Fertig machen zum Angriff

So viel Harmonie war selten. Es ist Mittwoch, der 17. September, Haushaltsdebatte im Bundestag. Angela Merkel kehrt vom Rednerpult zu ihrem Platz auf der Regierungsbank zurück. Neben der Kanzlerin sitzt Frank-Walter Steinmeier und drückt ihr die Hand. Beide lächeln einander an, die Kameras der Fotografen klicken. Was für eine Show.
Merkel hatte zuvor warme Worte für die Georgien-Politik ihres Herausforderers gefunden. Jeder soll an diesem Tag sehen: Es herrscht Einigkeit in der Großen Koalition. Oder, wie es SPD-Fraktionschef Peter Struck später ausdrückt: „Wahlkampf ist später“.
Wirklich? Es ist nur wenige Tage her, da sprach Merkel ihrem Koalitionspartner noch die „Würde einer Volkspartei“ ab. Sie meinte die Umstände, die zur Nominierung von Steinmeier als Kanzlerkandidat und zum Rücktritt Kurt Becks vom SPD-Vorsitz geführt hatten: die SPD-Vorstandsklausur am brandenburgischen Schwielowsee am 6. September.
Mit den Personalentscheidungen für Steinmeier als Spitzenkandidat und Franz Müntefering als neuen Parteivorsitzenden beendete die SPD nicht nur ein monatelanges parteiinternes Hickhack. Sie gab auch das Aufbruchsignal für den Wahlkampf. „Der 6. September 2008 ist der Beginn des Bundestagswahlkampfs 2009“, sagt Wolfgang Schroeder, Politikwissenschaftler an der Universität Kassel. Während Union und SPD im Bund noch so einträchtig wie möglich auf Große Koalition machen müssen, planen die Strategen in den Parteizentralen längst die Kampagnen für 2009.

