Die pragmatische Linke

Den Weg zum Rednerpult kennt sie schon. Trotzdem ist Agnieszka Malczak, wie Brugger bis zu ihrer Heirat im Dezember 2011 hieß, etwas nervös, als sie von Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Die Linke) am 3. Dezember 2009 im Plenum aufgerufen wird. Brugger – an diesem Tag mit schwarzem Blazer und lilafarbenen Etuikleid ungewöhnlich „gewöhnlich“ angezogen – spricht über ihr Lieblingsthema: die nukleare Abrüstung und den Abzug aller Atomwaffen aus Deutschland, damit ihre Vision des „Global Zero“ irgendwann Wirklichkeit wird.
Nach viereinhalb Minuten ist alles vorbei, auch die Nervosität. Petra Pau gratuliert der Debütantin, die es als eine der wenigen geschafft habe, die Redezeit einzuhalten. Streng genommen stand Brugger schon einmal vor dem Plenum. Beim Planspiel „Jugend und Parlament“, das der Bundestag veranstaltet, um jungen Menschen die große Politik näherzubringen, spielte sie 2004 die Vorsitzende eines fiktiven Verteidigungsausschusses und setzte sich in ihrer Rede vehement für die Beibehaltung der Wehrpflicht ein.

Farbenfroh im Bundestag

Dass aus dem Planspiel nur wenige Jahre später Realität wurde, kann die Grünen-Politikerin, die 2009 für Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg für den Bundestag kandidierte, heute noch immer nicht so recht glauben. Mit Listenplatz 11 habe sie ohnehin nur Außenseitenchancen auf einen Sitz im Parlament, dachte sie und ging am Wahlabend früh ins Bett. Es war ihr Freund, der sie mit dem Laptop in der Hand weckte und das überraschende Ergebnis präsentierte.
Brugger sitzt an an ihrem Schreibtisch und lächelt in die Kamera. Sie hat gelernt, wie man sich gegenüber Journalisten verhält: Als jüngste Frau im Bundestag zog sie von Anfang an viel mediale Aufmerksamkeit auf sich. „Anfangs hatte ich manchmal das Gefühl, ich sei mehr Model als Politikerin geworden“, sagt sie. Ihr Schreibtisch ist aufgeräumt, keine Bilder, keine dicken Arbeitsmappen, wie sie andere Abgeordnete gern stapeln. Brugger ist ein Ordnungsmensch und versucht so schnell wie möglich alles abzuarbeiten.
An diesem Tag ist sie flippiger angezogen als bei ihrer ersten Rede im Plenum: blaues Kleid, dazu lila Pumps und Ohrringe in Form von Puzzleteilen, links ein gelber, rechts ein blauer. Ihr unkonventionelles Aussehen war es auch, das ihr 2009 den Titel „schrägste Politikerin Deutschlands“ einbrachte. Die Kölner Boulevardzeitung „Express“ hatte ihr diesen verliehen. Noch immer trägt Brugger neben farbenfrohen Klamotten ihr Unterlippen- und Nasenpiercing zur Schau. „Warum sollte ich mich verändern, nur weil ich im Bundestag sitze?“, sagte sie einmal in einem Interview.

Unter lauter älteren Herren

Heute ist Brugger zunehmend bemüht, auch in den Medien als Fachpolitikerin wahrgenommen zu werden. Sie sitzt im Verteidigungsausschuss, ungewöhnlich für eine junge Frau, tummeln sich dort doch meist ältere Herren in Anzügen. Dass sie es als Parlamentsneuling  geschafft hat, sich gleich einen Platz in diesem in ihrer Fraktion begehrten Ausschuss zu sichern, spricht für ihr Selbstbewusstsein und ihr Durchsetzungsvermögen.  
„Anfangs wurden alle neuen Abgeordneten im Ausschuss kritisch beäugt“, erinnert sich Brugger. Inzwischen hat sie sich eingefuchst und Respekt erarbeitet – auch bei Angehörigen anderer Fraktionen. Der parlamentarische Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium Thomas Kossendey (CDU) kennt sie aus dem Ausschuss als „gut vorbereitete Abgeordnete, die auf konstruktive Art an die Probleme herangeht“.
Gut vernetzt ist sie allemal. Die 27-Jährige ist Mitglied der Oslo-Runde, das ist ein Kreis junger Abgeordneter von SPD, Grünen und Linken. „Eine Art Pizza-Connection mal anders“, sagt Brugger in Anspielung auf die Runde junger Grüner und Christdemokraten, die sich Mitte der 90er-Jahre beim Italiener trafen und damit einen Tabubruch begingen.
Die Oslo-Runde spricht sich unter anderem für ein Bündnis von SPD, Grünen und Linken aus, für eine linke Mehrheit, die es bei der Bundestagswahl 2009 rechnerisch schon gegeben hätte. Das nächste Mal treffen sich die Jung-Abgeordneten im Taz-Café in Berlin-Kreuzberg zu einer Diskussion, Thema wird die soziale Gerechtigkeit sein.
Brugger gehört zur Generation der Digital Natives, die munter twittern („Ich liebe Herbst. Ich würde jetzt gern Pilze sammeln & Kastanientiere bauen…“) und mit iPad im Plenum eine Rede halten. Die Jungen versprechen eine andere Art von Politik: jünger, frischer, mutiger. Doch wie viel bleibt davon am Ende übrig?

