Ende eines Mythos

Als Tony Blair am 2. Mai 1997 im Glanz der aufgehenden Sonne unter dem Jubel seiner Anhänger eine neue Zeitrechnung für Großbritannien ausrief, war New Labour auf dem Höhepunkt des Erfolges angekommen. Zwölf Jahre später verwaltet Gordon Brown das Erbe eines Projektes, das im kommenden Mai wohl endgültig zu Grabe getragen werden wird.
Die Entstehung von New Labour ist die Geschichte der Transformation einer antiquierten Arbeiterpartei zu einer postmodernen Mittelstandspartei. Festgefahren in ideologischen Auseinandersetzungen der 70er und 80er Jahre, galt die Partei Anfang der 90er Jahre bei weiten Teilen der britischen Bevölkerung als nicht wählbar. Labour war das Schreckenszenario des Mittelstands. Aus Angst vor explodierenden Staatsausgaben und höheren Steuern für mittlere und obere Einkommen wählte diese wahlbestimmende Bevölkerungsschicht die Konservativen unter Margaret Thatcher und John Major 18 Jahre lang in die Regierung.
1994 betrat der charismatische Pragmatiker Tony Blair das politische Parkett. Der frisch gewählte Parteivorsitzende modernisierte Labour. Er überwand ideologische Gräben, begrenzte den Einfluss der Gewerkschaften und Parteilinken, verabschiedete sich vom Sozialismus und vermittelte zunächst seiner Partei, später seinem ganzen Land, ein Gefühl der Zuversicht.

Clinton weist den Weg

Orientierung fand er in den Theorien des britischen Philosophen Anthony Giddens. Der hatte den „Third Way“ als Alternative zwischen Neoliberalismus und Sozialismus proklamiert. Zudem wies der Wahlsieg von Bill Clintons „New Democrats“ den Weg zum Erfolg. Auch Clinton hatte seine Partei zunächst in die Mitte des politischen Spektrums geführt und kam anschließend in Washington an die Macht. Mit New Labour leitete Tony Blair die britische Variante  des so genannten „Dritten Wegs“ ein.
Blair war als Parteivorsitzender die strahlende Lichtgestalt dieser neuen Bewegung. Ihm zur Seite standen sein Pressesprecher Alastair Campbell und der Parteistratege Peter Mandelson. Mit perfekt verteilten Rollen arbeitete das Trio auf seinen ersten Wahlsieg hin, der ein Erdrutschsieg für New Labour wurde: Blair war der dynamische Pragmatiker, der Aufbruchstimmung verbreitet. Mandelson steuerte die Wahlmaschinerie der Partei mit einer Effektivität, die noch heute als Lehrstück für Parteimanager gilt. Als Wächter der Tugend und Disziplin war er der Zuchtmeister des Schattenkabinetts, der Parteikollegen mit abweichender Meinung Maulkörbe erteilte. Dies hat ihm bis heute den Beinamen „Prinz der Finsternis“ eingebracht.
Campbell, ehemals Journalist des auflagestarken „Daily Mirror“, coachte Blair und zeichnete verantwortlich für das erfolgreiche Agenda-Setting gegenüber den Medien, die dem Charme des Neuen reihenweise erlagen. Er fädelte auch den Deal mit den Zeitungen des australischen Medienmoguls Rupert Murdoch ein. Mit „The Times“ und „The Sun“ sowie der Sonntagszeitung „News of the World“ stellten sich gleich drei traditionelle Sprachrohre der Konservativen auf die Seite von New Labour. Ein bedeutender Schritt für den Wahlsieg.
New Labour errang 1997 mit 418 der 659 Mandate eine deutliche Mehrheit. Vier Jahre später wiederholte die Partei das Kunststück, lediglich fünf ihrer Abgeordneten verloren den Sitz im Unterhaus. Der erneute Wahlerfolg ließ die Kritiker vom linken Parteiflügel kurzfristig verstummen.
Erst als Tony Blair in Nibelungentreue an der Seite von George W. Bush in den Irakkrieg zog, wandten sich zahlreiche traditionelle Anhänger ab. Teile des liberalen Mittelstands entzogen ihre Unterstützung, als die Spin-Doktoren von Labour versuchten, den Krieg mit Halbwahrheiten hinsichtlich der Massenvernichtungswaffen zu legitimieren. In Folge der Aufarbeitung zog sich Campbell im August 2003 aus der Politik zurück; Blair verlor seinen engsten Vertrauten. Zu diesem Zeitpunkt war Mandelson bereits zwei Mal wegen politischer Skandale aus dem Kabinett zurückgetreten.

