Der Typ von nebenan

Eigentlich ist er schon viel zu spät dran. Sein Pressesprecher hat angerufen, dass die Jugendlichen im Rathaus auf das Gespräch mit ihm warten. Doch Karamba Diaby blickt gerade wieder in erstaunte Augen. Er ist im Mehrgenerationenhaus „Pusteblume“ in Halle-Neustadt unterwegs und verteilt rote Rosen zum Frauentag.
Das Taxi zurück ins Rathaus ist schon  bestellt, als der SPD-Bundestagskandidat im oberen Stockwerk eine Tür öffnet, hinter der eine Gruppe von Migranten Deutsch lernt. „Ich bin vor gut 25 Jahren nach Halle gekommen, ohne ein einziges Wort Deutsch zu verstehen“, erzählt der gebürtige Senegalese, während er jeder Frau im Raum eine rote Rose in die Hand drückt. Die einzigen Wörter, die er kannte, seien „BMW“ und „Bundesliga“ gewesen. Bewunderung in den Gesichtern der Zuhörer. Diaby will seine Geschichte weiter erzählen, doch dann fällt es ihm wieder ein: die Schüler im Rathaus. „Ich muss leider weg.“
Karamba Diaby ist einer von mehr als zweitausend Direktkandidaten, die in den nächsten Deutschen Bundestag einziehen wollen. Im Wahlkreis 72 (Halle, Kabelsketal, Landsberg) konkurriert der 51-Jährige mit der 2009 siegreichen Petra Sitte (Linke) und dem Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Christoph Bergner (CDU), um das Direktmandat. „Vorhang auf für einen neuen SPD-Hoffnungsträger“, schrieb die Magdeburger „Volksstimme“ am Tag, nachdem der Hallenser von seiner Partei auf den dritten Listenplatz gewählt wurde. Eine Menge Vorschusslorbeeren. In der Tat hat der überregional unbekannte Hallenser Stadtrat gute Aussichten, im Herbst in die Bundespolitik zu wechseln. Sollte er seinen Wahlkreis nicht direkt gewinnen, ist er über die Landesliste abgesichert. Doch wer ist dieser Deutsch-Senegalese? Was steckt hinter dem Vorzeige-Migranten, der im Fall seiner Wahl der erste Bundestagsabgeordnete mit afrikanischen Wurzeln wäre.
Zunächst einmal ein Mensch, dessen Wahlprogramm eng an seine Lebensgeschichte geknüpft ist. Geboren in einem senegalesischen Dorf im Westen des Küstenstaates wuchs Diaby bei der Familie seiner 16 Jahre älteren Schwester auf. Seine Mutter starb an den Folgen seiner Geburt, sein Vater ging seinen eigenen Weg. Nach dem Schulabschluss studierte er in der Hauptstadt Dakar Biologie und Geologie. Studieren, das ging nur, weil sein Bruder und er sich ein Stipendium teilten, für umgerechnet 200 Euro.

Mit Aeroflot in die DDR

Um im Senegal weiter Karriere zu machen, braucht man Grips, Geld und vor allem gute Beziehungen zum Staatsapparat. Doch diese Beziehungen hatte der junge Student aus dem Landesinneren nicht, dafür eine „große Klappe“. Schon früh engagierte sich Diaby in der Internationalen Studentenbewegung. Irgendwann sah er in einer Zeitschrift der Studentenbewegung eine Ausschreibung für ein Auslandsstipendium.
Er wollte weg, um später seiner Familie und seinen Freunden etwas zurückzugeben. Zur Auswahl standen nur sozialistische Länder: Bulgarien, die Tschechoslowakei oder die Deutsche Demokratische Republik. Diaby kreuzte verschiedene Fächer an, bei der Länderzuteilung hatte er kein Mitspracherecht. Die Zusage kam per Fax: Er könne in der DDR Chemie studieren. Das war alles. Um die Flugkarte musste sich der Student selbst kümmern. Sein Onkel, der bei der Afrikanischen Union arbeitete, besorgte ihm das Ticket in den Sozialismus und ulkte: „Pass auf, dass du kein Kommunist wirst.“ Er sollte seinen Neffen erst fünf Jahre später wiedersehen. Es war „furchtbar kalt“, als Diaby mit der sowjetischen Fluggesellschaft Aeroflot an einem grauen Herbsttag 1985 in Berlin landete.
Kommunist geworden ist er nicht, sondern Sozialdemokrat. Wegen Willy Brandt. Natürlich gibt es auch dafür eine Anekdote. Diaby kann zu fast allem in seinem Leben eine Geschichte erzählen. Zufällig habe er im Dezember 2007 abends im Fernsehen eine Reportage über Brandts Leben gesehen. Brandts Visionen, die Weltoffenheit, der Kniefall in Warschau. Diaby war baff. Noch am selben Abend füllte er online einen SPD-Mitgliedsantrag aus.
Ein paar Jahre später sitzt er als Bundestagskandidat im roten Pullover und mit roter Krawatte im Rathaus und erklärt zwei Schülern der Saaleschule, auf die auch sein zehnjähriger Sohn geht, was Chancengerechtigkeit für ihn bedeutet. Aus seiner eigenen Biographie wisse er, wie wichtig es sei, dass die Bildungschancen nicht vom Geldbeutel und von der Herkunft der Eltern abhängen. Diaby benutzt keine der üblichen Politikerfloskeln. Er redet wie ein Typ von nebenan, und das obwohl er längst hauptberuflich Politik macht. Jeden Wochentag fährt er um 7.07 Uhr mit dem IC von Halle nach Magdeburg, seit 2011 ist er Referent im Landessozialministerium.
Doch Diabys größte Stärke ist zugleich seine größte Schwäche. Seine unbefangene Art brachte ihn im Sommer 2011 in eine brenzlige Situation. Es ging um eine Petition des Bundeszuwanderungs- und Integrationsrates, dessen Vorsitzender Diaby war. In dieser forderte die Migrantenvertretung eine konsequentere Verfolgung rassistischer Straftaten. Daraufhin rief ein Journalist der rechtsgerichteten „Jungen Freiheit“ bei ihm an. Diaby verstand nur „Freiheit“ und fragte amüsiert: „Was, diese Zeitung gibt es noch?“ Woran er dachte, war die ehemalige SED-Bezirkszeitung „Freiheit“. Diaby unterhielt sich mit dem Anrufer. Auf den Artikel folgten übelste Beschimpfungen und Morddrohungen aus der rechten Szene. 200 E-Mails, nach zwei Monaten war wieder Ruhe. „Das Gespräch selbst war ein riesiger Fehler, das Zustandekommen ein sehr ärgerliches Missverständnis“, gesteht er ein.

