Enttäuschte Freunde

„Ich fühle mich um einen historischen Moment betrogen“, ruft eine wütende Besucherin lauthals in die Menge, kurz nachdem Barack Obama das Rednerpult vor dem Brandenburger Tor verlassen hat. Die Frau verschwindet in Richtung „Unter den Linden“, noch bevor überhaupt klar ist, warum sie so erbost ist. Nur wenige Meter weiter sprechen US-Experten bereits ihre Analysen in die Mikrofone.

Sicher ist: Die Welt wird erst in paar Jahren die Antwort darauf bekommen, ob diese Rede historisch war. Erst dann wird man Obama an seinen Versprechungen messen können, sei es über die Reduzierung der atomaren Sprengköpfe oder die Schließung des US-Gefangenenlagers Guantanamo. Und auch erst dann werden die rund 4000 Zuschauer wissen, ob es sich gelohnt hat, mehrere Stunden in der Gluthitze auszuharren, um dem 44. US-Präsidenten zuzuhören.

Aber der Reihe nach: Um 13.30 Uhr sind die Tribünen auf dem Pariser Platz bereits gut gefüllt. Unter anderem sitzen dort 600 Schüler und Lehrer der John-F-Kennedy-Schule aus Berlin-Zehlendorf. Sie haben sich schon um 11.30 Uhr auf den Weg nach Mitte gemacht. Die zweisprachige Gesamtschule hat nach der Ermordung Kennedys 1963 ihren heutigen Namen erhalten und ist seitdem ein Symbol für die deutsch-amerikanische Freundschaft.

Auf der langen Tribüne stehen zwei Schüler mit Baseball-Caps und bunten Sonnenbrillen, wie Fußballfans eingehüllt in deutsche und amerikanische Fahnen.

Jonathan Knate hat vor wenigen Wochen seinen Abschluss an der John-F-Kennedy-Schule gemacht. Der 18-Jährige hofft auf ein klares Plädoyer Obamas für das geplante Freihandelsabkommen. Doch der Präsident wird das Abkommen später nur in einem Halbsatz erwähnen.

Der Abiturient ist Halbamerikaner und hat Obama im vergangenen Jahr gewählt, stimmt aber nicht in allen Punkten mit ihm überein. „Gerade was die Rechte von Schwulen und Lesben angeht, wünsche ich mir eine konservativere Linie“, sagt Jonathan, der bald in Virginia Wirtschaftsingenieurwesen studieren wird. Doch auch in diesem Punkt wird Obama ihn enttäuschen.

14.35 Uhr: Wunder-Geiger David Garrett spielt extra für den Präsidenten den Bruce-Springsteen-Song „Born in the USA“. Die Leinwand auf dem Pariser Platz zeigt derweil den Präsidenten-Tross, wie er am Großen Stern vorbei auf die Straße des 17. Juni abbiegt.

Geruch von Schweiß und Sonnencreme

Eine Frau im roten Etuikleid singt den Song mit viel Verve mit. Rachel Schumann ist 1979 aus der Heimat der Obamas, Chicago, nach Deutschland gekommen, als ihr Mann Protokollchef im Auswärtigen Amt wurde. Die ältere Dame, die ein Armband mit den „Stars & Stripes“ trägt, wünscht sich vom US-Präsidenten einen Satz wie damals von Kennedy. Doch auch ihr Wunsch bleibt unerfüllt. Es war kein historischer Satz dabei, darin sind sich die Beobachter schnell einig.

15:10 Uhr: Die Zuschauer sind das Warten leid und versuchen, Obama herbei zu klatschen. Vergeblich. Viele nutzen ihre Kopfbedeckung, um sie mit Wasserbechern zu füllen. Die Schlange für die Wasserspender streckt sich zeitweise fast über den gesamten Platz. In der Luft liegt der Geruch von Sonnencreme und Schweiß.

Einer fällt in der Menge besonders auf. Er trägt ein orangefarbenes Hemd, eine rote Cordhose und Zehensocken. Viele Berliner kennen ihn. Es ist Simon Kowalewski, Mitglied des Abgeordnetenhauses und Pirat. Kowalewski war auch 2008 live dabei, als Obamas Auftritt an der Siegessäule vor knapp 200.000 Menschen etwas von einer religiösen Erlösung hatte. Genau dort, wo Obama damals sprach, demonstrieren heute Kowalewskis Parteifreunde gegen den Präsidenten; eigentlich haben sie 500 Demonstranten erwartet, schließlich sind es um die 50. Natürlich wird am Ende auch Kowalewski enttäuscht sein; darüber, dass Obama keine der Themen angesprochen hat, die in Deutschland gerade debattiert werden, wie das Abhörprogramm Prism oder der Drohnenkrieg.

Buhrufe für Wowereit

15.15 Uhr Endlich geht es los, doch dann kündigt eine Sprecherin zunächst Klaus Wowereit an. Buhrufe für den Regierenden. Merkel hingegen bekommt wie Obama viel Beifall. Glaubt man den Umfragen, ist Obama in Deutschland immer noch beliebter als die Bundeskanzlerin. Gerade merkt man keinen Unterschied.

15.30 Uhr: Obama tritt vor das Rednerpult. Etwas Erlösendes hat sein Auftritt auch diesmal. Das Schwitzen hat bald ein Ende.

15:58 Uhr: Nach 28 Minuten sagt Obama „Vielen Dank“ und flüchtet Richtung Tiergarten. Das völlig überhitzte Publikum ist ebenfalls schnell weg. Was bleibt, sind deutsche und amerikanische Flaggen: Sie liegen zu Dutzenden auf dem Boden vor der historischen Kulisse.