„Der Krieg war längst beschlossen“

p&k: Herr Pleuger, Deutschland war zuletzt in den Jahren 2003 und 2004 Mitglied im UN-Sicherheitsrat; seit 1. Januar ist es erneut im „Club der Mächtigen“. War die Wiederwahl für Sie nach einer so kurzen Pause überraschend?
Gunter Pleuger: Nein, denn wir bewerben uns traditionell etwa nach sechs Jahren um eine Wiederwahl. Deutschland sollte als drittgrößter Ressourcengeber nach den USA und Japan öfter – wenn möglich ständig – im Sicherheitsrat vertreten sein. Nicht zuletzt, um die Bereitschaft der deutschen Regierung und des Bundestags zu erhalten, der Uno diese Ressourcen zur Verfügung zu stellen.

Vereinfacht Deutschlands finanzieller Beitrag zur Uno eine solche Bewerbung?
Ja, die Mehrheit der Mitgliedsstaaten sieht ein, dass die großen Geberländer über die eigenen Ressourcen mitbestimmen sollten. Hinzu kommt, dass Deutschland sich innerhalb der Uno großes Ansehen erworben hat. Die Wahl beweist das: Deutschland hat bereits im ersten Wahlgang die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit bekommen. Das ist nicht selbstverständlich.

Wie hat sich Deutschland dieses Ansehen erworben?
Deutschland hat sich in der Uno immer als Macht profiliert, die auf Frieden und Stabilität hinwirkt und versucht, im Konfliktfall zu vermitteln. Aber wir sind auch bereit, militärisch einzugreifen, wenn der Sicherheitsrat das beschließt.

Sie waren lange Zeit direkt am Ort des Geschehens. Wie läuft so eine Bewerbung ab?
Zunächst spricht der deutsche Vertreter in New York mit seinen Kollegen aus allen 192 Staaten. Ein UN-Botschafter muss mit über 100 Delegationen auf Du und Du sein, um eine schnelle Lobby betreiben zu können. Dann setzt er sich an seinen Schreibtisch, nimmt ein Blatt Papier und erstellt eine Liste: In die linke Spalte schreibt er die Staaten, die zugesagt haben, für Deutschland zu stimmen. Rechts notiert er die, von denen er erwartet, dass sie gegen Deutschland stimmen. Und in der Mitte listet er die Unentschiedenen auf. Diese Übersicht gibt er an das Auswärtige Amt weiter. Unsere Botschafter bitten dann bei den Regierungen in aller Welt um Unterstützung für die Wahl. Dabei gibt es eine Faustregel: Bei einer geheimen Abstimmung brauchen sie 20 Prozent mehr Zusagen, als Stimmen nötig sind.

Wie lange dauert dieser Prozess?
Das beginnt etwa zwei Jahre vor der Wahl und wiederholt sich zwei bis drei Mal. Wenn Sie 145 Zusagen haben, können Sie beruhigt in die Wahl gehen. Dabei versprechen wir den Staaten allerdings nichts, außer sie bei einer anderen Abstimmung zu unterstützen. Bestechungsgelder, wie es bei anderen Staaten manchmal vermutet wird, sind für Deutschland keine akzeptablen Mittel der Diplomatie. Unlautere Methoden, wie politischen Druck, gibt es bei Deutschland nicht.

Haben Sie mitbekommen, dass so etwas passiert?
Natürlich passiert das. Aber der Kern jeglicher Interessenvertretung bei multilateralen Konferenzen ist, Vertrauen zu schaffen. Als Diplomat muss ich mich auf das Wort des Gegenübers verlassen können. Wenn ich mich für einen kurzfristigen Vorteil unlauterer Mittel bediene, habe ich langfristige Nachteile, die ungleich schwerer wiegen. In meinen 38 Jahren im diplomatischen Dienst habe ich keinen meiner ausländischen Kollegen belogen. Nicht, weil ich ein so guter Mensch bin, sondern weil das die beste Taktik ist.

Es gibt seit vielen Jahren Diskussionen um einen ständigen Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat. Wie stehen die Chancen?
Wir haben zwei Mal die Chance gehabt. 1998 hatte die sogenannte G-5, bestehend aus den USA, Japan, Großbritannien, Frankreich und Deutschland, eine fertige Resolution erarbeitet. Die bestand aus zwei Teilen: Wir wollten die Zusammensetzung des Sicherheitsrats verändern, darüber hinaus seine Arbeitsmethoden verbessern. Letzteres ist notwendig, um die Arbeit des Sicherheitsrats den Erfordernissen von Rechtsstaatlichkeit und Transparenz anzupassen.

Woran ist die Resolution gescheitert?
Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl hat den Amerikanern erklärt, er wolle nicht in den Sicherheitsrat. Das war das Ende des Prozesses. 2005 hatten wir als „G-4“ gemeinsam mit Japan, Brasilien und Indien erneut eine fertige Resolution vorbereitet. Wir hatten drei Mal weltweit demarchiert. Das heißt, wir haben in allen Ländern um Unterstützung für unsere Resolution geworben und hatten etwa 150 Zusagen. Japan hat die Abstimmung unter großem Druck der USA verhindert. Jetzt ist die Gelegenheit nicht besonders günstig.