„Ich bin nicht naiv“

Inzwischen ist er vorsichtiger geworden. Die Zitate für diesen Text möchte er zur Freigabe noch einmal zugeschickt bekommen. Und im Taxi zwischen zwei Terminen macht er sich Sorgen, dass sich jemand daran stören könnte, dass er morgens auch im Rathaus an die Mitarbeiterinnen Rosen verteilt hat, schließlich war er im Namen der SPD unterwegs. Das ist auch deshalb heikel, weil der neue Oberbürgermeister vor zwei Jahren nach internen Streitigkeiten aus der SPD ausgetreten ist. Diabys Parteifreund im Taxi beruhigt ihn: „Karamba, da soll erst mal einer was dagegen sagen, dass du den Mitarbeiterinnen eine Freude machst.“
Den Stadtrat treibt noch eine andere Sorge um. Er hat Angst, politisch auf seine Hautfarbe reduziert zu werden; auch weil er noch nicht lang in der SPD aktiv ist. Felix Knothe berichtet für die „Mitteldeutsche Zeitung“ regelmäßig über die Stadtpolitik in Halle. Der Journalist sagt: „In der Kommunalpolitik spielt Diaby eher keine tragende Rolle.“ Auch würden seine bundespolitischen Ambitionen von einigen in der Stadt eher belächelt. Im Migrations- und Bildungsbereich sei er ein Fachmann, was ihm fehle, sei ein breites Profil.
Und CDU-Kontrahent Christoph Bergner bezeichnet Diaby als „integre Persönlichkeit“, stichelt aber, er habe sich über die Personalentscheidung der SPD gewundert, schließlich läge die Migrantenquote in Halle bei nur vier Prozent. Der ehemalige Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt rechnet mit einem Wahlkampf, in dem die strukturellen Umbrüche des Chemiestandorts und das Dauerthema Arbeitslosigkeit dominieren.
Darauf angesprochen, reagiert der sonst so gelassene Diaby verärgert. „Ich bin kein Alibi-Kandidat, den die SPD einfach von der Straße geholt hat.“ Der zweifache Familienvater verweist auf sein sozialpolitisches Engagement. Nach seiner Promotion über die Schadstoffbelastung von Schrebergärten arbeitete der Chemiker ehrenamtlich für verschiedene soziale Träger. Vorsitzender der Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt, Präsident des Deutsch-Senegalesischen Vereins, Bundesvorsitzender des Integrationsrats; die Liste auf seiner Internetseite ist lang. Gleichwohl weiß er, dass er den guten Listenplatz „nicht ausschließlich, aber auch“ der Migrantenquote verdankt, die seine Partei eingeführt hat. „Ich bin nicht naiv.“ Diesen Satz sagt er mehrmals im Gespräch.
Im Wahlkampf will er neben den Studierenden vor allem Multiplikatoren im Bildungs- und Sozialbereich für sich gewinnen. Dazu fährt er immer wieder nach Halle-Neustadt, einen Stadtteil, in dem einige Straßenzüge einer Geisterstadt gleichen. Hier hat er eine Zeit lang selbst mit seiner Familie gelebt. Die Leute von dort sagen, in „HaNeu“ werde die hässliche Seite der Wende sichtbar.
Es sind die Menschen, ihre Geschichten, Schicksale und Erfolge, die den Kommunalpolitiker umtreiben. Hier geht er nicht auf Stimmenfang, so Diaby, denn viele hier hätten kein Wahlrecht. Diaby sieht sich als Teil dieser Gemeinschaft, dabei ist er seit mehr als zehn Jahren deutscher Staatsbürger, verheiratet mit einer ehemaligen Kommilitonin aus Sachsen.
Auch seine Hauptkonkurrentin im Wahlkampf Petra Sitte kennt Diaby von der Uni. Sie sagt über ihn: „Karamba ist ein cooler, netter Typ“. Sie sei sogar ein bisschen beleidigt gewesen, dass er sich damals nicht für die Linkspartei entschieden habe. Im Moment stehen die Zeichen also auf Kuschelwahlkampf. Oder kann Doktor Diaby auch Steinbrücks klare Kante? Er lacht und sagt: „Vielleicht lerne ich das auch noch.“

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Im Auftrag des Herrn – wie die Kirche ihre Macht wahrt. Das Heft können Sie hier bestellen.