„Für die politische Meinungsbildung ist das persönliche Gespräch enorm wichtig“

Herr van de Laar, Sie haben die beiden Präsidentschaftswahlkämpfe von Barack Obama hautnah miterlebt und mitgestaltet. Was war das Erfolgsrezept der beiden Kampagnen?

Eine Kombination vieler unterschiedlicher Faktoren. Im Vordergrund stand die Fähigkeit Obamas, authentisch zu kommunizieren und Menschen von seiner Botschaft zu überzeugen. Dazu kam ein hochprofessioneller Wahlkampf-Apparat, der eine neue Ära der Kampagnenkommunikation eingeläutet hat. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor, der 2012 sowohl online als auch offline eine zentrale Rolle gespielt hat, war die Schlussmobilisierung, die in den USA „GOTV“ (Get-Out-The-Vote) genannt wird.

Wie sah diese Mobilisierung konkret aus?

Die Erfahrung zeigt, dass unentschlossene Wählerinnen und Wähler am besten erreicht werden, wenn sie von jemandem angesprochen werden, den sie bereits kennen oder der zumindest in derselben Nachbarschaft wohnt. Daraufhin wurde ein Heer von ehrenamtlichen Helfern rekrutiert, die vor der Wahl mit möglichst vielen Wählerinnen und Wählern vor Ort noch einmal persönlich Kontakt aufgenommen haben. Digitale Kanäle spielten bei der Mobilisierung eine wichtige Rolle. Der Fokus der Online-Kampagnen lag allerdings nicht ausschließlich darauf, Wähler zu aktivieren. Mindestens genauso wichtig war es, über diesen Kanal Unterstützer zu rekrutieren, sie zu organisieren und ihnen die notwendigen Ressourcen an die Hand zu geben, selbst aktiv zu werden und ihre unentschlossenen Nachbarn zu überzeugen, am Wahltag Obama zu wählen. Diese dezentrale Freiwilligen-Infrastruktur – unser „Ground Game“ – war neben der Persönlichkeit des Kandidaten unser größtes Pfund im Wahlkampf.

Sie waren während der heißen Phase des Wahlkampfes im Swing State Ohio aktiv. Obama konnte den Staat am Ende mit etwa über 100.000 Stimmen Vorsprung gewinnen. Wie viele von diesen Wählern haben Sie durch den Häuserwahlkampf erreicht?

In den letzten vier Tagen vor dem Wahltag ist es uns gelungen, mehr als 21.000 freiwillige Unterstützer zu mobilisieren, die allein in Ohio an über 800.000 Türen geklingelt haben, um noch einmal 350.000 persönliche Gespräche mit ihren noch unentschlossenen Nachbarn zu führen. Unsere Analysen haben gezeigt, dass diese Schlussmobilisierung einen signifikanten Unterschied gemacht hat und für den knappen Wahlsieg in Ohio entscheidend mitverantwortlich war.

In der Berichterstattung über den Präsidentschaftswahlkampf 2012 war immer wieder vom IT-System der Obama-Kampagne – dem „Project Narwhal“ – die Rede. Was ist das für ein System?

Der technische Fortschritt, der zwischen 2008 und 2012 stattgefunden hat, war immens und angesichts der schwierigen politischen Ausgangslage unbedingt notwendig. Um überhaupt eine Chance auf den Wahlsieg zu haben, musste die Kampagne von Grund auf effizienter werden und die vorhandenen Ressourcen so effektiv wie möglich einsetzen. Technisch ist es der Kampagne 2012 durch Narwahl gelungen, viele der unterschiedlichen Informationen und Daten, die sowohl online als auch offline ermittelt worden waren, miteinander zu verbinden und daraus Rückschlüsse zu ziehen, die sich positiv auf viele Aspekte der Kampagne ausgewirkt haben. Mit Hilfe der unterschiedlichen Informationen, die von Unterstützern an die Kampagne übermittelt wurden, konnten anschließend maßgeschneiderte Mitmachangebote entwickelt werden.

