Ein bisschen Obama

Es ist ein schwüler Abend in der Bronx, Gewitterwolken ziehen herauf. In der Wohngegend um die Irvin-Avenue stehen Hochhäuser aus Backstein, in dieser Ecke der Bronx lebt der Mittelstand. Auf dem Bürgersteig vor dem Benjamin-Franklin-Club hat sich eine Menschentraube gebildet, rund 60 Anhänger der demokratischen Partei betreten nach und nach den Clubraum. Der Club ist so etwas wie ein Ortsverein, und die Mitglieder freuen sich auf ein kleines Barbecue: Grillen wollen sie die Bewerber, die sich um die Kandidatur der Partei bei den Kongresswahlen im November bewerben. Das Mandat für das Repräsentantenhaus wird alle zwei Jahre neu vergeben; die Bewerber sprechen vor, weil sie auf eine Wahlempfehlung des Clubs für die parteiinternen Vorwahlen hoffen.
In früheren Jahren waren die Vorwahlen der Demokraten im 15. Wahlbezirk von New York eine bloße Formalie, denn seit 40 Jahren wählen sie wieder und wieder Charles B. Rangel zu ihrem Kandidaten. Und weil Republikaner hier keine Schnitte machen, entscheidet faktisch schon die Vorwahl über den Einzug ins Repräsentantenhaus in Washington. Rangel ist dort der Abgeordnete mit der drittlängsten Amtszeit, viele Menschen im Wahlkreis haben nie einen anderen Volksvertreter erlebt. Doch nun hat die Konkurrenz Blut geleckt, und die Herausforderer haben allesamt Potenzial: Da ist der aus der Dominikanischen Republik stammende Adriano Espaillat, ein Vertreter der Hispanics, die inzwischen die Mehrheit der Bevölkerung im Wahlbezirk stellen; Espaillat sitzt im Senat des Staates New York. Clyde Williams tritt an, der früher im Weißen Haus für Bill Clinton gearbeitet hat. Und auch Craig Schley ist unter den Kandidaten, ein ehemaliger Elektriker und Feuerwehrmann.

Underdog vs. Clinton-Buddy

Schley ist wie Williams und Rangel Afroamerikaner, doch unterscheidet er sich von seinen Konkurrenten: Er ist kein Vertreter des Polit-Establishments, und deswegen sehen Beobachter ihn als Außenseiter. Die „New York Times“ befasst sich wenig mit Schley, doch die lokalen Nachrichtenportale in Harlem und der Bronx berichten gerne. Und Amerika wäre nicht Amerika, hätte nicht auch der Außenseiter eine Chance. Gerade in den Zeiten von Occupy und Tea-Party, in Zeiten des Protests gegen das Establishment, können Außenseiter-Chancen größer sein, als der Begriff es eigentlich vorsieht.
Im Versammlungsraum herrscht ein Kommen und Gehen, die Vorsitzende des Clubs ist mangels Mikrofon kaum zu verstehen. Die Kandidaten bemühen sich, sämtliche Hände zu schütteln und jeden hier mit einem „Hi, wie geht‘s?“ zu bedenken. Als die Vorsitzende aber den ersten Bewerber nach vorne ruft, wird es still: Er ist tatsächlich gekommen, der inzwischen 81-Jährige „Charlie“ Rangel aus Harlem, Koreakriegs-Veteran und alter Buddy von Ex-Präsident Bill Clinton. Er zeigt sich nicht mehr oft bei solchen Gelegenheiten. All die Jahre war Rangel unangefochten, doch hat er inzwischen gesundheitliche Probleme und geht am Stock. Was ihm aber am meisten zu schaffen macht: Er musste in der laufenden Legislaturperiode den Vorsitz des wichtigen Haushaltsausschusses im Repräsentantenhaus abgeben, weil er sich Verstöße gegen den Ethik-Kodex geleistet hatte: Rangel flog auf Kosten von Unternehmern in die Dominikanische Republik, und seine Wahlkampfzentrale brachte er in einem staatlich geförderten Wohngebäude unter.
Der Verlust des wichtigen Amts ist nicht das einzige Anzeichen für ein Bröckeln der Macht des alten Strippenziehers: Zum ersten Mal seit langem gibt Ex-Präsident Clinton in diesem Jahr keine Wahlempfehlung für ihn ab. Noch 2010 hat Clinton eine Audio-Botschaft aufgenommen, die Rangel bei seinen „Robocalls“ abspielen ließ, den automatisierten Anrufen im Wahlkampf. Offiziell begründet Clinton seine Enthaltung damit, dass er zu mehreren Kandidaten persönliche Beziehungen habe. Und so triumphierte Clyde Williams, als sein ehemaliger Chef dies erklärte, er schrieb gleich in großen Lettern auf seine Webseite: „Sorry Charlie, Bubba wird keine Empfehlung für Dich abgeben.“ Was Williams vielleicht übersah: Für ihn gab es von Clinton, Spitzname Bubba, ebenfalls kein „Endorsement“.