Die Reihen schließen

Worauf sie sich einstellen sollen, ist allerdings noch völlig unklar. „Wer mir heute erzählen will, er habe bereits eine Strategie für die Wahlen im nächsten Jahr, den würde ich nicht allzu ernst nehmen“, sagt CDU-Wahlkampfberater Peter Radunski. Es gebe im Superwahljahr 2009 einfach zu viele Variablen für ein lineares Kampagnenkonzept. Beginnend mit der Bundespräsidentenwahl im Mai, über die Europawahl nebst acht Kommunalwahlen im Juni über die drei Landtagswahlen Ende August steuert alles auf das große Finale zu: die Bundestagswahl am 27. September.
Die politische Lage im Fünf-Parteien-System ist so kompliziert wie nie zuvor. Jedes Wahlergebnis wird als Seismograf für den nächsten Urnengang herhalten müssen. Jede Bewegung wird von Demos­kopen und Journalisten analysiert und kommentiert werden. Und niemand weiß, wie schwer der Wirtschaftsabschwung Deutschland noch treffen wird. Für die Kampagneros heißt das: Sie müssen sich auf ständig neue Konstellationen einstellen – und die Nerven behalten.
Die SPD ist deshalb froh, dass der erfahrene Wahlkämpfer Müntefering zurück ist. Mit Kajo Wasserhövel hat er gleich seinen engsten Vertrauten als neuen Bundesgeschäftsführer und Wahlkampfmanager im Willy-Brandt-Haus installiert, Parteisprecher Lars Kühn gegen Stefan Giffeler ausgetauscht und seinen alten Büroleiter Andreas Kuhl­mann zurückgeholt. Bis auf Giffeler wirkten alle schon im legendären Kampa-Team von 2005 mit, das die SPD aus schier aussichtsloser Position im Endspurt noch an die Union heranführte. Auch Ex-Kanzler Gerhard Schröder wird im Wahlkampf wieder auf den Marktplätzen der Republik für seine Partei trommeln.
Das Kampagnenteam der SPD ist bereits gut aufgestellt. Vorrangig wartet auf die neue Parteispitze aber eine ganz andere Aufgabe: Müntefering und Steinmeier müssen die Genossen hinter sich versammeln. Der linke SPD-Flügel überwindet den Schock nach Becks Abgang langsam. Mit Argwohn betrachten Parteilinke wie Ottmar Schreiner die Machtübernahme durch die Agenda-2010-Architekten. „Ich habe keine Zweifel, dass das professionelle Wahlkämpfer sind“, sagt Schreiner. „Aber die Verpackung allein macht es nicht. Wichtig sind die Inhalte.“
Besonders in der Rentenpolitik mahnt Schreiner Kurskorrekturen an. Ein „Großmaß an Geschlossenheit“ sei im Wahlkampf nur herstellbar, wenn das Wahlprogramm so formuliert sei, dass sich die SPD in ihrer ganzen Breite dahinter versammeln könne. Es klingt wie eine Drohung. Schreiner hatte am Schwielowsee als einziger gegen Münteferings Nominierung zum Parteichef gestimmt. „Zu autoritär“ sei dessen Führungsstil, kritisierte er. Gesprochen hat er mit Müntefering seitdem nicht. „Das muss von ihm ausgehen“, findet der Saarländer.
Vor Franz Müntefering liegt also viel Integrationsarbeit. Wenn ihn die SPD am 18. Oktober offiziell zum neuen Parteivorsitzenden wählt, wird das Ergebnis das Maß an Geschlossenheit aufzeigen. Klaas Hübner vom rechten Seeheimer Kreis ist überzeugt davon, dass die Sozialdemokraten ihre Flügelkämpfe bald überwinden werden. „Die SPD hat es noch immer geschafft, sich zum Wahlkampf zu einen“, sagt er. Müntefering und Steinmeier seien dafür die richtige Besetzung. „Beide stehen in der Mitte der Partei“, sagt Hübner. Einen Richtungswechsel werde es mit ihnen nicht geben.
Erwartungen, die SPD würde mit dem neuen Spitzenduo nach rechts rücken, hält auch Peter Radunski für unbegründet: „Die SPD hat die Erfolge der Agenda 2010 nicht ordentlich kommuniziert, das wird sie nun besser machen. Aber sie muss sich im Wahlkampf vor allem um die Stimmen der Nichtwähler und die Wähler der Linken bemühen.“
Die SPD-Wahlkämpfer wissen, dass das Thema soziale Gerechtigkeit eine entscheidende Rolle in ihrer Kampagne spielen muss. „Wir müssen klar machen, dass wir die Partei sind, die im Hier und Jetzt um jeden Meter soziale Gerechtigkeit kämpft“, sagt Hübner. Mit Konzepten zum Mindestlohn und besseren Bildungschancen wird die Partei versuchen, ihre Stammwähler zu mobilisieren und im Lager der Linkspartei zu wildern. Die SPD-Linke wird zudem ihr Lieblingsthema Vermögenssteuer wieder auf die Agenda heben.
Noch bevor überhaupt ein Kampagnenkonzept auf dem Tisch liegt, hat die SPD eines schon geschafft: Das konservative Lager ist nervös. Münteferings Rückkehr kommentierte Angela Merkel zwar äußerlich gelassen: „Wir kennen uns mitt­lerweile ja recht gut.“ Doch auch Merkel weiß, dass der neue SPD-Parteichef mit dem handzahmen Vizekanzler Müntefering nichts mehr gemein haben wird. Frei von großkoalitionären Verpflichtungen wird er im Wahlkampf gegen die Union losledern können. Das ahnt auch Fraktionschef Volker Kauder: „Frank-Walter Steinmeier gibt sich präsidial, und Franz Müntefering fährt die Attacken.“
Die SPD plant, die Union zu zermürben und zu Fehlern zu zwingen. Eine Taktik, die durchaus aufgehen könnte. „Die CDU ist traumatisiert durch die Erfahrung von 2005. Das hat negative Auswirkungen auf ihre Souveränität im Wahlkampf 2009“, sagt der Politologe Schroeder. Anders als der SPD fehlt der Union bislang ein schlagkräftiges Team. Allein auf den Amtsbonus und die hohen Sympathiewerte der Kanzlerin kann sie nicht setzen. Und die Regierungschefin kann schwerlich selbst gegen den eigenen Koalitionspartner wettern. Jetzt rächt sich vielleicht, dass Merkel wenig starke Persönlichkeiten neben sich zulässt.
„Die Union braucht eine Mannschaft, die kompetent in wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Themen ist“, fordert Josef Schlarmann, Präsident der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU. „Leute mit einem gewissen Charisma“ sollten das sein, „nicht nur Sachbearbeiter“. Woher diese Unterstützung kommen soll, ist noch ungewiss. Das muss die Parteichefin Merkel entscheiden. Die einst so mächtigen Landesfürsten der Union halten sich bislang jedenfalls vornehm zurück. Und nach den negativen Erfahrungen mit ihrem Steuerexperten Paul Kirchhof vor drei Jahren wird Merkel diesmal genau prüfen, ob und auf welche externen Berater sie im Wahlkampf setzt.