Die Obama-Kampagne basierte stark auf Informationen über die Wähler, die deutschen Parteien nicht zur Verfügung stehen…

Ja, Kandidaten und Parteien in den USA verfügen mit dem Wählerregister über eine andere Datengrundlage, als es in Deutschland der Fall ist. Um in den USA wählen zu können, muss sich jeder Amerikaner registrieren und gibt dadurch bekannt, ob er sich den  Demokraten, Republikanern oder unabhängigen Wählern zuordnet. Diese Daten sind öffentlich zugänglich und stehen allen Kandidaten zur Verfügung. Das war eine der wichtigsten Grundlagen, um das Wahlpotenzial des Einzelnen zu bestimmen. Dazu kommen unter anderem Strukturdaten sowie Informationen zum Spendenverhalten, die Parteien und Kandidaten in vergangenen Wahlkämpfen erhoben haben. Anhand von Modellen werden im Anschluss unterschiedliche Zielgruppen identifiziert. In Deutschland gibt es eine deutlich striktere datenschutzrechtliche Grundlage. Das ist auch gut so.

Was bedeutet das für deutsche Parteien?

Dass es im deutschen Wahlkampf nicht darum gehen sollte, wie man an zusätzliche Daten rankommt. Die wesentliche Frage, die aus meiner Sicht am häufigsten übersehen wird, lautet: Wie nutze ich die Informationen und Daten, die ich bereits habe, um die eigene Basis zu aktivieren? SPD und CDU verfügen über jeweils circa 475.000 Parteimitglieder. Dazu kommen Unterstützer auf den digitalen Plattformen sowie in den sozialen Medien. Einer der wesentlichen Aspekte, der häufig bei der Obama-Kampagne verkannt wird: Der Großteil der Daten, die letztendlich den Unterschied gemacht haben, wurden von den Unterstützer freiwillig zur Verfügung gestellt.

Zum Beispiel?

Das waren beispielsweise Unterstützer, die online eine Petition für die Einführung der Gesundheitsreform unterzeichnet haben und sich mit ihrem Namen, ihrer E-Mail-Adresse und Telefonnummer auf der Kampagnenwebseite registriert haben. Allein im Bundesstaat Ohio hatten wir 700 hauptamtliche Wahlhelfer, deren Aufgabe es war, Unterzeichner wie diese noch am selben Tag anzurufen und zu fragen, ob sie sich nicht für unsere Kampagne engagieren wollen und am kommenden Wochenende in ihrer Nachbarschaft an Türen klopfen möchten.

Schöpfen die deutschen Parteien die Wählerdaten, die ihnen zur Verfügung stehen, aus?

Nur teilweise. Es gibt unzählige Möglichkeiten, Unterstützer und potentielle Wähler zu erreichen, die mit unseren Datenschutzrichtlinien absolut auf Kurs sind. Direktmarketing-Firmen wie zum Beispiel Deutsche Post Direkt bietet an, Postwurfsendungen an genau selektierte Zielgruppen zu versenden – das wäre viel effizienter als ein und denselben Brief an jeden Haushalt einer Region zu versenden, ohne die verfügbaren Informationen über die Menschen zu berücksichtigen. Dieser Ansatz wird von einigen Parteien genutzt.

Viele Wahlkampfexperten meinen, dass die US-Präsidentschaftswahlkämpfe 2008 und 2012 durch einen „Ground War“ – also durch den massiven Einsatz von freiwilligen Helfern im Straße- und Haustürwahlkampf  – gewonnen wurde. In Deutschland versucht sich die SPD derzeit im Haustürwahlkampf. Zugleich findet der Wahlkampf intensiv in den Medien statt. Denken Sie, dass man die Bundestagswahl über die Menschen vor Ort gewinnen kann, oder spielt in Deutschland immer noch der „Air War“ – also die TV-Spots und die mediale Berichterstattung – die übergeordnete Rolle?

Selbstverständlich spielen klassische Medien auch in diesem Wahlkampf eine zentrale Rolle, allein schon auf Grund der Reichweite. Kurz vor der Wahl sind viele Wählerinnen und Wähler noch unentschlossen, welcher Partei sie ihre Stimme geben werden. Dazu kommt die sinkende Wahlbeteiligung, die bereits 2009 bei einem historischen Tief von 72,2 Prozent lag. Die Wahrscheinlichkeit, einen Unentschlossenen oder einen Nichtwähler mit Hilfe eines Auftritts in einem TV-Duell, durch einen Wahlwerbespot oder ein Plakat zu mobilisieren, ist relativ gering. Für die politische Meinungsbildung ist das persönliche Gespräch enorm wichtig. Die Erfahrung zeigt: Wenn es darum geht, Menschen von einem Kandidaten zu überzeugen, gelingt dies immer am besten, indem ich mit ihnen rede – vor Ort und zwar von Angesicht zu Angesicht.