„Dieses Europa ist eine Lachnummer“

An dem Monument für seinen Freund und Weggefährten Willy Brandt in der SPD-Zentrale in Berlin-Kreuzberg kommt Egon Bahr fast jeden Tag vorbei. Denn trotz seiner 90 Jahre ist er mehrmals in der Woche im Willy-Brandt-Haus, wo er im vierten Stock ein Büro hat. Dem Besucher schlägt beim Eintreten Zigarettengeruch entgegen. Bahr ist sich treu geblieben: meinungsfreudig mit klarer Überzeugung. Noch immer fährt er selbst Auto. Und im vergangenen Jahr heiratete er seine langjährige Lebensgefährtin Adelheid Bonnemann-Böhner (77).

p&k: Herr Bahr, Sie arbeiten gerade an einem neuen Buch, in dem Sie ihre Erinnerungen an Willy Brandt aufschreiben. Wann sind Sie Brandt zum ersten Mal begegnet?
Egon Bahr: An die erste persönliche Begegnung kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß aber, dass er mir erstmals aufgefallen ist, als er dabei war, an die Spitze des Berliner Landesverbandes der SPD zu kommen. Ich selbst war damals Korrespondent des „Tagesspiegels“ in Bonn und hatte gerade den Entschluss gefasst, der SPD beizutreten. Ich bin also zu Kurt Schumacher gegangen, dem damaligen SPD-Vorsitzenden. Er sagte mir allerdings, dass es ihm lieber wäre, wenn ich nicht der Partei zugerechnet werde. Denn von außen könnte ich mehr für sie bewirken. Später habe ich dann Brandt gefragt und der hat dasselbe gesagt. Da war ich zum zweiten Mal abgewiesen worden. (lacht) Heute würde das nicht mehr passieren. 1956 habe ich mich endlich durchgesetzt und bin Mitglied meiner glorreichen Partei geworden.
Willy Brandt gilt bis heute als politische Lichtgestalt. Andere Ausnahmetalente wie Barack Obama haben ihren Glanz bereits ein Stück weit verloren. Hat Brandts früher Rücktritt als Bundeskanzler 1974 ihn vor der Entzauberung bewahrt?
Das ist eine Frage, die gar nicht so einfach zu beantworten ist. Ich glaube, Brandts ungebrochene Popularität hat zwei Gründe. Brandt war ein Politiker, der sich nicht gescheut hat, die Öffentlichkeit erkennen zu lassen, dass er auch Schwächen hat. Und genau das wurde seine Stärke –das ist das eine. Das andere ist Brandts historische Leistung, die Deutschland und Europa verändert hat. Es ist ja nicht zu bestreiten, dass vom Moskauer Vertrag über das Viermächteabkommen für Berlin bis hin zum Grundlagenvertrag die Entwicklungen eingeleitet worden sind, die später fast automatisch zur deutschen Einheit geführt haben.
Von Obama hingegen, auf den ähnlich wie damals auf Brandt große Hoffnungen gesetzt wurden, sind viele enttäuscht. Sie auch?
Ich habe Obama immer geschätzt und bewundert und tue das bis heute. Und zwar deshalb, weil er außenpolitisch große Veränderungen bewirkt hat. Die US-Politik gegenüber Moskau war seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf Konfrontation aus, und Obama hat sie auf Kooperation eingestellt. Er hat viele Kompromisse machen müssen. In seiner zweiten Amtszeit muss er sich nicht mehr um seine Wiederwahl sorgen. Daher erwarte ich noch viel von ihm.
Brandt und Obama verbindet auch, dass sie beide den Friedensnobelpreis erhalten haben, Obama allerdings gleich im ersten Jahr seiner Präsidentschaft. War das nicht verfrüht?
Der Friedensnobelpreis für Obama war ein Ausdruck der Hoffnung, die auf ihn gesetzt wurde. Der für Brandt spiegelte den tiefen Eindruck wider, den sein Kniefall in Warschau hinterlassen hatte. Er vermittelte unseren Nachbarn das Gefühl: Deutschland muss man nicht fürchten, wenn sein Regierungschef, der persönlich keine Schuld hat, die Schuld seines Volkes bekennt. Das ist der Unterschied.
Am Tag von Brandts Rücktritt 1974 konnten Sie Ihre Tränen nicht verbergen. Gehören Emotionen in die Politik oder war Ihnen Ihr öffentlicher Gefühlsausbruch im Nachhinein peinlich?