Mit iPad im Plenum

Kritiker bemängeln, dass der Politiknachwuchs von heute zu beliebig, zu unerfahren und frei von politischen Überzeugungen sei. Alles Quatsch, meint sie. Die Jugend von heute sei keineswegs unpolitischer. Als Landesvorsitzende der Grünen Jugend Baden-Württemberg kam sie einmal auf die Idee, zusammen mit anderen Mitgliedern Aktien des Energiekonzerns EnBW zu erwerben. Der Clou: Mit dem Aktienkauf bekamen die Grünen ein Rede- und Stimmrecht auf der Mitgliederversammlung. Die Aktion sorgte für reichlich Medientrubel. Und heute ist EnBW wieder in Landeshand.
Die Geschichte von Agnes Brugger ist auch die Geschichte einer jungen Migrantin, die im Alter von vier Jahren mit ihren Eltern aus Polen nach Dortmund kam. Ein Teil ihrer Heimat ist ihr katholischer Glaube, den Brugger bis heute praktiziert. Sie ist eine von nur 20 Abgeordneten im Bundestag, die einen Migrationshintergrund haben. In ihrer politischen Arbeit spielt das Thema heute keine große Rolle. Sie fühlt sich als Europäerin und drückt bei Fußballländerspielen zwischen Deutschland und Polen immer beiden Mannschaften die Daumen.
Aber ihre Herkunft habe sie für Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft sensibilisiert, sagt sie. Wohl auch deshalb entscheidet sich Brugger mit 19 Jahren, den Grünen beizutreten. Dort steigt sie schnell auf. 2007 wird sie Landesvorsitzende der Grünen Jugend Baden-Württemberg, ein Jahr zuvor begleitet sie als Trainee den damaligen Landtagsabgeordneten in Baden-Württemberg Boris Palmer, einen Realo, wie die Grünen ihren rechten Flügel nennen.

Das Ein-Tages-Tattoo ist passé

Palmer, heute Oberbürgermeister von Tübingen, kann sich gut an das erste Gespräch erinnern, das er mit der Politik- und Philosophiestudentin in der Mensa der Tübinger Uni führte. „Wir haben zwar nicht immer die gleiche Meinung, aber mir imponiert ihre selbstbewusste unverblümte Art.“ Palmer macht keinen Hehl daraus, dass er mit Bruggers Äußerem seine Probleme hat. „Piercings sind in Ravensburg und Aulendorf eher kein Wahlargument“, davon ist er überzeugt. Aber die junge Kollegin habe bereits dazugelernt, das Ein-Tages-Tattoo sei schon passé. Und geheiratet habe sie auch. „Damit ist sie ja fast schon konservativer als ich“, witzelt er.
Brugger selbst bezeichnet sich als eher linke Politikerin. Zugleich sei sie aber durchaus pragmatisch. „Das ist für mich kein Widerspruch“, sagt sie. Visionen seien wichtig, aber genau wichtig sei es, auch Kompromisse einzugehen, argumentiert sie. Klingt so eine Idealistin, die hofft, mit ihrer Politik die Welt ein kleines bisschen besser zu machen?
Als Karrieretyp sieht sich Brugger aber nicht. „Das habe ich nie geplant, vielmehr haben sich immer neue Herausforderungen und Möglichkeiten ergeben. Da, wo ich bin, versuche ich immer mit viel Leidenschaft und Energie, mich für meine politischen Ideen einzusetzen und die Aufgaben so gut zu erfüllen, wie ich nur kann“,  lautet ihr Credo.
Als sie nach einer 70-Stunden-Woche in Berlin wieder einmal nach Tübingen kam und das alternative selbstverwaltete Wohnheim besuchte, in dem sie früher gewohnt hat, sprachen sie viele Freunde mit „Frau Abgeordnete“ an. Das gefiel ihr gar nicht. Wenn sie spüre, dass sich alles toll anfühle, wolle sie nicht mehr im Bundestag sitzen, sagt sie. Zufriedenheit ist Gift, davon ist Brugger überzeugt.
Noch hat sie dieses Gefühl nicht beschlichen. 2013 will sie wieder für den Bundestag kandidieren und hofft auf einen vorderen Listenplatz beim Parteitag der Grünen Baden-Württemberg, der vom 30. November bis zum 2. Dezember stattfindet. Die Chancen dafür stehen gut. Und wie entspannt sie am besten? „Mit Yoga und guten Büchern und ab und zu einem Glas guten Wein.“

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Wer wird wichtig? – Rising Stars 2012. Das Heft können Sie hier bestellen.