Die Machttektonik der Großen Koalition

Politik

Große Koalition heißt das Regierungsbündnis und groß war Schwarz-Rot in vielerlei Hinsicht: Mehr als 80 Prozent betrug die Mehrheit von CDU, CSU und SPD im Bundestag. 504 von 632 Abgeordneten gehörten ihr an. “So viel Macht war nie”, fasste die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” zum Abschluss der Koalitions­verhandlungen fast erschrocken zusammen.

Aber wo war die Macht genau? Wer in dem Meer der Koalitionsabgeordneten, der Staatssekretäre und Minister konnte wirklich Entscheidungen treffen? Wer sie immerhin beeinflussen? Wer zog hinter den Kulissen die Strippen? Der Einfluss in der riesigen Groko war für Außen­stehende noch schwieriger auszumachen als bei einer normalen, knapperen Mehrheit. Und er verschob sich: Die Tektonik der Macht war in den vergangenen vier Jahren durchaus dynamisch.

Da sich bei CDU und CSU nach dem überraschend deutlichen Wahlsieg keine Führungsfragen stellten, war Bewegung zuerst bei der SPD auszumachen. Der gescheiterte Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hatte schon während der Koalitionsverhandlungen das Handtuch geworfen und spielte keine Rolle mehr. Ganz anders der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel. Mit seiner mutigen Entscheidung, ein Mitgliedervotum abzuhalten, verschaffte er sich demokratische Legitimation. In den Koalitionsverhandlungen zog er die Union nach allgemeiner Lesart über den Tisch. Tatsächlich sahen die inhaltlichen Schwerpunkte der Groko zuerst nicht danach aus, als sei die SPD hier nur Juniorpartner: Zügig wurde ein flächendeckender Mindestlohn eingeführt und ein milliardenteures Rentenpaket beschlossen. Auch sozialdemokratische Herzensanliegen, die nicht nur von den beiden Unionsparteien, sondern auch der Wirtschaft und der Mehrheit der Experten abgelehnt wurde, setzte die Groko stur um: etwa die Mietpreisbremse und eine Frauenquote für Aufsichtsräte.

In dieser ersten, von großer Einigkeit geprägten Phase verschoben sich die Gewichte auf sozialdemokratischer Seite langsam, aber sicher. Gabriel hatte sich in den Ko­a­litionsverhandlungen mit dem Wirtschaftsressort auch die Zuständigkeit für die Energiewende gesichert. Doch die Jahrhundertaufgabe, die in der vorherigen Legislatur­periode von zwei CDU-Ministern nach allgemeiner Wahrnehmung mehr schlecht (Norbert Röttgen) als recht (Peter Altmaier) bearbeitet worden war, erwies sich als weniger dankbar als gedacht. Gabriel musste sich vor allem mit Ministerpräsidenten herumärgern, die sich auf die Seite von Bürgerinitiativen schlugen, um den Leitungsausbau zu bremsen.

Das Traumpaar

Dafür entstand in Berlin eine völlig überraschende ­Allianz: Arbeitsministerin Andrea Nahles und der Chef der CDU/CSU-Bundestags­fraktion, Volker Kauder, wurden zum Traumpaar der frühen Groko. Das war der ehemaligen Juso-Chefin, die früher vor allem bei der SPD-Linken beliebt war, und dem einst als konservativer Flügelspieler im System Merkel geltenden Kauder wahrlich nicht in die Wiege gelegt.

Aber der CDU-Mann ist als ehemaliger Sozialdezernent des Landkreises Tuttlingen tatsächlich vor allem Sozial­politiker. Er hat das deutsche Rentensystem studiert wie kaum ein zweiter Abgeordneter. Kauder mochte nicht nur Nahles’ Vorschläge, die Rentner besserzustellen, er mochte auch ihre Art. Die SPD-Ministerin suchte verlässliche Absprachen mit dem Unionsfraktionschef und erwies sich in Detailfragen stets als sattelfest.