Markenkern verwässert

Das Wahlprogramm der Union steht ohnehin noch nicht. Zunächst werden erstmal die Anträge für den CDU-Parteitag Anfang Dezember gezimmert. Schlarmann sitzt in einer Kommission, die die bürgerliche Mitte an die CDU binden soll. „Merkels letzter Widersacher“ („Der Spiegel“) wird in die Programmarbeit eingespannt, um den Wirtschaftsflügel zu besänftigen und das Profil der CDU für die Wunschkoalition Schwarz-Gelb zu stärken. Für Schlarmann und das Unions-Wirtschaftslager war die Große Koalition ohnehin von Beginn an ein Fehler.
Merkel, so ihre Sicht der Dinge, stand 2005 während der Koalitionsverhandlungen unter Schock, weil sie die sicher geglaubte Kanzlerschaft fast noch verspielte. So konnte die SPD die Schlüsselressorts Finanzen sowie Arbeit und Soziales besetzen und der Regierung ihren Stempel aufdrücken. So sei der Union die Wirtschaftskompetenz abhanden gekommen. So wurden Spitzenleute wie Friedrich Merz vergrault – und am Ende auch das reformorientierte Stammklientel.
Für Schlarmann steht fest: Die CDU hat durch Merkels Kurs ihren Markenkern verwässert. „Im Wahlkampf müssen die Brot-und-Butter-Themen wieder wichtiger als die Boutique-Themen werden, die wir in den letzten drei Jahren gepflegt haben“, fordert er. „Die CDU muss aufpassen, dass sie die Balance hält“, warnt auch Radunski. Merkels Regierungsmannschaft – allen voran Familienministerin Ursula von der Leyen – hat die Gesellschaftspolitik der Union modernisiert. Das brachte ihr Anerkennung in der Öffentlichkeit ein – aber keine Zugewinne in den Umfragen. „Die Union hat es seit 2005 trotz eklatanter Fehler auf Seiten der SPD nicht vermocht, nachhaltig mehr Zustimmung für sich zu organisieren“, sagt Wolfgang Schroeder.
Eine Analyse der vergangenen Landtagswahlen zeigt, dass sich die CDU mit ihrer Politik keine neuen Wählerschichten erschlossen hat. Junge Frauen beispielsweise machen ihr Kreuzchen weiter lieber bei SPD und Grünen. Ole von Beust, der im Hamburger Wahlkampf die moderne Großstadtpartei gepredigt hat, hat bei den jungen Wählerinnen sogar Stimmen verloren. Seinen Wahlsieg verdankt er den Alten.
„Weil er die Werte des Hanseatischen verkörpert“, sagt Radunski. Die Stammwähler der Union seien nun einmal zu großen Teilen älteren Semesters. Und die erreiche man über Werte. Es ist abzusehen, dass die Union im Bundestagswahlkampf eine polarisierende Kampagne gegen die mögliche Zusammenarbeit von SPD und Linke fahren wird, um das konservative Klientel zu mobilisieren.
Oberstes Ziel der Union wird sein, die Glaubwürdigkeit der SPD in dieser Frage zu erschüttern. „Niemand will einen Lagerwahlkampf führen, aber alle müssen“, prophezeit Radunski. Gelegenheit dazu werden die Christdemokraten reichlich bekommen: Wenn Andrea Ypsilanti sich von den Linken als Ministerpräsidentin in Hessen tolerieren lässt, wenn Gesine Schwan mit den Stimmen der Linken zur neuen Bundespräsidentin gewählt werden sollte, wenn sich nach den Landtagswahlen im Saarland und in Thüringen rot-rote Koalitionen anbahnen. Den taktischen Fehler von Ypsilanti, erst ein Bündnis mit den Linken auszuschließen und dann nach der Wahl ihr Wort zu brechen, wird niemand in der SPD wiederholen. In Erfurt und Saarbrücken liebäugeln die Genossen deshalb schon vor der Wahl mit Rot-Rot – wenn sie trotz derzeit schwächerer Umfragewerte 2009 den Ministerpräsidenten stellen dürfen. Und wenn im Saarland die Reizfigur Oskar Lafontaine verschwindet.
