussnahme sind je nach Anliegen, Machtposition und Persönlichkeit der handelnden Personen sehr unterschiedlich. Die schlichteste ist die schon angedeutete “Power-Point-Ermüdungsstrategie”. In der Hoffnung, der Besuchte werde im Zustand geistiger Erschöpfung nach 30 Seiten Power-Point-Erläuterungen schon Zustimmung signalisieren, werden solche Gespräche sorgfältig vorbereitet. Die geschicktere Variante besteht darin, die ersten 15 Seiten der Präsentation (über die Firmengeschichte seit Napoleon) zu überspringen und damit den Gastgeber von Anfang an freundlich zu stimmen. Das entspricht dem Schachzug des Festredners, der lässig sein 50-seitiges Manuskript beiseitelegt, um frei von der Leber weg sein Publikum persönlich anzusprechen.

Große und finanzstarke Unternehmen und Verbände argumentieren mit Arbeitsplätzen, öffentlicher Meinung und Einflussmöglichkeiten hinter den Kulissen, um ihre Anliegen durchzusetzen – das ist hinlänglich bekannt. Für das Thema “persönliche Erfahrungen” spannender sind Treffen, die unter dem Motto laufen: “Trotz einiger Irritationen in der Vergangenheit stehen wir doch alle für die gleiche, große Sache ein.” Solche überhöhten Postulate werden auch schon gerne mal mit körperbetonten Gesten unterstrichen, die der norddeutsch-unterkühlte Autor dieser Zeilen in Ausübung seiner Dienstpflichten eher erduldet hat.

Interessant, aber in der Regel nicht empfehlenswert ist die Mitleidsvariante. Dass mit dem Untergang von Firmen und Arbeitsplätzen hantiert wird, ist ja noch ziemlich normal und nachvollziehbar. Es kommt aber auch vor, dass Verbandsvertreter ihren eigenen Arbeitsplatz ins Spiel bringen, der in Gefahr gerate, wenn nicht schnell ein Lobby-Erfolg erreicht wird. Diesen Fall habe ich allerdings nur einmal erlebt.

Trotz einiger besonderer Begegnungen kann – ohne rosarote Brille – festgehalten werden, dass die Einflussnahme auf die “Zentren der Macht” in Deutschland in sehr geordneten Bahnen verläuft. Praktisch nie wurde mit Drohungen hantiert und mit Versprechungen schon gar nicht. Den am wenigsten gefilterten Versuch der Einflussnahme habe ich mit einem Minister eines anderen Ressorts erlebt. Bei dessen Ansprache der etwas ruppigeren Art konnte ich allerdings gelassen auf Durchzug stellen, weil ich wusste, dass mein damaliger Chef wie ein Fels hinter mir stand.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe politik&kommunikation II/2015. Das Heft können Sie hier bestellen.