Die neuen Alleskönner

Dort, wo vor 150 Jahren noch Dampflokomotiven montiert wurden, schaut Axel Wallrabenstein aus dem Fenster auf die neue, alte Hauptstadt. Der Geschäftsführer der Public-Affairs-Agentur MSL Group sitzt im fünften Stock einer Fabrikhalle, ein Überrest der früheren Borsig-Werke. Seit zwölf Jahren arbeitet er in Berlin. Im Zeitraffer habe er miterlebt, wie der Politikbetrieb einen eigenen Stadtteil geschaffen hat. Dort, wo einst der Todesstreifen die Stadt in zwei Hälften teilte, stehen nun wuchtige Gebäude. Ministerien, Stiftungen, Hauptstadtrepräsentanzen, Verbände, NGOs. An die Bonner Behaglichkeit erinnern nur noch die rheinischen Kneipen am Spreeufer. „Die Berliner Republik ist lauter, schneller, chaotischer“, sagt Wallrabenstein. Und die „Berlinisierung“ (Ulrich von Alemann) hat auch die Anforderungen an Neulinge in allen politiknahen Berufen verändert.
In der Public-Affairs-Branche habe sich vor allem die Art gewandelt, wie kommuniziert wird, meint Wallrabenstein. Als professioneller und internationaler charakterisiert er seine Zunft. Politik finde nicht mehr nur in Hinterzimmern statt. „Man trifft sich heute bei Podiumsdiskussionen, Netzwerkpartys, politischen Salons und zunehmend auch im Internet“. All dies bedeute vor allem eins: Berufseinsteiger sollten am besten schon während des Studiums ein Netzwerk an Kontakten aufbauen. „Optimal“ sind in den Augen des Beraters Bewerber, die politisches Engagement, Auslandserfahrung und ein Praktikumszeugnis mit dem Bundesadler im Briefkopf vorweisen können. „Wir brauchen Leute, die am eigenen Leib miterlebt haben, wie Politik funktioniert“, so der 48-Jährige. Entgegen dem Wort-Ursprung hält der studierte Politik- und Sozialwissenschaftler die sogenannten weichen Faktoren sogar für ziemlich schwergewichtig. In dem Job treffe man jeden Tag auf Alpha-Tiere. Da sei Durchsetzungskraft gefragt.
Von einem allzu übersteigerten Ego warnt Hans Bellstedt dem Branchenneuling aber. „Die Kunst liegt darin, sich gegenüber dem Kunden selbst zurückzunehmen.“ Bellstedt ist Inhaber der nach ihm benannten Public-Affairs-Agentur „hbpa“. Auf die Frage, welches Studium sich am besten für eine Berater-Karriere eignet, entgegnet der erfahrene Dozent für Public Affairs: „Es gibt keinen Königsweg.“ Gute Chancen hätten aber Absolventen, die breit aufgestellt sind und ein Verständnis für gesellschaftliche Strukturen haben. Gerade Berater stünden jeden Tag vor der Herausforderung, die Anliegen ihrer Kunden schnell zu erfassen, um darauf abgestimmte Strategien zu entwickeln. Generalisten mit dem „Blick über den Tellerrand hinaus“ hätten es mitunter leichter, sich auf neue Situationen einzustellen.

