Der Toni hat viele verblüfft

„Nein!“ Anton Hofreiter schüttelt den Kopf. Er steht in seinem noch etwas kahlen, neuen Büro mit Blick auf den Tiergarten. Links das Brandenburger Tor, rechts der Reichstag, vor dem Fenster ein Kübel mit südamerikanischen Anthurien. Was der neue Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen so kategorisch ablehnt, ist nicht etwa die geplante Energiepolitik der sich anbahnenden großen Koalition, sondern die freundliche Bitte des Fotografen, für das Porträt einmal zu „headbangen“, also den Kopf kräftig zu schütteln und die Haare fliegen zu lassen, wie es Heavy-Metal-Fans zum Takt der Musik tun. Das wäre ein tolles Foto, ein Hingucker! Hofreiter findet das nicht. Er bleibt dabei: „Wenn man lange Haare hat, muss es seriös sein.“

Der 43-Jährige hat seine Lektion gelernt. Was ist nicht alles über sein Haar geschrieben worden, seit es ihn, den bisherigen Vorsitzenden des Verkehrsausschusses, nach der verlorenen Bundestagswahl in den Fraktionsvorsitz gespült hat. Zusammen mit Katrin Göring-Eckardt soll der gebürtige Oberbayer die Bundestagsfraktion nun leiten. Kaum ein Porträt des Polit-Aufsteigers kam seither ohne einen Hinweis auf seine „lange, blonde Mähne“ aus, die an einen „Grünen der ersten Stunde“ erinnere. Die „Welt“ nannte ihn gar den „haarigen Doktor“. Soviel Aufmerksamkeit für sein Haupthaar bekam zuletzt nur Christian Lindner, als er seine Haartransplantation via Twitter bestätigte.

Wirkte Hofreiter, von seinen (Partei‑)Freunden „Toni“ genannt, anfänglich irritiert, gibt er sich angesichts des Medienrummels um seine Person inzwischen unaufgeregt: „Mir war klar, dass das kommt. Ich bin ja nicht seit gestern in der Politik.“ Tatsächlich ist der 1970 geborene Hofreiter, der im ländlich geprägten Sauerlach südöstlich von München aufwuchs, bereits seit seinem 14. Lebensjahr politisch aktiv.

Für den Jugendlichen, der aus einem „klassisch linken SPD-Elternhaus“ stammt, gab es schon früh kaum etwas anderes als die Natur. Der Vater arbeitete bei der Gesellschaft für Strahlenforschung, heute Teil des Helmholz-Zentrums München. Seinem Sohn war bereits zu Beginn des Gymnasiums klar, dass er Biologie studieren will. Mit 16 Jahren wurde er offiziell Mitglied der Sauerlacher Grünen, mit 18 ihr Sprecher. 2003 promovierte er über die „Bomarea“, eine Inka-Lilie, die er während seiner Studienreisen im südamerikanischen Regenwald erforscht hat.

 

„Ich war sehr überrascht. Wahrscheinlich habe ich ihn und seinen Machtanspruch unterschätzt.“
Uwe Beckmeyer, SPD

Eigentlich wollte Hofreiter seine wissenschaftliche Karriere fortsetzen: „Ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl 2005 war ich noch auf der Suche nach einer Habilitationsstelle.“ Doch die vorgezogenen Neuwahlen gaben seinem Leben eine völlig andere Richtung: Seitdem ist er Abgeordneter im Bundestag, 2009 wurde er verkehrspolitischer Sprecher, seit 2011 leitete er den Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.

Einen Namen als sachkundiger Fachpolitiker hat er sich seitdem gemacht. Die Öffentlichkeit kennt den Mann mit dem unverkennbar bayerischen Idiom insbesondere als wortgewaltigen Bahnkritiker. Doch trotz seines bisherigen geraden Aufstiegs – seine Kandidatur und Wahl an die Spitze der Fraktion haben viele Beobachter des parlamentarischen Betriebs erstaunt: Selbst langjährige Kollegen im Ausschuss hatten ihn als Fraktionschef nicht auf der Rechnung. „Ich war sehr überrascht“, gesteht Uwe Beckmeyer, Sozialdemokrat und seit 2002 im Verkehrsausschuss. „Wahrscheinlich habe ich ihn und seinen Machtanspruch unterschätzt.“

Tatsächlich täuschen tapsiger Gang, Bauchansatz und seine mitunter etwas unbeholfene Art – gemächlich ist Hofreiter nicht. Er kann durchaus temperamentvoll auftreten und scharf attackieren. Der ist offen, unverstellt, redet frei von der Leber weg, heißt es. Weggefährten attestieren ihm neben Sinn für Humor vor allem die Fähigkeit, blitzschnell Sachverhalte zu analysieren und strategisch anzugehen. Bei Hofreiter klingt es so: „Was Biologen auszeichnet, ist, dass sie in langen Linien denken können.“

