Der Netzwerker und der Offizier

So unterschiedlich die Persönlichkeiten der deutschen Kanzler waren, so unterschiedlich waren ihre Führungsstile. Parteigenossen von Helmut Schmidt kritisierten diesen seinerzeit, er sei zu autoritär und verwechsle das Amt des Bundeskanzlers mit dem eines Kompanieführers. Doch heute ist der 91-Jährige wieder gefragt, gerade als Autorität: So bezeichnete 2007 die Mehrheit der Befragen einer Forsa-Studie Schmidt als „den besten“ der noch lebenden Altkanzler, und die meisten von über 500 voriges Jahr befragten deutschen Managern nannten ihn als Vorbild in Sachen Führung. Der Führungsstil, den Helmut Schmidt pflegte, war ein recht straffer, wie Klaus Bölling verrät, der Schmidt fast während dessen gesamter Regierungszeit als Sprecher diente und zum engeren Beraterkreis des Kanzlers gehörte. „Wenn ein Minister im Kabinett zu sehr ins Reden geriet, unterbrach er diesen schon einmal recht deutlich“, sagt Bölling. Doch mochte Schmidt zuweilen auch harsch reagieren – er ließ seinen Mitarbeitern Raum für freies Denken und Diskutieren. „Er ließ gerne tüchtige Mitarbeiter zu sich kommen, um ihre Meinung zu hören“, so Bölling, „er erwartete sogar, dass sie ihm ihre Meinung sagten“. Schmidt sei offen für Rat, aber auch streng gewesen: „Es galt für jeden die Pflicht, seine Meinung zu begründen.“ Die Straffheit in der Form habe den Unterschied zwischen Schmidt und seinem Vorgänger Willy Brandt ausgemacht, der im Kabinett eher ein „government by discussion“ gepflegt habe, jeder sei zu Wort gekommen. Doch auch sonst unterschieden sich die Führungsstile dieser beiden SPD-Kanzler. Brandt war der Visionär und Charismatiker, dem oft Führungsschwäche unterstellt wurde. Schmidt hingegen gab sich vor allem verstandesbetont. „Er hat immer abgelehnt, als intellektueller und moralischer Mentor der Deutschen aufzutreten“, sagt Bölling. Gleichwohl habe er alle Entscheidungen immer vom Ende her gedacht und sei mehr als der „Macher“ gewesen, den viele in ihm sahen.
Schmidts Nachfolger Helmut Kohl belegten Kritiker gelegentlich mit dem Spitznamen „Aussitzer“. Michael Mertes, der Bevollmächtigte des Landes Nordrhein-Westfalen beim Bund, hat in mehreren verantwortlichen Funktionen unter Kohl im Kanzleramt gearbeitet und meint: „Dieses Aussitzen kann man auch anders bezeichnen, nämlich als ,strategische Geduld’.“ Wie heute von Angela Merkel wurde auch von Kohl gelegentlich mehr Führung gefordert, doch ließ er sich auf solche Diskussionen ebensowenig ein. Mertes: „Er hat gewusst, dass Machtworte sich schnell verschleißen. Wenn Kommentatoren schrieben, Kohl müsse ein Thema zur ,Chefsache‘ machen, hat er gerne darüber gespottet – denn ,Chefsache‘ war doch nur ein anderer Begriff für ,Machtwort‘.“

Liebe zur Debatte

Im Alltag nutzte Helmut Kohl insbesondere das Telefon als Instrument der Kommunikation – und der Führung. Er war ein Netzwerker, der täglich viele Gespräche geführt hat; auch, um die Stimmung an der Parteibasis zu erkunden. Mertes: „Er dürfte jeden Kreisvorsitzenden der CDU persönlich gekannt haben, nicht unbedingt näher, doch konnte jeder damit rechnen, mal einen Anruf aus dem Kanzleramt zu bekommen.“ Das sei auch Teil der Machtsicherung gewesen. „Man kann schon bei Machiavelli nachlesen, dass ein oberster Kriegsherr nicht nur zu den Generälen den Kontakt pflegen sollte, sondern auch zu den Hauptleuten.“ Wie Schmidt habe auch Helmut Kohl die kontroverse Debatte geliebt: „Er hat Politik immer als antagonistischen Prozess gesehen“, sagt Mertes, „er hatte Freude daran, mit anderen intellektuell zu ringen.“ Und eine Äußerung von Kohl hat Mertes sich besonders eingeprägt. Um zu verdeutlichen, dass ein Politiker immer einen Ausgleich zwischen einer an Überzeugungen orientierten Politik und der Machtsicherung finden müsse, habe er zwei Sprichwörter ins Feld geführt: „Viel Feind, viel Ehr‘“, sei das eine gewesen. „Viele Hunde sind des Hasen Tod“ das andere. Vielleicht hat Angela Merkel Kohl das auch sagen hören – oder sie beherzigt es instinktiv, wenn von ihr wieder einmal mehr Führung verlangt wird.

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