Qual der Wahl an den Unis

An den deutschen Hochschulen stehen die Politikmanager von morgen seit einigen Jahren vor der Qual der Wahl. Zu jedem Semesterstart sprießen weiterführende Masterstudiengänge in allen Teilen der Republik aus dem Boden: Politische Kommunikation, Public Management, Public Policy, Public Affairs. Anwendungsorientiert und fachübergreifend sollen die neuen Abschlüsse sein. Das gilt insbesondere für den Master of Public Policy, der von den Governance-Schulen angeboten wird. Statt abstrakter politischer Theorien lernen die Studenten dort, wie man Projekte angeht, mit denen sich politische und gesellschaftliche Krisen lösen lassen. Das gehe nur im Zusammenwirken von Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, so die Idee. Der Rechtsprofessor Stephan Breidenbach ist einer der Mitinitiatoren der Humboldt-Viadrina School of Governance, die 2002 als Partnerprojekt der Humboldt-Universität Berlin und der Europa Universität Viadrina Frankfurt (Oder) an den Start ging. Aus seiner Sicht sei das reine Jura-Studium noch immer ein gutes Fundament für jede politische Tätigkeit, aber „wer Veränderungen mit auf den Weg bringen will, braucht Kreativität und die Fähigkeit, Teams leiten zu können“. Die privaten Schools sehen sich selbst als Ort für künftige Führungskräfte im öffentlichen Sektor. Sie bilden einen neuen Typus von Politikgestaltern aus, einen neuen Alleskönner, der weiß, wie man Mitarbeiter führt, die Geschäftsordnung des Bundestages auswendig kennt und fleißig Twitter-Meldungen tippt.
Tim Nover ist einer von ihnen. Der Endzwanziger hat vor knapp vier Jahren den Master an der Hertie School of Governance abgeschlossen. Nun büffelt er abermals, als Anwärter für den höheren Auswärtigen Dienst. 14 Monate lang hat er sich an der Akademie in Tegel auf die Diplomaten-Laufbahn vorbereitet, mitsamt Rhetorik-, Etiketten- und Verhandlungs-Einmaleins. Über den Master of Public Policy sagt er: „Man lernt, Dinge auf den Punkt zu bringen“. Besonders profitiert habe er davon, dass er an der Privatschule beigebracht bekam, Vermerke für politische Entscheider zu verfassen. „Der Abschluss bringt einen Praxisvorsprung.“ Nach dem Studium arbeitete Nover zunächst zwei Jahre lang in der Europaabteilung des Auswärtigen Amtes. In der Euro-Krise nutzte dem Nachwuchs-Diplomaten zudem sein volkswirtschaftliches Wissen, um das ganze Ausmaß der Schuldenmisere zu reflektieren. Für den zurückhaltenden Blondschopf hat sich das kostspielige Aufbaustudium ausgezahlt. Im Sommer geht er als Pressereferent an die deutsche Botschaft nach Buenos Aires.