Ich habe nicht wegen des Rücktritts geweint, das ist ein Irrtum. Geweint habe ich, als der damalige Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner…
der zu Brandts Rücktritt maßgeblich beigetragen hatte…
in der Fraktion schrie: „Wir alle lieben dich.“ Das Wort „Liebe“ aus diesem Mund fand ich so abgründig, dass ich meine Tränen nicht zurückhalten konnte. Wenn es in der Politik keine Emotionen mehr gibt, dann können wir die Politik an die Computer delegieren – das würde sie aber auch nicht besser machen.
Ihr Lebensthema ist die deutsche Einheit. Haben Sie das Gefühl, dass mit einer ostdeutschen Kanzlerin und einem ostdeutschen Bundespräsidenten die innere Einheit vollendet wurde?
Ich freue mich, dass zwei Menschen aus den neuen Bundesländern an die Spitze Deutschlands gekommen sind, aber ich kann nicht feststellen, dass sich irgendetwas geändert hat. Die innere Einheit ist nach wie vor nicht erreicht worden.
Was müsste Ihrer Meinung nach getan werden?
Ich bin der Auffassung, dass wir Termine brauchen, an dem die rechtlichen Ungleichheiten zwischen Ost und West beseitigt sein müssen. Die Gleichheit der Lebenschancen steht in unserer Verfassung; wie lange wollen wir noch warten, bis dieser Grundsatz verwirklicht ist?
Nach der zumindest formell vollzogenen Einheit Deutschlands ist die nächste große Baustelle die Einigung Europas. Wie würden Sie als Diplomat an die Sache herangehen?
(lacht): Haben Sie nicht eine einfachere Frage? Zunächst einmal konstatiere ich, dass Berlin in den letzten 20 Jahren noch nie so unpopulär in Europa gewesen ist wie jetzt. Der ehemalige Außenminister Henry Kissinger hat sich vor Jahrzehnten mal darüber beschwert, dass er keine Telefonnummer für Europa habe – nicht, dass er sie vermisst hätte. Jetzt hat er mindestens drei bis vier. Und ich wette mit Ihnen: Wenn Henry wirklich wissen will, was in Europa passiert, ruft er seine alten bilateralen Bekannten an. Gemessen also an den Erwartungen, Versprechungen und Beschlüssen der letzten 30 Jahre ist dieses Europa eine Lachnummer.
Wann, glauben Sie, wird Europa mit einer Stimme sprechen?
Dazu möchte ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen: Im Februar 1970 stellte mir der damalige sowjetische Außenminister Andrej Gromyko genau diese Frage. Darauf habe ich ihm geantwortet: Wiedervorlage in 20 Jahren, also 1990. Seitdem sind 42 Jahre vergangen, und wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass keiner von uns in der Lage ist, einen konkreten Termin vorauszusagen. Als Optimist sage ich: zehn Jahre.
Ihren Glauben an Europa haben Sie also trotz allem nicht verloren?
 Nein. Unter zwei Voraussetzungen: Wir müssen den Mut haben zu thematisieren, dass nur das Euroland der heute 17 in der Welt handlungsfähig werden kann. Also wohl ohne Großbritannien. Seit 1949 verfolge ich genau, dass alle britischen Regierungen sich gleichermaßen weigern, das eigene Schicksal unwiderruflich an den Kontinent zu binden. Sie haben immer darauf bestanden, ihre besonderen Beziehungen zu den USA zu behalten. Zweitens: Wir brauchen eine europäische Führungspersönlichkeit. Nur: Die sehe ich im Moment nicht. Frau Merkel ist es jedenfalls nicht.
Halten Sie Peer Steinbrück im Falle seiner Wahl zum Bundeskanzler für besser geeignet?
Das ist nett, dass Sie ihm die Kanzlerschaft zutrauen. Wir wollen mal sehen, was daraus wird. Es gibt ja keine Ausbildung zum Kanzler. Jeder, der es ins Kanzleramt schafft, muss erst beweisen, dass er es kann. Bei Helmut Kohl war es doch, als er aus Mainz nach Bonn kam, alles andere als sicher, dass er mal ein richtiger Kanzler wird. Und bei Brandt genauso.
Ist Deutschland eine Führungsrolle in der EU denn überhaupt zuzutrauen?
Also, ich kann nur sagen, ich hätte ein bisschen Sorge nach dem Ruf, den wir uns in den letzten zwei Jahren erworben haben. Ich kann nur mit einem Wort von Brandt antworten: Wir können das, wenn wir keine Überheblichkeit zeigen und wissen, dass wir auf Kooperation genauso angewiesen sind wie jeder andere.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Wann bringen Sie Angela Merkel das Twittern bei, Herr Altmaier? – Fragen an den Politiker des Jahres. Das Heft können Sie hier bestellen.