Der Schriftsteller

Wenn er nach rechts aus dem Fenster schaut, sieht er den Pariser Platz, das Brandenburger Tor, das Gewimmel der Touristen. Der Blick geradeaus geht auf das Hotel Adlon. Hier, am Pariser Platz 4, fünfter Stock im Eckbüro, hier arbeitet der Berliner Büroleiter des „Spiegel“. Eine exklusive Adresse. Wenn Dirk Kurbjuweit am Schreibtisch sitzt, könnte er also denken: „Ich hab’s geschafft“. Berechtigt wäre es, nehmen doch ausschließlich „Alpha-Journalisten“ an diesem Schreibtisch Platz, mit den besten Zugängen zu den Wichtigen, zu Ministern, zur Kanzlerin. Wer das Berliner Büro leitet, ist auch beim „Spiegel“ intern ein Machtfaktor. Doch vermittelt Kurbjuweit nicht den Eindruck eines Medien-Machiavellis, eher erscheint er als Mann ohne Allüren. Freundlich, etwas abwartend, beobachtend. Und ist er ein Alpha-Journalist, dann keiner, der sich gern in Talkshows setzt oder eine Laudatio auf Tom Cruise halten würde.

Ohne Allüren

Kurbjuweit hat zwar keine Allüren, aber einen stillen Ehrgeiz, der sich früh bemerkbar machte: das Schreiben. „Das habe ich schon immer gerne getan“, sagt er, „ob es Aufsätze in der Schule waren oder Geschichten“. Dieser Ehrgeiz ließ ihn zum zweifach mit dem Kisch-Preis ausgezeichneten Journalisten werden und zum Autor von Romanen. Dabei gab es zunächst noch eine andere Leidenschaft, ebenso stark wie die für‘s Schreiben: den Motorsport. Kurbjuweit fuhr in jungen Jahren Rallyes, sein großes Vorbild war der zweifache Weltmeister Walter Röhrl. Eines Tages flog er bei einem Rennen aus der Kurve und zerlegte sein Auto – Ende der Karriere als Fahrer.
Dennoch hätte das Faible für den Motorsport ihn um ein Haar in eine ganz andere Richtung gelenkt. Nach dem Abitur wollte er seine beiden Leidenschaften verbinden und bewarb sich um ein Volontariat bei „Auto, Motor und Sport“ in Stuttgart. Zunächst hieß es: Ja, Sie können anfangen. Freude. Doch dann kam ein Brief: „Sie hatten Bedenken bekommen und meinten, ich sollte vor einem Volontariat doch besser erst studieren“, erinnert sich Kurbjuweit. „Ich empfand es als größte Enttäuschung meines Lebens.“ Rückblickend sieht er das anders: „Vermutlich war das einer der besten Briefe, die ich je erhalten habe.“ Denn nach diesem Erlebnis studierte er in Köln Volkswirtschaftslehre und begann eine journalistische Ausbildung an der Kölner Journalistenschule. Die ersten Texte bot er Zeitungen an. „Ich war vielleicht ein bisschen größenwahnsinnig“, sagt Kurbjuweit. „Ich dachte mir, fange ich lieber direkt oben an, bevor ich es erst bei den ,Nürnberger Nachrichten‘ versuche“.
Also wandte er sich mit einem seiner Frühwerke, einem sozialpolitischen Text, direkt an die „Zeit“. Das Blatt druckte den Text. Während des Studiums folgten weitere „Zeit“-Artikel als freier Mitarbeiter, und einige Jahre später fand er dort seinen ersten festen Job als Wirtschaftsredakteur. Da war Kurbjuweit 27 Jahre alt. Dass er nach einem Jahr von der Journalistenschule geflogen war, weil er zu große Selbstständigkeit bei der Vermarktung seiner Texte und der Suche nach Praktika an den Tag gelegt hatte, war jetzt nur noch ein Treppenwitz.