Punchline Mondlandung

Charlie Rangel hält es in seiner kurzen Rede recht allgemein, man müsse im Kongress den Präsidenten unterstützen. Dann die Frage aus dem Publikum: Warum er wieder kandidieren wolle? „Ich glaube, dass dieses Land in großen Schwierigkeiten steckt“, sagt Rangel, „und in einer solchen Situation kann ich meine Erfahrung einbringen.“ Was er für die örtliche Gemeinschaft tun könne? Rangel, der Netzwerker, antwortet: „Wenn Sie ein Problem haben, kann ich mich mit sämtlichen Amtsträgern im Bezirk kurzschließen, um dieses Problem zu lösen.“
Die Amerikaner lieben Sport, sie lieben Wettkampf, und so sind Kampagnen hier ganz auf Personen zugeschnitten, die ihre Kräfte messen. Wer kann besser reden, wer hat die besten Ideen? Wer berührt die Menschen emotional? Auch Adriano Espaillat spricht, er betont, er sei der Kandidat, den die hispanische Mehrheit im Bezirk wählen würde. An ihn richten die Leute so manche Frage. Es redet ferner eine eher dröge Kandidatin, von der kaum jemand etwas wissen möchte, Clinton-Mann Williams fehlt – und dann ist Craig Schley an der Reihe. Er ist 48 Jahre alt, sieht aber ziemlich jugendlich aus. „Ich repräsentiere, was diesen Bezirk ausmacht“, sagt er, „ich bin ein Handwerker, der studiert hat“. Und dann landet Schley, der in seiner Freizeit boxt, den ersten Treffer: „Der aktuelle Mandatsinhaber hat sich bei den vorigen Vorwahlen gegen Obama ausgesprochen“, sagt er und erinnert so daran, dass Rangel sich 2008 für Hillary Clinton stark gemacht hat, die damals Bundes-Senatorin für den Staat New York war. Rangel, der Mann des Establishments. Schley traut sich nun aus der Deckung: „Bei allem Respekt, Charles Rangel ist nun Abgeordneter seit den Zeiten, in denen Menschen auf dem Mond spaziert sind.“ Gelächter im Saal, und auch Espaillat kriegt sein Fett weg: „Er redet immer von der hispanischen Mehrheit im Bezirk, ich frage mich aber, warum wir Menschen nicht einfach als Menschen sehen!“ Nun gibt es zum ersten Mal Szenenapplaus, ein Zuhörer sagt vernehmlich zu seiner Frau: „Der Typ ist gut!“ Und dann schlägt Schley den Bogen zum Präsidenten: „Sie haben Obama eine Chance gegeben. Geben Sie auch mir eine Chance.“ Beifall.
Der Verein kehrt zur Tagesordnung zurück. Es folgt die Aussprache, in deren Verlauf nach und nach Mitglieder des Benjamin-Franklin-Clubs nach vorne treten und sich erklären: „Ich bin für Espaillat“. Auch der Bezirksverordnete im New Yorker Stadtrat, ein Mann von gravitätischem Auftreten, äußert sich: „Benjamin Franklin, der sich sehr um den Erhalt der Demokratie sorgte, hätte gelächelt, wenn er diese lebendige Diskussion verfolgt hätte. Ich beobachte Adriano Espaillat schon seit langem. Er ist ein guter Kandidat.“ Und so gibt der Club schließlich eine Empfehlung für den Mann ab, der der erste Kongressabgeordnete dominikanischer Herkunft werden will. Bei den ethnischen Mehrheitsverhältnissen im Bezirk wäre Espaillat jedenfalls eine sichere Bank, um das Mandat gegen die Republikaner zu verteidigen. Und Sicherheit zählt viel in diesen Tagen einer unsicheren politischen und wirtschaftlichen Lage. Craig Schley gratuliert Espaillat, der gezwungen lächelt; Rangel gratuliert nicht, er ist längst verschwunden. Als die Gesellschaft den Club verlässt, gießt es in Strömen. Schley zieht mit zwei Wahlhelfern von dannen – enttäuscht, aber nicht überrascht. Vom Regen durchnässt fährt er mit der U-Bahn nachhause.