So gesehen verwundert es nicht, dass seine Kandidatur für den Fraktionsvorsitz von langer Hand geplant war. Gefallen sei die Entscheidung „Monate“ vor dem Wahlabend. Damals war die Situation bei den Grünen allerdings noch eine andere: „Wir haben auch geplant, dass wir in die Regierung kommen und einige Ministerämter übernehmen. Da brauchte es jemanden für den Fraktionsvorsitz.“

 

Nun kommt ihm die Aufgabe zu, die mit 63 Abgeordneten kleinste Fraktion im Parlament geschlossen in die neue Wahlperiode zu führen. Manche, die seinen Karriereweg verfolgt haben, sind jedoch skeptisch, ob er ihr gewachsen ist. Angesichts der Komplexität der Aufgabe könnte es eine Nummer zu groß für ihn sein, fürchten sie. Schließlich müsse er als erster Repräsentant der Fraktion jederzeit und zu jedem Thema sprechfähig sein.

Hofreiter lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass er, der Biologe, in der jetzigen Situation der Richtige für den Job ist: Schließlich will er „grüne Kernthemen“ wieder betonen, insbesondere die Energiewende und eine ökologische Modernisierung der Wirtschaft vorantreiben. „Ich denke auch, dass ich das soziale Geschick habe, die Fraktion so zu führen, dass sie den Hauptgegner nicht in den eigenen Reihen, sondern beim politischen Mitbewerber findet“, sagt er selbstbewusst.

„Er markiert zwar gern den wilden Mann. Aber hinter den Kulissen habe ich ihn immer als konstruktiv und pragmatisch erlebt.“
Dirk Fischer, CDU

Dass Hofreiter ausgleichend wirken kann – auch über Parteigrenzen hinweg –, das hat er als Ausschussvorsitzender schon bewiesen: Politische Gegner jeglicher Couleur beschreiben Hofreiter als fair und verlässlich. Den Verkehrsausschuss habe er ausgleichend und unparteiisch geführt. „Toni Hofreiter markiert zwar gern den wilden Mann vor den Kameras oder im Plenum, aber hinter den Kulissen habe ich ihn immer als konstruktiv, pragmatisch und verbindlich erlebt“, sagt etwa Dirk Fischer, langjähriger verkehrspolitischer Sprecher der CDU/CSU. Und Patrick Döring, mit dem sich Hofreiter durchaus vortrefflich streiten konnte, lobt den Grünen als „kooperativ und undogmatisch“. „Wir wussten, wann wir getrennt schlagen und wann gemeinsam. Aber dann haben wir am gleichen Strang gezogen“, so der frühere Generalsekretär der FDP.

Diese Haltung spiegelt auch sein Engagement in der Parlamentariergruppe „Frei fließende Flüsse“ wider, deren Mitglieder sich überfraktionell gegen den Ausbau der Donau und anderer Flüssen stark machen. Bruni Irber (SPD), 2009 aus dem Bundestag ausgeschieden, schätzt ihren früheren Mitstreiter als „gestandenen, aber stets kompromissbereiten Bayern“.

Trotzdem hat auch sie sein Aufstieg zum Frontmann der Grünen im Bundestag verblüfft: „Er ist schon auch gewöhnungsbedürftig“, sagt sie und lacht. Es klingt anerkennend. Weich wird der zuweilen ruppig wirkende Politiker aber, wenn er über seine Liebe zur „wilden, ungebändigten Natur“ spricht, wie er sie etwa auf Wanderungen durch sein Lieblingsgebirge, die Cordelliera Blanca, in den peruanischen Anden erlebt hat. „Die Natur dort hat einen Zauber, der sich nicht erklären lässt, wenn man ihn nicht selbst erfahren hat.“

Vollends anpassen will sich auch Hofreiter nicht: Fragen nach seinem Privatleben blockt der zwar liierte, aber unverheiratete und kinderlose Politiker rigoros ab, wie zuletzt gegenüber der „Bild“-Zeitung mit den Worten: „Habe ich. Danke.“ Zu kleineren Zugeständnissen ist er allerdings bereit: Aus Zeitgründen pendelt der Fraktionschef zwischen Berlin und München nicht mit der Bahn, sondern mit dem Flugzeug. Anzüge trägt er nur, weil er weiß, dass sonst die Gesprächspartner seine Argumente nicht ernstnehmen. Und nun scheint er auch einige Zentimeter seines Haares geopfert zu haben: Er trägt es neuerdings schulterlang.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Bleibt alles anders? – Die Kampagnentrends 2014. Das Heft können Sie hier bestellen.