Monatelang sprach man in der Führungsetage der Union sehr positiv von Nahles – viel positiver jedenfalls als von ihrer CDU-Vorgängerin im Arbeitsministerium, Ursula von der Leyen. Die suchte als Verteidigungsministerin die Aussöhnung mit dem konservativen Flügel von Partei und Fraktion. Aber sie fand sie nicht: Obwohl von der Leyen mit dem Einsatz der Bundeswehr im Innern ein Herzensthema der Union starkmachte, wurde sie auf Parteitagen weiter mit nur durchschnittlichen Ergebnissen gewählt. Ihr gelang es in der Groko nicht, ihre Machtbasis zu erweitern.

Altmaier machte sich praktisch unersetzbar

Einem anderen Unionspolitiker gelang das, allerdings erst in der zweiten Halbzeit der Groko. Vorher hatte Kanzler­amtschef Peter Altmaier monatelang seine Rolle gesucht. Als “ChefBK”, wie der Leiter der wichtigsten Bundes­behörde im Beamtenjargon genannt wird, hätte Altmaier eigentlich hinter seiner Funktion verschwinden müssen, wie es seine Vorgänger Thomas de Maizière und Ronald Pofalla getan hatten. Doch der Saarländer mag seine Popularität und wollte gerne eine öffentliche Figur bleiben. Das klappte erst in der Flüchtlingskrise.

In einer spektakulären Aktion entmachtete ­Merkel den zuständigen Innenminister, Thomas de Maizière, und machte Altmaier zum “Flüchtlingskoordinator”. Der entsprechende Erlass, den Altmaier selbst verfasst hat, gewährte ihm vor allem mit einem Kunstgriff Einfluss auf fast alle Bereiche der Regierung: Die Bewältigung der Flüchtlingskrise wurde nun automatisch in jeder Kabinetts­sitzung aufgerufen. Was mittwochs im Kabinett auf der Tagesordnung steht, muss aber schon montags in der Staatssekretärs­runde vorbesprochen, konsentiert und entschieden werden. Diese Sitzung leitet der Kanzleramtschef. Für Merkel machte sich Altmaier damit fast unersetzbar, aber an anderer Stelle bröckelte seine Machtbasis.

De Maizière fühlte sich von Altmaier hintergangen. Auch ein klärendes Gespräch der beiden Männer führte nicht zur Versöhnung. Und auch Finanzminister Wolfgang Schäuble fand den klammheimlichen Umbau der Entscheidungsstrukturen der Bundesregierung nicht komisch. Die Kanzlerin allerdings glaubte, der Erfolg habe Altmaier Recht gegeben und setzte weiter auf ihren nun wichtigsten Minister: 2017 wurde CDU-Generalsekretär Peter Tauber entmachtet. Die schwierigen Verhandlungen mit der CSU über ein gemeinsames Regierungsprogramm übernahm wieder Altmaier, der dazu sogar ein kleines Büro im Konrad-Adenauer-Haus bezog und seinen stellvertretenden Büroleiter aus dem Kanzleramt mit einem genehmigten Mini-Job bei der CDU-Bundesgeschäftsstelle anstellen ließ.

Die CSU geriet ins Abseits

Der vergessene Kontinent in der Machttektonik der Großen Koalition war der kleinste Partner: die CSU. Die stolze bayerische Staatspartei bekam schwer zu spüren, dass es auf ihre Stimmen für die Mehrheitsbildung eigentlich nicht mehr ankam. Zwar kämpfte Alexander ­Dobrindt – ein enger Vertrauter von Parteichef Horst Seehofer – wie ein Löwe für die Einführung einer Autobahnmaut für Ausländer, doch er kämpfte allein. Die SPD sabotierte das Projekt, die CDU schaute zu und feixte. Landwirtschafts­minister Christian Schmidt blieb zwar ein echter Lebensmittel­skandal erspart, der als Experte für Verteidigung weithin angesehene Politiker fand in seinem neuen Amt jedoch kein Profil.