Elektriker mit Anwaltslizenz

Am nächsten Morgen macht der Kandidat wieder seine Tour durch den Wahlbezirk. In seinem Kampagnenbüro in Harlem, einem leerstehenden Restaurant, trifft er seinen Mitarbeiter Adolphus Washington, den er seinen „politischen Strategen“ nennt, und einen Praktikanten. Das Lokal ist eine Wahlkampfspende des Vermieters. Schley betreibt jetzt seit Monaten seine Kampagne, von morgens früh bis abends spät.
Durchhalten und kämpfen hat er gelernt: Er war 33 Jahre alt und Rettungstaucher bei der Feuerwehr, als er noch einmal durchstartete, um Jura zu studieren. Das Studium finanzierte Schley durch einen Job als Model und durch Elektrikerarbeiten. Er war 39, als er abschloss, danach arbeitete er für Anwälte und gründete eine Nichtregierungsorganisation für die örtliche Gemeinschaft in Harlem; er wurde ein „Community-Organizer“, was auch Barack Obama früher gewesen ist. Und der Kontakt zur örtlichen Gemeinschaft kommt ihm zugute, wenn er bei den Vorwahlen antritt, nun bereits zum dritten Mal. Bei den beiden Vorwahlen zuvor siegte Rangel und zog anschließend auf dem demokratischen Ticket in den Kongress ein, doch beide Male trat Schley als unabhängiger Kandidat auch zur eigentlichen Kongresswahl an. Er konnte sich von 2 auf 7 Prozent der Stimmen steigern – was dürftig wirkt, für einen unabhängigen Kandidaten aber ein Achtungserfolg ist.
Die drei Wahlkämpfer packen Taschen voll mit Plakaten, Ansteckern und Flugblättern, dann geht es los. Washington geht meist voran und drückt Passanten Flyer in die Hand – das Erstaunen ist dann umso größer, wenn plötzlich der Mann auf dem Flyer vor ihnen steht. Sie machen Halt in Geschäften, fragen, ob sie ein Plakat ins Schaufenster hängen dürfen, Schley stellt sich den Leuten vor. Ein Schwätzchen machen sie hier alle gern – doch nicht jeder erlaubt das mit dem Plakat. „Da muss ich erst mal meinen Chef fragen“, sagt der Mitarbeiter im Musikinstrumente-Laden. „Wo ist denn Ihr Chef, kommt der heute noch rein?“, fragt Schley. „Der ist in der Hauptfiliale in Brooklyn, ich weiß nicht, wann er kommt.“ Für den Kandidaten eine Vorlage: „Schauen Sie, genau das ist das Problem: Wir lassen jemanden in Brooklyn entscheiden, was hier in Harlem passiert.“ „Lassen Sie das Plakat doch mal hier, und dann schauen wir später“, versucht der Verkäufer es gütlich, doch halbe Sachen macht Schley nicht mit: „Nein, so geht das nicht. Die Plakate sind wichtig, ich kann die nicht auf gut Glück verteilen. Und ich will Sie ja überzeugen.“
Die örtliche Gemeinschaft und Geschäftsleute stärken, das ist das Credo, mit dem der Kandidat die Ladeninhaber für sich gewinnen will. Denn die „Gentrifizierung“, der Zuzug wohlhabender Menschen nach Harlem, und der Aufkauf von Immobilien durch Investoren von außerhalb verändern den Charakter des Viertels. Ärmere Einwohner, die sich die Miete nicht mehr leisten können, werden verdrängt, und kleine Geschäftsleute haben Mühe, sich zu halten.
Kleine Misserfolge und Erfolge wechseln sich an diesem Campaigning-Tag ab, hier im Herzen von Harlem, das eigentlich Rangel-Gebiet ist. Der Mandatsinhaber hat hier ebenfalls sein Büro und noch immer viele Unterstützer. „Wenn wir ein Plakat mal außen an einem Geschäft aufhängen, sagt Washington, reißen Rangels Leute das gleich wieder ab“. Überhaupt kämpft der so leutselige alte Herr mit harten Bandagen. So ging er juristisch gegen Schley vor und trug vor, die von diesem gesammelten Unterschriften seien zum Teil ungültig. 900 Unterschriften muss ein Kandidat sammeln, um zur Vorwahl zugelassen zu werden, Schley holte über 1200. Er wehrte Rangels Klage ab, die auf der Behauptung basierte, bei vielen Unterzeichnern würden die Adressen fehlen.
Es geht weiter, der Kandidat nimmt sich die Zeit, auch Einzelne länger zu bearbeiten. Ein junger Mann auf der Straße fragt ihn, was er denn hier mache, und Schley erklärt es ihm. Der Mann ist Erstwähler, und so nutzt Schley die Chance, ihm auch gleich erklären, wie er sich für die Vorwahlen registrieren kann. „Thank you, brother“, sagt der Wahlkämpfer um Abschied. Bruder, Schwester: Das ist eine häufige Anrede hier. Die Afroamerikaner halten zusammen, und so kann Schley durchaus auf die Stimmen farbiger Wähler hoffen. Doch stellen diese eben nicht mehr die Mehrheit – gute Aussichten also für den Hispanic Adriano Espaillat, den viele deswegen als gefährlichsten Gegner Rangels bei den Vorwahlen am 26. Juni sehen (diese p&k-Ausgabe ging kurz vor dem 26. in Druck, Anm. d. Red.).
Nach einer Rede in einem Altersheim und nach vielen Umarmungen der Bewohner – der Mann mit dem jungenhaften Charme kommt an bei den Alten – ist es Zeit für eine Pause. „Ich weiß, wo es hier wirklich guten Backfisch gibt“, sagt Schley und führt seine kleine Truppe zu einem Imbiss in einem Souterrain, wo sich die Leute vor der Theke drängeln. Zwischendurch holt er anderswo noch Getränke – er weiß, dass er seine Helfer bei Laune halten muss. „Das machen wir jetzt seit Monaten jeden Tag“, sagt Adolphus Washington denn auch und grinst ein bisschen gequält.

