Fünf Kommunikations-Mängel

Im Brockhaus von 1898 wird Reform definiert als „planmäßige Umgestaltung bestehender Einrichtungen zur Abstellung der sich zeigenden Übelstände“. Diese Definition verweist auf eine Deutung des Reformbegriffes, der sich im 17. und 18. Jahrhundert durchgesetzt hat: Die Neuordnung im Sinne eines politisch-gesellschaftlichen Fortschritts. Im Regierungsprogramm der SPD von 1976 spielte der Reformbegriff als „Weg der schrittweisen Verbesserungen“ eine entscheidende Rolle.
Diese Bedeutung ist inzwischen verloren gegangen. Ein wesentlicher sprachlicher Katalysator für die semantische Transformation war der Begriff „Reformstau“. Er wurde zum Kampfbegriff der Marktradikalen im Wettstreit um die Deutungshoheit über den Reformbegriff. Reform wurde zum Synonym für Deregulierung („Privat vor Staat“) und Entsolidarisierung („mehr Eigenverantwortung“). Der Reformbegriff wurde damit zur rhetorischen Waffe gegen den Diskurs, der ihn ursprünglich hervorgebracht hatte. Und er wurde zur Drohkulisse für die mittleren und unteren Einkommensschichten, denen eine „Vollkaskomentalität“ unterstellt wurde, die mit ihren Ansprüchen dem „Standort Deutschland“ schadeten und „fit für den globalen Wettbewerb“ gemacht werden mussten.

Unvermeidliche Reformen

Auch Rot-Grün war vor der Inanspruchnahme des Reformbegriffs durch Sachzwangpolitik nicht gefeit. Der Kommunikationsberater Michael Kronacher schreibt hierzu: „Die Agenda 2010 war zu lange offen für unterschiedlichste Interpretationen und damit ein ideales Objekt überschießender Ängste und Empörungen.“ Das trifft zwar zu, aber es trifft nicht den Kern. Der kritische Punkt war nicht die Vieldeutigkeit, sondern die angebliche Unvermeidlichkeit der verkündeten Reformen, die in dem Schlüsselsatz gipfelte: „Entweder wir modernisieren, oder wir werden modernisiert.“ Modernisierung ist hier eine Frage des Sachzwanges, nicht des gesellschaftlich Wünschenswerten. Mit dieser Kommunikation wurde – wenn auch ungewollt – das Geschäft des politischen Gegners befördert. Sie legte eine Interpretation des Reform- und Modernisierungsbegriffs nahe, die nicht an sozialdemokratische Traditionen anknüpfte, sondern die Denkmuster des konkurrierenden Lagers aktivierte. Das heißt: In den Köpfen der Bürger wurde das konservative Denkprogramm „Staat schadet Wohlstand und Freiheit“ ungewollt aktiviert.
Mit Blick auf die gegenwärtige Große Koalition wiederum schreibt der Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld: „Offensichtlich ist es der Politik bisher nicht gelungen, durch eine stringente Kommunikation breitere öffentliche Unterstützung für ihre Reformziele zu mobilisieren.“ Er benennt drei Ursachen: Den Mitgliederschwund der Parteien und die Auflösung der Stammwählermilieus, den Medienwandel und den technologischen Wandel mit dem Bedeutungszuwachs des Internets. Auffällig an der Bewertung ist nicht nur, dass zumindest im ersten Punkt Ursache und Wirkung verwechselt werden, sondern dass politische Inhalte keine Rolle zu spielen scheinen.
Dies gilt auch für große Teile der Politikberatung und Literatur zum Thema Reform- und Regierungskommunikation. Sie gehen meist von politischen Sachzwängen aus, für die es in der Bevölkerung Zustimmung zu organisieren gilt. Die Analyse von Regierungskommunikation beschäftigt sich mit den Hindernissen beim „Durchregieren“ (Angela Merkel) und „Durchkommunizieren“. Hierzu gehören beispielsweise die Verlagerung von Entscheidungskompetenzen auf andere Ebenen (vor allem die Europäische Union), institutionelle Blockaden, die Politikverflechtung im föderalen System, die Rolle der Medien, das Vorhandensein von Veto-Spielern, das Ressortprinzip in Regierungen und Koalitionen oder verfassungsrechtliche Beschränkungen von amtlicher Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Kein Regierungsakteur kommt daran vorbei, diese Bedingungen zu berücksichtigen, doch der Schlüssel zur erfolgreichen politischen Kommunikation liegt hier nicht.
Unsere These lautet, dass ein Großteil der gegenwärtigen Reformkommunikation weniger eine Reaktion auf kleiner werdende politische Handlungsspielräume ist, sondern vielmehr eine der Ursachen. Denn sie trägt eine maßgebliche Mitverantwortung für die Entpolitisierung der politischen Öffentlichkeit. Es ist vor allem die Haltung, die eine vermeintliche Alternativlosigkeit des jeweiligen Handels als letzten Begründungsausweg heranzieht, die politisches Desinteresse und die Abwendung von den politischen Großakteuren provoziert. Politische Akteure, die die „Tina-Strategie“ („There is no alternative“) für sich in Anspruch nehmen, müssen sich nicht wundern, wenn die „Zielgruppen“ ihrer Kommunikation Wahlentscheidungen oder politisches Engagement für irrelevant halten.
Oder mit anderen Worten: die gegenwärtig vorherrschende Form der Politikbegründung ist Teilaspekt und Ursache dessen, was als Tendenz zur „Postdemokratie“ beschrieben wird. Die „Reformmüdigkeit“, geäußert als Vorwurf an Teile der Wählerschaft, wurde von ihr beantwortet mit Politikmüdigkeit, indem sie beispielsweise den Wahlen fern bleibt. In vielen Städten werden Räte und Oberbürgermeister inzwischen gerade einmal von 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung gewählt. Politik ist für immer weniger Menschen ein wichtiger Bezugspunkt. Die Parteien bluten aus.