Fantastischer Bereich

Ein Jahrzehnt blieb Kurbjuweit bei der „Zeit“. Wirtschaft, Dossier und Politik waren die Stationen. Er war Autor, schrieb Reportagen, reiste nach Nairobi und 1998 zur Fußball-WM nach Frankreich. Doch war ihm das Schreiben über die äußere Welt nicht genug. „Ich wollte immer auch über den fantastischen Bereich in mir selbst schreiben“, sagt er. Das Dasein als Autor eröffnete Raum. Kurbjuweit begann, Romane zu verfassen. Dafür nutzte er das Warten auf Flüge, auf Termine, nutzte die schlaflosen Zeiten, die der Jetlag forderte. „Die Einsamkeit der Krokodile“ war 1995 der Erstling. Die Geschichte über einen eigenbrötlerischen jungen Mann, der in einem Provinzdorf lebt und eines Tages tot aufgefunden wird, gefiel dem Filmemacher Jobst Oetzmann; Oetzmann brachte ihn ins Kino. Inzwischen gibt es fünf Kurbjuweit-Romane, von denen drei verfilmt wurden. „Zweier ohne“ kam im Oktober dieses Jahres ins Kino, ebenfalls verfilmt von Oetzmann.
Die Buchbesprechungen waren überwiegend freundlich. Der bislang letzte Roman wurde von der „FAZ“ gar mit den Worten kommentiert: „Solche Romane braucht das Land“. „Nicht die ganze Wahrheit“ heißt das Buch, das ein munteres Spekulieren auslöste, besonders unter Journalisten in Berlin. Denn es geht um einen Privatdetektiv, der für die Gattin des Vorsitzenden einer großen deutschen Partei herausfinden soll, ob dieser eine Affäre hat. Und der Politiker hat tatsächlich eine Affäre mit einer deutlich jüngeren Parteifreundin, die zu einer Gruppe von Parteirebellen gehört. Das können doch nur Franz Müntefering und Andrea Nahles sein, meinte da mancher aufmerksame Leser. „Darüber muss ich lachen, das ist abwegig“, sagt hingegen Kurbjuweit. „Da steckt der Politiker an sich drin – aber keine konkrete Person.“ Ein bisschen lohnt sich das Dechiffrieren dann doch: „Für zwei oder drei Nebenfiguren gab es ein reales Vorbild“, gibt er immerhin zu. Das wollte er aber auch nicht verbergen, denn wer sollte ein Außenminister mit Schlankheitswahn sonst sein außer Joschka Fischer?
Die Politiker: Ab morgens acht Uhr, wenn er sich wie üblich zum Zeitunglesen ins Café Einstein setzt, beschäftigt Kurbjuweit sich mit ihnen. Ist er fasziniert von Politikern? „Nein“, sagt er, „aber sie interessieren mich unheimlich“. Der Journalist versucht, hinter die Fassaden zu schauen. „Wir sind alle auf der Jagd nach authentischen Momenten, doch sind sie sehr geschult darin, sich zu verbergen.“ Wenn er sich frage: „Wer ist die authentische Angela Merkel?“, könne er das kaum beantworten, obwohl er sie schon so lange kenne. „Sie ist eine Meisterin des Gleichmuts, bei ihr entdecke ich fast nie eine Regung.“

Wechsel zum „Spiegel“

Im Jahr 1999 wechselte Kurbjuweit zum „Spiegel“. Mit einem kritischen Beitrag über die Fusion zwischen Daimler und Chrysler gewann er 2002 zum zweiten Mal den Kisch-Preis, den er 1998 erstmalig erhalten hatte. Dem früheren „Spiegel“-Chefredakteur Stefan Aust ist er heute noch dankbar dafür, dass dieser den Artikel auch intern gegen Kritik verteidigte und ihn ohne Änderungen ins Heft nahm. Mit Aust hängt indirekt auch zusammen, dass er heute allein das Hauptstadtbüro leitet: Als der Chefredakteur im Herbst 2007 abgelöst wurde, bildete Kurbjuweit seit erst vier Monaten eine Doppelspitze mit Georg Mascolo. „Für mich kam das völlig überraschend“, sagt er. Es folgten lange Turbulenzen, zwischenzeitlich war der ZDF-Mann Claus Kleber als Chefredakteur schon fast engagiert. Kurbjuweit hatte Zweifel: „Mir war nicht klar, warum ausgerechnet ein Fernsehjournalist den Laden führen sollte“. Kleber sagte schließlich ab, und Mascolo ging als einer von zwei Chefredakteuren nach Hamburg.
Kurbjuweit hatte nun allein den Job, der einen „Pitbull“ erfordere, wie ein „Spiegel“-Insider sagt, einen Machtmenschen, den die Chefredaktion in Hamburg fürchten müsse. Denn schließlich liefere Berlin nur zu, da müsse man dafür sorgen, dass man im Heft mit den richtigen Themen vertreten sei. Kurbjuweit ein Pitbull? Wohl kaum. Er sagt selbst, dass er es in Ordnung fände, wenn er irgendwann wieder Autor wird. „Der Wechsel zwischen Verantwortung und dem haltlosen Dasein als Reporter gefällt mir ganz gut.“ Und auch der nächste Roman will schließlich geschrieben sein. Doch dafür lassen ihm Merkel und Co. einfach keine Zeit – schon gar nicht im Wahljahr.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Politiker des ­Jahres – Peer Steinbrück. Das Heft können Sie hier bestellen.