Der kleine Polit-Knigge

Das dunkelblaue Sakko, an dem die goldenen Knöpfe funkeln, sitzt perfekt. Dazu passend die korrekt gebundene Krawatte: Als Lobbyist alter Garde empfängt Hermann Lehning seine Gäste in seinem lichtdurchfluteten Haus am Schlachtensee auch im Ruhestand in absolut korrekter Form. Gern erzählt er von den Jahrzehnten seiner Tätigkeit in Berlin und früher in Bonn. Doch anders als Lehnings Auftreten es nahelegt, lief der Austausch rund um Bundestag und Kanzleramt nicht immer nur förmlich ab: „In Bonn herrschte noch die rheinische Gemütlichkeit, man schlug sich die Nächte um die Ohren – und teilweise ging es sehr informell zu“, sagt er. „Jeder kannte jeden, Informationen blieben nicht lange geheim. In Berlin ist das anders, schon wegen der Größe der Stadt, da herrscht eher preußische Distanz.“ Waren in Bonn vor allem Verbands-Lobbyisten tätig, sind in Berlin ungleich mehr Unternehmen durch eigene Repräsentanten vertreten. Viel mehr Themenfelder müssten bearbeitet werden, und das habe zu einer stärkeren Professionalisierung und Effizienz geführt, sagt Lehning. Denn im Konzert all der Interessenvertreter, die um die Aufmerksamkeit der Politik buhlen, komme es darauf an, Abgeordneten und Beamten nicht die knapp bemessene Zeit zu stehlen. Heinrich Doppler, Leiter der Hauptstadtrepräsentanz des Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI) bestätigt diese ungeschriebene Regel des politischen Knigge: „Was zählt, ist die zeiteffiziente Informationsvermittlung“.
Ein Interessenvertreter fällt angenehm auf, wenn er sich kurz fasst und seine Themen auf den Punkt bringt. Eine der wichtigsten Verhaltensregeln für Lobbyisten ist daher, über alle Belange seines Gesprächspartners informiert zu sein. Dazu gehört als erstes natürlich das Wissen über Rang und Position des Gegenübers. Davon leiten sich schließlich Handlungsspielraum und Einflussmöglichkeiten ab. „Eines meiner wichtigsten Werkzeuge war stets das Bundestagshandbuch“, erinnert sich Hermann Lehning, „selbst, wenn man dann einen Parlamentarier zum ersten Mal traf, konnte man ihn schnell einordnen“. Ist ein Parlamentarier etwa Berichterstatter seiner Fraktion, müssen die zur Verfügung gestellten Informationen entsprechend detaillierter sein. Gerade gegenüber einem Parlamentarier ist es eine Frage der Höflichkeit, dessen genauen Standpunkt zum Thema zu kennen und zu wissen, was er zuletzt dazu gesagt hat. Die Parlamentsprotokolle dienen als Informationsquelle.
Doch auch die Abgeordneten-Mitarbeiter und Mitarbeiter in Ministerien müssen ihre Zeit effizient nutzen. Daher ist es nicht nur eine Frage des guten Tons, die direkte Umgebung des Abgeordneten oder die Beamten über das Thema eines geplanten Gesprächs zu informieren. Es bringt gleich mehrere Vorteile: Die Mitarbeiter sind gerne auf Fragen vorbereitet, die ihr Chef ihnen stellen könnte. Gezielte Informationen zum Thema erleichtern den Mitarbeitern die Arbeit und geben ihnen die Möglichkeit, sich und damit letztlich auch ihren Chef vorzubereiten.
 „Ideal wäre es, sich den Umgang mit Asiaten zum Vorbild zu nehmen. Dort geht es immer darum, das Gegenüber vor dem Gesichtsverlust zu bewahren. Das bedeutet, niemanden in die Verlegenheit zu bringen, dass er keine angemessene Antwort parat hat“, rät Heinrich Doppler. Konkret bedeutet das, jedes Gespräch mit Ministern, Abgeordneten oder Beamten über deren persönlichen Referenten oder das Sekretariat mit detaillierten Informationen zum Inhalt anzukündigen. Der gleiche Höflichkeitsgedanke liegt dem „Sprechzettel“ zu Grunde, den man dem Gesprächspartner zum Abschluss übereicht. Wer auf maximal einer Seite alles Relevante zum Thema zusammenfasst, erleichtert die Nachbereitung und sorgt nebenbei dafür, dass nichts vergessen wird.

Geschenke machen?