Sie haben die „G-4“ angesprochen. Ist die Legitimitätskrise des Sicherheitsrats ohne afrikanische Beteiligung zu lösen?
Nein, aber das war auch nie vorgesehen. Bei einer Reform muss die Uno die Legitimität und die Handlungsfähigkeit des Sicherheitsrats erhöhen. Je mehr ein Gremium die politische Wirklichkeit reflektiert, desto größer ist seine Legitimität. Und das ist gegenwärtig überhaupt nicht der Fall.

Wie kann die Uno die Handlungsfähigkeit des Sicherheitsrats erhöhen?
Damit die Uno effizient arbeiten kann, müssen die großen Spieler im Sicherheitsrat vertreten sein. Wenn der Sicherheitsrat eine Mission beschließt, hat der Generalsekretär keinen Dollar und keinen Soldaten. Bis er eine Truppe zusammengestellt hat, vergehen sechs bis neun Monate. In der Zeit sterben in einem Krisengebiet viele Menschen. Um schneller handlungsfähig zu sein, muss die UN die Staaten in die Entscheidungen des Sicherheitsrats einbeziehen, die Ressourcen haben und bereit sind, sie auszugeben.

Was könnte der Rat tun, um die Öffentlichkeit wieder für seine Arbeit zu begeistern?
Er kann grundsätzliche Regeln einhalten. Das Mindeste wäre, dass der betroffene Staat oder Personenkreis angehört wird, wenn der Sicherheitsrat über ihn berät. Bislang machen das die Mitglieder in informellen Konsultationen hinter verschlossenen Türen unter sich aus. Eine andere Maßnahme wäre, die Anwendung des Vetos aufzuweichen. Wenn die ständigen Mitglieder ein Veto begründen müssten, entweder öffentlich vor dem Sicherheitsrat oder vor der Generalversammlung, würde sich ihr Verhalten ändern.

Ende November berichtete die Enthüllungsplattform Wikileaks, dass die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton Mitarbeiter angewiesen hat, Diplomaten auszuspähen und persönliche Daten nach Washington weiterzugeben. Ist das Alltag in der Uno?
Jeder weiß, dass alles, was er in der Uno sagt, öffentlich ist. Das hat den Vorteil, dass Sie nicht alles hundert Mal erklären müssen. Es ist sowieso bekannt.

Das hat Sie nicht überrascht?
Nein, wir wussten in New York alle, dass wir abgehört werden. Das geht heute ganz einfach über die Fensterscheiben. Und wer das nicht will, muss in einen sicheren Raum gehen, der – wie bei einem Faradayschen Käfig – durch ein elektrisches Magnetfeld abgesichert ist und aus dem nichts herausdringt.

Gibt es einen Moment, der Ihnen aus Ihrer Zeit bei der Uno am stärksten in Erinnerung geblieben ist?
Das war die Sitzung des Sicherheitsrats am 5. Februar 2003, als Colin Powell die Begründung für den Irak-Krieg vortrug. Jeder im Saal wusste, dass alles, was da vorgetragen wurde, nicht stimmte. Das Gespenstische war, dass wir erkannten, dass der Krieg längst beschlossen war. Aber diese Sitzung hat auch gezeigt, dass der Sicherheitsrat funktioniert. Er hat den Krieg nicht legitimiert.

Der damalige Außenminister Joschka Fischer hat diese Sitzung geleitet und ist von vielen Seiten für sein Krisenmanagement gelobt worden. Was halten Sie vom aktuellen Außenminister Guido Westerwelle?
Es steht mir nicht zu, Herrn Westerwelle zu beurteilen. Aber in der deutschen Außenpolitik herrscht bis auf wenige Ausnahmen ein gewisser Grundkonsens und damit weitgehende Kontinuität. Deutschland ist keine Weltmacht, hat aber globales Interesse an Frieden und Stabilität. Wenn wir uns an UN-Friedensmissionen beteiligen, tun wir das nicht aus nationalem Interesse, sondern im Interesse aller. Dass davon unser Handel profitiert, ist eine willkommene und legitime Wirkung. Der frühere Bundespräsident Horst Köhler hat das in seinem umstrittenen Interview im Mai vergangenen Jahres unglücklich ausgedrückt; aber was er gesagt hat, war richtig.

Zu erfolgreicher Außenpolitik gehört auch Leidenschaft für Details. Fehlen derzeit deutsche Initiativen auf globaler Ebene?
Deutschland betreibt eine Zwei-Stufen-Diplomatie. Wenn wir eine Initiative haben, versuchen wir zunächst eine europäische Position zu finden, die dann von der EU-Präsidentschaft vertreten wird. Deswegen entsteht manchmal der Eindruck, Deutschland sei nicht aktiv. In Wirklichkeit aber stärkt eine gemeinsame europäische Position die deutsche Außenpolitik. Diese wird ja auch von weltweiten Entwicklungen beeinflusst. Joschka Fischer hatte als Außenminister beispielsweise eine Krise nach der anderen zu bewältigen: 1999 brach der Kosovo-Krieg aus. 2001 war die Welt nach den Terroranschlägen vom 11. September in Aufruhr. Wenig später kamen der Afghanistan-Einsatz und der Irak-Krieg hinzu. Solche Krisen fordern den Außenminister und fördern – bei guten Entscheidungen – auch sein Ansehen.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe 7 Wahlen – wer gewinnt, wer verliert.. Das Heft können Sie hier bestellen.