Juristen bleiben gefragt

Trotz durchaus positiver Erfahrungsberichte von Absolventen haben sich die fächerübergreifenden Studiengänge in der Praxis noch nicht ganz etabliert. Viele Ministerien setzen nach wie vor auf klassische Fachdisziplinen. Im Bundesinnenministerium (BMI), einem riesigen halbrunden Glaskoloss im Stadtteil Moabit, arbeiten 600 Angestellte im höheren Dienst, rund zwei Drittel davon sind Juristen. „Das ist bei uns eine lang gewachsene Tradition“, sagt Paul Johannes Fietz, Leiter der Stabsabteilung und damit Personalleiter der Behörde. Für die Aufgabe, das umzusetzen, was das Parlament vorgibt, brächten Juristen einfach sehr gute Voraussetzungen mit. Außerdem seien sie in allen Abteilungen einsetzbar. Die These, dass den Beamten mehr Managementfähigkeiten ganz gut zu Gesicht stünden, sieht Fietz differenziert. „Beamte in Bundesministerien müssen heute ohnehin Managementqualitäten mitbringen. Andererseits sollte man nach wie vor mit Substanz glänzen, weniger mit Performance.“
Doch das Ministerium bekommt den demografischen Knick zu spüren. Die Zahl der Bewerbungen auf ausgeschriebene Stellen sinkt. Wegen dieses Knicks ist in anderen Ministerien die Zahl der Nicht-Juristen bereits leicht gestiegen.
Auch in den Verbänden sind Rechtsexperten gefragt. Mit der Abkürzung MBA in der E-Mail-Signatur gehört André Müller noch zu den Exoten in der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). MBA steht für Master of Business Administration. Der 35-Jährige gehört zum ersten Jahrgang, der an der Quadriga Hochschule den Master „Public Affairs & Leadership“ abgeschlossen hat. Die Trägergesellschaft dieser privaten Hochschule ist ein Schwesterunternehmen des Verlags Helios Media, in dem auch p&k erscheint. Müller, dunkler Anzug, runde Brille mit rötlicher Fassung, sitzt im Haus der Wirtschaft in einem geräumigen Büro mit Spreeblick. Er ist beim BDA für die Lohn- und Tarifpolitik zuständig. Zeitarbeit, Mindestlohn, seine Themen sind politisch gerade heiß umkämpft. Der Master, so Müller, habe ihm geholfen, sich in die Rollen der Mitspieler im Entscheidungsprozess besser hineinzuversetzen. Denn zum einen treffen in solch einem Studium unterschiedlichste Biografien aufeinander, angefangen vom Mitarbeiter eines Bundestagsabgeordneten bis hin zum Vertreter einer Unternehmensrepräsentanz. Zum anderen sorgen Referenten aus der Praxis für den Seitensprung-Effekt. Müller hält daher ein Aufbaustudium durchaus für sinnvoll. „Ich bin heute in der Lage, mein berufliches Handeln theoretisch zu hinterfragen.“ Der Jurist sagt aber auch: Das akademische Fundament sollte ein grundständiges Studium sein.
Es scheint fast so, als hätten Generalisten in nahezu allen politiknahen Berufen  einen Wettbewerbsvorteil. „Das stimmt nicht ganz“, sagt Dorothea Staiger, organisatorische Geschäftsführerin von Bündnis 90/Die Grünen. Die Parteien sind wie die politischen Stiftungen darum bemüht, die Ausschussstruktur im Deutschen Bundestag auch bei sich im Haus nachzubilden. Gerade Experten auf einem bestimmten Politikfeld hätten bei einer Referentenausschreibung für genau „ihren“ Bereich „einen gigantischen Vorteil“, so Staiger, die bei den Grünen über Neueinstellungen mitentscheidet.
Ihr Kollege von der CDU hält für die Arbeit bei Parteien noch etwas anderes für entscheidend: „Wir sind ein Tendenzbetrieb“, betont Stefan Hennewig, Personalleiter des Konrad-Adenauer-Hauses. Das bedeute, dass die Bewerber die Werte und politischen Überzeugungen des Arbeitgebers teilen sollten.
Ob in Parteien oder im örtlichen Naturschutzbund, für alle Berufe ist die ehrenamtliche Arbeit eine Art Trainingslager für den harten Politalltag. Hennewig redet deshalb gern vom „individuellen Lebenslauf“, wenn er unterstreichen will, dass die Wahl des Studienfachs eher zweitrangig ist. Entscheidend seien die persönlichen Fähigkeiten, sagt der 38-Jährige, der vor zwölf Jahren als Online-Redakteur  in der CDU-Bundesgeschäftsstelle begann. Den Begriff „soft skills“ findet er zu schwammig. Lieber spricht  der Personalchef von klassischen Tugenden wie Ehrlichkeit und Offenheit, die einen guten Mitarbeiter ausmachen. Könnte der gewiefte Parteinachwuchs dann nicht gleich auf das Studium verzichten? „Nein“ erwidert Hennewig. Schließlich habe man mit einer abgeschlossenen Hochschulausbildung mehr Chancen, auch noch mal woanders zu arbeiten. Die Durchlässigkeit zu anderen Institutionen sei durchaus gegeben. Parteimitarbeiter wechselten schon mal in die Fraktion oder zum Verband. Und im Übrigen seien die akademischen Weihen schon allein für die Eingruppierung in die höchste Gehaltsstufe von Belang.