Backfisch-Analysen

Den Backfisch essen sie in einem Park – Zeit, ein wenig zu reden. Warum tut Schley sich das an, sich in die Welt der Politik zu begeben, und sich öffentlich so zu exponieren? Schließlich muss er damit leben, dass seine Ex-Freundin und Mutter seiner Tochter böse Kommentare in einem Blog über ihn verfasst. „Das kümmert mich nicht, nein, das ist mir völlig egal“, erwidert er heftig. „Ich sage Ihnen, warum ich das alles mache: Einer meiner Urgroßväter war in North-Carolina der erste schwarze Abgeordnete nach Abschaffung der Sklaverei. Damals war die Restauration schon in vollem Gange, und viele Weiße wollten nicht von Schwarzen vertreten werden. Die meisten Schwarzen haben sich daher gar nicht getraut, sich einzubringen. Und dieselbe Stimmung haben wir hier heute wieder.“ Darum hätte er sich auch ein Bekenntnis Obamas zur schwarzen Community gewünscht. Ein solches hat der Präsident allerdings immer vermieden, um möglichst keine Wählergruppe zu irritieren.
Der Obama-Vergleich ist jedenfalls immer irgendwann fällig, wenn Schley ihn nicht schon selbst anbringt, wie in seiner Rede im Franklin-Club. Als Schley im Jahr von Obamas Wahl zum ersten Mal antrat, spottete manch einer, er wolle wohl auf der Welle der „Change“-Euphorie mitschwimmen. Das hat nicht funktioniert – wenn es denn gewollt war, und Schley beweist den Spöttern vier Jahre später seine Zähigkeit und Ausdauer. Als nach der Diskussion im Franklin-Club ein älterer Herr erklären soll, wie er denn Craig Schley fand, da sagt er: „Das ist ein gut ausgebildeter Mann, der reden kann; aber ich kenne ihn nicht genug.“ Der Mann, der so alt ist wie Charles Rangel, wiegt den Kopf hin und her, und fügt dann noch hinzu: „Aber Obama habe ich ja auch nicht gekannt.“

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Follow me – Das Lobbying der Sozialen Netzwerke. Das Heft können Sie hier bestellen.