Mangelhafte Kommunikation

Aus unserer Sicht sind es fünf Mängel, die an der gegenwärtigen Reformkommunikation zu beanstanden sind:
Erstens: Der Mangel an innerer Überzeugung und Mobilisierung.
So wichtig mediale Vermittlung heutzutage geworden ist, auf die „eigenen Truppen“ kann dennoch nicht verzichtet werden. Der Erfolg, für „mutige Reformen“ den Jubel der Leitartikler zu ernten, ist schnell vergänglich, wenn die eigenen Parteimitglieder in Alltagsgesprächen verkünden, dass sie diese „mutige Reform“ für falsch halten.
Zweitens: Der Mangel an normativer ­Begründung.
Politische Kommunikation ist immer auch Wertekommunikation, bei der es nicht nur darum geht, was „notwendig“ ist, sondern auch darum, auf der richtigen Seite zu stehen. Reformkommunikation muss also vor allem ein kommunikativer und normativer Diskurs sein.
Drittens: Der Mangel an Parteilichkeit und Leidenschaftlichkeit.
Politik braucht einen Standpunkt. Dieser ergibt sich aus den eigenen Werten und Zielen. Mobilisierung ist die Folge von Entscheidungsmöglichkeiten und des Wettbewerbs um diese Ziele. Laut der belgischen Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe ist eine „politische Mobilisierung von Leidenschaften“ nötig.
Viertens: Der Mangel an politisch-historischen Traditionslinien.
Aus der Marketing-Perspektive meinen viele politische Kommunikatoren, ihr jeweiliges „Produkt“ als „neu“ klassifizieren zu müssen. Doch Parteien, Bewegungen und auch Nationen haben ihre Mythen. Sie zeichnet dem Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler zufolge aus, dass sie „begeisterte Zustimmung hervorbringen, wie sie bei einem nüchternen Abwägen der Vor- und Nachteile nie zustande käme“.
Fünftens: Der Mangel an glaubwürdiger Sprache.
„Zukunft ist gut für alle“ lautet der Titel eines Buches, das der fiktive CDU-Politiker Dr. Udo Brömme im Wahljahr 2009 auf den Markt brachte. Sowohl Buch als auch Titel sind Satire, aber niemand würde sich wundern, wenn dieser Satz, zusammengesetzt aus Plastikwörtern (Uwe Pörksen), auf echten Plakaten stünde.

Repolitisierung der Sprache

Eine strategische Diskursführung greift diese Mängel auf und geht über die oft taktisch verkürzte Reformkommunikation hinaus. Sie ist der Regierungs- und Reformkommunikation analytisch und operativ vorgelagert und beschreibt eine mittel- bis langfristig ausgerichtete Strategie. Eine solche Diskursführung muss im Wesentlichen folgendes leisten: Sie muss zunächst als elementarer Teil einer politischen Strategie verstanden werden, mit dem grundsätzlichen Ziel der gesellschaftlichen Meinungsführung. Erforderlich ist auch eine übergreifende Idee bezogen auf das Gemeinwohl, eine normative politische Leitidee. Diese Idee braucht auch ein antagonistisches Gegenüber. Drittens: Bezogen auf diese Leitidee müssen Diskurskoalitionen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen gebildet werden. Für einen erfolgreichen Reformdiskurs ist außerdem eine politische Semantik, eine Repolitisierung von Sprache nötig – eine Sprache, die nicht in politikferne und demokratiefreie Zonen verweist, sondern auf das Politische selbst, die Sphäre des Gemeinwohls und  des Demokratischen als Wert.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Die Stunde der Lobbyisten – Deutschland nach der Wahl. Das Heft können Sie hier bestellen.