Bleibt der Umgang mit den Linken im Bund. Die SPD hofft, rot-rot-grüne Spekulationen durch ihr Spitzenduo abmildern zu können. „Franz Müntefering und Frank-Walter Steinmeier geraten als Personen überhaupt nicht in Verdacht, mit der Linkspartei zu paktieren“, sagt der Seeheimer Hübner. Und die SPD-Landesverbände könnten laut Parteisatzung nun einmal über Koalitionsfragen selbst entscheiden.
Ob das reichen wird, um die Wähler zu überzeugen? Die SPD steckt im Linkspartei-Dilemma. Einschreiten in Wiesbaden kann die Bundespartei nicht mehr. Sehr zum Wohlgefallen der CDU. Deren Generalsekretär Ronald Pofalla hat bereits ein Plakat mit einem Steinmeier-Zitat zu Hessen vorgestellt: Die Glaubwürdigkeit sei ein Kriterium, an dem die SPD sich messen lassen müsse, hatte der Vizekanzler gesagt. „Die SPD kann erzählen, was sie will. Auf Länderebene mit der Linken gehen, im Bund nicht – das ist nicht kommunizierbar“, sagt Radunski.
Noch stärker wollte die Union ursprünglich die Linke im Wahlkampf frontal angehen. Eine Neuauflage der Rote-Socken-Kampagne von 1994 wird es aber nicht geben. Die Union müsse aufpassen, dass sie gegenüber der Linken nicht überzieht, hat ihr Renate Köcher vom Meinungsforschungsinstitut Allensbach ins Stammbuch geschrieben. Denn die Linke werde in der Bevölkerung keineswegs so negativ gesehen wie von der Union. Den Passus, die DDR in einem Leitantrag zum Parteitag als „zweite Diktatur in Deutschland“ zu geißeln, hat die CDU vorsorglich schon einmal gestrichen.
In dieser Frage kann sie sich ohnehin auf den liberalen Wunschpartner verlassen. FDP-Chef Guido Westerwelle vergisst bei keinem öffentlichen Auftritt, vor den „Kommunisten und Sozialisten“ von der Linken zu warnen. Die Liberalen wollen 2009 nach elf Jahren Opposition endlich wieder in die Regierung. Davon hängt nicht zuletzt das politische Schicksal ihres Parteivorsitzenden ab.
„Am liebsten würde die FDP bei Angela Merkel unter den Rock kriechen“, sagt Schroeder. Für den Fall jedoch, dass Schwarz-Gelb keine Mehrheit bekommt, muss sich die FDP breiter aufstellen: „Die FDP ist, was ihre Programmatik betrifft, die konservativste Partei im deutschen Parteienspektrum. Für weitere Koalitionsmöglichkeiten müssten da gewisse Lockerungsübungen stattfinden.“ Ein Jamaika-Bündnis mit Union und Grünen erscheint eher unwahrscheinlich. Zu weit liegen die Parteien in der Energiefrage auseinander. „Wenn es um die Atompolitik geht, ist das ganze ‚Jeder kann mit Jedem’-Gerede doch schon wieder vorbei“, sagt Radunski. Bleibt die Ampel. „Immer daran denken, niemals davon reden“, müsse das Motto der FDP in dieser Frage lauten. Zumindest bei der Außen-, Rechts- und Innenpolitik liegt sie näher bei der SPD als bei der Union.

Entscheidung auf der Zielgeraden

Die Sozialdemokraten hoffen, bei den Liberalen diesmal auf offenere Ohren zu stoßen als 2005. „Die FDP kann es sich nicht noch einmal leisten, jedes Gespräch zu verweigern“, sagt Hübner, „dann würde sie ihren Wählern gegen­über unglaubwürdig, weil sie ja gestalten muss.“ Wie hoch die Chancen auf ein Dreierbündnis tatsächlich stehen, ist frühestens im Sommer 2009 abzusehen. Bis dahin wird die Schwierigkeit für alle Parteien darin liegen, flexibel in der Koalitionsfrage zu bleiben und trotzdem mobilisierende Wahlkämpfe zu führen.
Ein Jahr vor der Bundestagswahl haben die Kontrahenten damit begonnen, sich gegenseitig zu belauern. Ab jetzt wird jeder Fehler des Gegners gnadenlos ausgenutzt. Am Ende wird wohl das Reaktionsvermögen in der heißen Wahlkampfphase über Sieg und Niederlage entscheiden. Wer cool bleibt, gewinnt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe 27 – Sonntag. Das Heft können Sie hier bestellen.