Wer als Gast ein Haus betritt, ist meist gut beraten, ein Geschenk mitzubringen. Das gilt im Privaten, und auch Staatsgäste halten sich an diese Regel – doch sind größere Geschenke im Umgang mit Amtsträgern und Abgeordneten ansonsten verpönt, erzeugen sie doch den Anschein, der Schenker erwarte eine Gegenleistung. Spätestens seit im Jahr 2005 der Energieversorger Enbw Politiker mit WM-Karten zu beglücken versuchte, sind alle Beteiligten für die Brisanz von Geschenken an Politiker sensibilisiert. Den meisten Unternehmern ist inzwischen klar, dass es hierbei auch um Respekt geht: Wer seinen Ansprechpartner respektiert, bringt ihn nicht in die Verlegenheit, ein Geschenk ablehnen zu müssen. „Wir machen keine Geschenke, nicht einmal zu Weihnachten, schließlich möchten wir unsere Ansprechpartner nicht in eine unangenehme Situation bringen“, erläutert Heinrich Doppler die Haltung des ZVEI.
Bei Ministerialbeamten ist die Annahme von Geschenken ohnehin streng reglementiert. Lediglich bis zu einem Wert von 25 Euro dürfen überhaupt Präsente angenommen werden. Diese müssen jedoch von der Verwaltung genehmigt und quittiert werden. Selbst Einladungen zu Mittagessen zählen als Geschenk. Viele Mitarbeiter in den Ministerien lehnen diese pauschal ab und laden stattdessen zum Kaffee ins eigene Büro.
Und dennoch: Auch ohne Geschenke zeugt es von guten Umgangsformen, die Geburtstage derer zu kennen, mit denen man zu tun hat. „Auch wenn jemand niedriger in der Hierarchie steht, ist er ernst zu nehmen“, sagt Hermann Lehning. „Der Vorzimmerdame zum Geburtstag zu gratulieren ist sogar wichtiger, als dem Abgeordneten selbst“. Denn die gute Beziehung zu den Mitarbeitern kann helfen, noch die ein oder andere Lücke im Terminkalender des Gesprächspartners zu finden.

Auf Reisen

Mehr Etikette kommt ins Spiel, wenn ein Unternehmensvertreter mit einer Ministerdelegation ins Ausland reisen darf. Stolpersteine gibt es dabei viele, doch helfen die Protokollabteilungen der Ministerien und deren persönliche Referenten über die meisten Schwierigkeiten hinweg. Auf Nachfrage gibt es nicht nur die Reisedetails, sondern auch Informationen zu den besonderen Gepflogenheiten des Ministers. „Es ist eine Frage der Höflichkeit, sich an diese anzupassen“, sagt der ehemalige Protokollchef der Bundesregierung, Alexander Freiherr von Fircks. Während mancher einen eher lockeren Stil pflegt, wo Jacketts und Krawatten schon mal abgelegt werden können, wünschen andere konventionelleres Verhalten. „Pünktlichkeit ist in einer solchen Delegation oberstes Gebot“, so Heinrich Doppler. Der Zeitplan solcher Reisen wird mit den Protokollabteilungen der beteiligten Länder fein austariert. „Selbst kleine Verzögerungen bringen die ganze Maschinerie im Hintergrund ins Rotieren“, erinnert sich Horst Arnold, der 27 Jahre lang Protokollchef im Bundespräsidialamt war. Selbst mit Tipps zu den passenden Geschenken für die Gastgeber am Reiseziel wartet die Protokollabteilung gerne auf. Wer auf einer solchen Reise dabei ist, hat schon im Vorfeld seine Interessenschwerpunkte in Fragebögen mitgeteilt.
Dennoch gilt auch auf der Delegationsreise für inhaltliche Gespräche zu geschäftsmäßigen Themen: Sie sollten möglichst frühzeitig über den persönlichen Referenten oder die Sekretariate angebahnt werden.

Respekt

Doch auch wer die äußeren Regeln perfekt beherrscht, muss wissen: Für den Umgang mit Menschen im politischen Berlin gilt dieselbe Regel wie immer und überall im Umgang mit Menschen: Respekt ist der wichtigste Faktor. „Vom Respekt vor dem Gesprächspartner leiten sich alle anderen Umgangsregeln ab“, sagt Heinrich Doppler. „Wer seinen Mitmenschen respektiert, nimmt automatisch Rücksicht, ist offen und ehrlich mit ihm“. Und auch Loni Lüke, Personal-Coach und Geschäftsführerin der Kommunikationsagentur Berlin Relations, sagt: „Ich würde jedem, der neu auf dem Berliner Parkett ist, zunächst empfehlen, einen ganz normalen Benimm-Ratgeber zu lesen.“

Keine starren Regeln

Es gehe vor allem darum, die Grundregeln des Benimms zu kennen – um dann zu wissen, was man tut, wenn man sie bricht. Denn schon dem Urahn aller Benimm-Ratgeber, Adolph Freiherr von Knigge, ging es nicht etwa um starre Regeln. Im Vorwort von Knigges zentralem Werk „Über den Umgang mit Menschen“ aus dem Jahr 1788 schreibt der Freiherr über „Umgangsregeln“: Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß „Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik“ sein sollen, komme es auf „Moral und Weltklugheit“ an. Nachhaltige und belastbare Beziehungen sind das, was die Akteure im politischen Berlin brauchen, um ihren grundverschiedenen Aufgaben nachgehen zu können. Hermann Lehning: „Ein Abgeordneter muss einen Lobbyisten nicht empfangen, daher ist es für den Lobbyisten besonders wichtig, dass er  ihm sympathisch ist.“

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Nerven Sie nicht! – Der Knigge für den politischen Alltag. Das Heft können Sie hier bestellen.