Schnelllebiger Bundestag

Persönliche Kontakte und praktische Erfahrungen sind zwei wichtige Währungen, die sich auch für einen Job im Büro eines Bundestagsabgeordneten bezahlt machen. „Schließlich haben wir in den MdB-Büros keine Personalabteilung“, sagt Anna Alexandrakis, Büroleiterin des SPD-Politikers Ernst Dieter Rossmann. Die zierliche Frau mit dem langen braunen Haar gehört mit ihren 48 Jahren sprichwörtlich schon zu den alten Hasen im Geschäft, denn von den zirka 4500 MdB-Mitarbeitern sind laut einer aktuellen Erhebung nur knapp 190 länger als seit 20 Jahren dabei. Dass es in den Bundestagsbüros teilweise so schnelllebig zugeht wie in der Zeitarbeitsbranche, ist etwas, mit dem Neulinge anfangs oft Probleme haben. Der Arbeitsplatz ist an die politische Laufbahn des Abgeordneten geknüpft. Und über diese entscheidet alle vier Jahre bekanntlich der Wähler. Unbefristete Verträge gibt es nur in den Fraktionen. Spezialisten seien deshalb eher weniger gefragt. „Man muss flexibel bleiben“, sagt Alexandrakis. Sie selbst sei ein Beispiel dafür, wie kurvenreich eine Karriere mitunter verlaufe. Die Diplom-Pädagogin begann im Bundestag als Expertin für die Kinderkommission. „Das passte ja noch gut zu meinem Studium.“ Dann aber kam der Wechsel zu einem Abgeordneten mit Schwerpunkt Verteidigungspolitik. In dieser Zeit kümmerte sie sich vor allem um Bürgeranfragen. Diese kämen zu allen möglichen Themen. Seit 1998 Jetzt arbeite sie „glücklicherweise“ für einen Bildungspolitiker. Alexandrakis rät dem Politik-Nachwuchs sich die ersten Sporen bei einem Praktikum zu verdienen. Denn die einzelnen Fraktionen führen Personalpools, in die sie oft auch Praktikanten aufnehmen, die sich bewährt haben. „Der Eindruck, den man in der praktischen Arbeit gewinnt, zählt viel“ “, meint die Sozialdemokratin.

Berufe werden stressiger

Seit drei Jahren leitet die 48-Jährige zusammen mit ihrem CDU-Kollegen Thomas Wierer zudem den überfraktionellen Mitarbeiterbeirat der Abgeordnetenmitarbeiter. In dieser Tätigkeit kümmern sich beide etwa um Fortbildungen der Abgeordneten-Mitarbeiter, die von der Bundestagsverwaltung angeboten werden. Gefragt sind nicht mehr nur PC-Kurse. Nachholbedarf gibt es vor allem in Bezug auf die sozialen Medien. „Da haben wir Älteren mühsam etwas aufzuholen“, sagt Wierer. Frische Uni-Absolventen sollten dieses Know-How deshalb idealerweise schon mitbringen.
Die Berliner Republik, die mehr und mehr auch zur Facebook-Republik wird, hat die Jobanforderungen in allen politischen Berufen verändert. Einige Branchen wurden völlig umgekrempelt, bei anderen hingegen halten die historischen Wurzeln dem Veränderungsdruck noch stand. Doch überall gilt: Die Fähigkeit, gezielt zu kommunizieren, ist heute gefragter denn je. Dominik Meier begleitet den Politikbetrieb seit mehr als zehn Jahren als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikberatung (Degepol). Die sozialen Medien gehören seiner Meinung nach zu den größten Herausforderungen der Beratungsbranche. Die neuen Studiengänge sieht der studierte Historiker und Theologe daher auch als Antwort auf die veränderten Verhältnisse. Die alten machtpolitischen Strukturen funktionieren nicht mehr, so Meier. Mit Facebook und Co gebe es einen weiteren Kanal für die Mobilisierung von politischen Mehrheiten. „Kurz gesagt: Es wird stressiger“, sagt der Politikprofi und faltet dabei die Hände zusammen. Sein Büro in der Französischen Straße liegt ganz in der Nähe von der Hans Bellstedt Public Affairs GmbH.  Der Nachbar teilt Meiers Ansicht von der gestiegenen Bedeutung der sozialen Medien für den Beruf, sagt aber auch: „Eine hohe Zahl von Facebook-Freunden ersetzt noch lange nicht den Zugang zum Kanzleramt.“

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Hier lang – Wege in politische Berufe. Das Heft können Sie hier bestellen.