Blair verpasst den Absprung

Ähnlich wie die Konservativen beim Abgang von Margaret Thatcher war New Labour 13 Jahre nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden Tony Blairs überdrüssig. Schlechte Umfragewerte und rebellierende Unterhausabgeordnete verstärkten den Druck auf den Parteivorsitzenden. Ihm folgte sein langjähriger Weggefährte Gordon Brown, der bereits seit längerer Zeit auf den verabredeten Wechsel gedrängt hatte. Auf dem Weg an die Macht waren beide – trotz einer innigen Abneigung – aufeinander angewiesen. Als Finanzminister hatte Brown die gestalterischen Möglichkeiten für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes.
Nach dem Amtsantritt Browns stabilisierte sich Labour 2007 für kurze Zeit in den Umfragen. Doch im Parlament steht Brown heute ein wortgewandter, moderner Konservativer gegenüber, der den Premierminister ein ums andere Mal in den Debatten alt aussehen lässt. Wie einst Tony Blair hat David Cameron seine Partei für die einst verlorene Mitte wieder wählbar gemacht. Auch die konservativen Medien unterstützen die Tories wieder; wenn auch mit weniger Euphorie als zu Zeiten Margaret Thatchers.
Die Stimmung im Land zeigt sich bei den Wahlen. Die kontinuierlichen Siege, die New Labour von Anfang an legitimiert hatten, blieben aus. Mit desaströsen Kommunalwahlergebnissen – Platz drei hinter den Konservativen und Liberalen – schwand das Vertrauen der verbliebenen Anhänger. Nach drei Unterhauswahlsiegen in Folge überzeugte die Partei nur noch 24 Prozent der Wähler; viel zu wenig für den Anspruch einer auf Sieg gepolten Bewegung. Als die Konservativen 2008 in Crewe und Antwich zum ersten Mal in 30 Jahren ein Unterhausmandat bei einer Nachwahl zurück eroberten, war der Nimbus der Unbesiegbarkeit von New Labour endgültig dahin.
Neben schlechten Wahlergebnissen hat die Partei finanzielle Probleme. Der Mitgliederschwund – von den einst 405.000 Parteimitgliedern beim Antritt Blairs blieben weniger als 180.000 – riss ein großes Loch in die Parteikasse. Für den medial inszenierten Schwerpunktwahlkampf in den Stimmbezirken mit häufig wechselnden Mehrheiten wird dringend Geld benötigt. So wird die Stimme derer lauter, die eine Abkehr von der mittelstands- und marktorientierten Politik New Labours fordern. Längst haben Parolen von Klassenkampf wieder Einzug in die Fraktion erhalten.

Englands zu Guttenberg

Fünfzehn Jahre nach dem Start ist das Projekt New Labour beendet. Was bleibt, ist die Hoffnung auf anhaltenden Frieden in Nordirland, sind Mindestlöhne in der Industrie, mehr Autonomie für die Regionalparlamente, zehn wirtschaftlich erfolgreiche Jahre mit einer der europaweit geringsten Arbeitslosenquoten und eine Bilderbuchlektion, wie Politikverkaufe in der Mediendemokratie perfektioniert, aber auch übertrieben werden kann.
Die Zukunft von Labour lässt sich nur schwer vorhersagen. Zwischen lähmenden Flügelkämpfen und einer fokussierten Oppositionsarbeit ist alles denkbar. Viel hängt davon ab, welche prominenten Politiker 2010 ihren Sitz bei den Wahlen verlieren, und aus welchem politischen Lager die verbliebenen Abgeordneten stammen werden. In den vergangenen Monaten haben sich insbesondere zwei Minister vom Typ eines Karl-Theodor zu Guttenberg in Szene gesetzt: Außenminister David Milliband und Erziehungsminister Edward Balls.
In beiden setzt sich die Auseinandersetzung und Hass-Liebe der zwei Premierminister von New Labour fort: der konservative Miliband arbeitet seit 1994 eng mit Tony Blair zusammen; im gleichen Jahr heuerte Balls bei Gordon Brown an.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Die Stunde der Lobbyisten – Deutschland nach der Wahl. Das Heft können Sie hier bestellen.