Und auch der dritte CSU-Minister blieb eine Randfigur: Selbst als Kanzlerin Angela Merkel zum Ende der Legislatur­periode Afrika als Mega-Thema entdeckte, spielte Entwicklungsminister Gerd Müller keine Rolle. Seehofers Idee, über Müller einen CSU-Fuß in die Außenpolitik zu bekommen, scheiterte grandios. Als sich die Große Koalition verab­redete, kurdische Milizen im Irak zu bewaffnen, um die jesidische Minderheit vor der Auslöschung durch den IS zu bewahren, war Müller nicht dabei.

Die ganze Machtlosigkeit der CSU zeigte sich aber erst am 4. September 2015. Als Angela Merkel in der Nacht die Grenze für Flüchtlinge öffnete, hatte sie sich vorher telefonisch mit dem damaligen SPD-Vorsitzenden Sigmar Ga­briel und dem damaligen SPD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier abgestimmt. Ein Telefonat mit CSU-Chef Horst Seehofer kam nicht zustande. In der Flüchtlingskrise zeigte sich Seehofer dann vor aller Welt als Gegenpol zur Kanzlerin und eigentlicher Oppositionsführer. Paradoxerweise stabilisierte er damit nicht nur seine vorher bröckelnde Position in der CSU, indem er den mit allen Hufen scharrenden Herausforderer Markus Söder auf Distanz halten konnte.

Nein, Seehofer gewann durch seinen Gegenkurs auch neue Macht in Berlin. In den Verhandlungen zum Länderfinanzausgleich trotzte der Bayer an der Spitze der anderen 15 Bundesländer dem Bund ein Traumergebnis ab. Die Beteuerung, dies habe nichts mit der Flüchtlingskrise zu tun, kann man getrost vergessen. Seehofer hat sich seinen Ärger vergolden lassen.

Selbst die eigentlich schon als Verliererthema gebrandmarkte Maut, konnten Seehofer und Dobrindt retten. Um die Bayern milde zu stimmen, hatte Kanzlerin Merkel im Sommer 2016 dem EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker signalisiert, dass ihr an einem Erfolg des CSU-­Lieblingsprojekts sehr liege. Der Obereuropäer sorgte in der Folge dafür, dass Brüssel die Kompromissvorschläge von Dobrindt wohlwollend prüfte. Für die CSU ist die Lehre aus der Groko: Sie wird nur ernst genommen, wenn sie auf Krawall gebürstet ist. Nicht zufällig wird die Landesgruppe künftig nicht mehr von der konzilianten Gerda Hasselfeldt geführt werden, sondern vom streitbaren Dobrindt.

Bleibt die CDU: Nachdem die Generation 50 plus in der Merkel-Partei alle interessanten Posten unter sich aufgeteilt hatte, lernten die CDU-Youngster ihre Interessen gemeinsam zu vertreten. Obwohl mit Philipp Mißfelder der am besten vernetzte Politiker seiner Generation 2015 überraschend starb, gelang es den Jüngeren in den Folgejahren, eigene Akzente zu setzen. Zur Front­­figur ­entwickelte sich der Staatssekretär beim Finanz­minister, Jens Spahn, der sich mit einer Kampfkandidatur ins CDU-Präsidium gezwängt hatte. In der Regierung stand Spahn unter der schützenden Hand von Finanzminister Wolfgang Schäuble, innerparteilich konnte er sich auf die Hilfe von zwei Männern aus seiner Generation verlassen: Carsten Linnemann, Vorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU, und Paul Ziemiak, seit 2014 Bundesvorsitzender der Jungen Union.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 120 – Thema: Die ersten 100 Tage nach der Bundestagswahl. Das Heft können Sie hier bestellen.