Das neue Buch des Nudging-Erfinders

Rezension

Die Ökonomie, die einstige “Königin der Sozialwissenschaften”, ist in Verruf geraten. Denn ihre Vertreter sahen die Finanzkrise, die die Weltwirtschaft an den Abgrund brachte, nicht vorher und warben in den Vorkrisenjahren sogar vehement für die Liberalisierung des Finanzsystems, die direkt in die Krise führte. Ist die Volkswirtschaftslehre hoffnungslos gescheitert?

Richard Thaler gibt uns in seinem neuen Buch “Misbehaving” Grund zur Hoffnung, dass die Ökonomie lernfähig ist. Als einer ihrer bekanntesten Vertreter schildert er den Weg vom Studenten der Main­stream-Ökonomie zum Mitbegründer der Verhaltens­ökonomie. Diese versucht, das Verhalten “echter Menschen” abzubilden statt unrealistische Modelle zu verfeinern. Die Erkenntnisse, die sich daraus gewinnen lassen, sind relevant für eine Vielzahl von Politikfeldern, ganz besonders für die Finanzpolitik und den Verbraucherschutz. Denn anders als der “homo oeconomicus” schlagen wir zu, wenn  man uns mit Rabattaktionen lockt und sparen wider besseres Wissen nicht genug für die Altersvorsorge an, weil die Zukunft so fern scheint.

Mit der Finanzkrise von 2007/2008 kam weltweit zum Vorschein, was Kritiker, welche die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie auf Finanzmärkte anwenden, schon jahrelang angemahnt hatten: Echte Menschen neigen zu Übertreibungen, sind alles andere als rational und Märkte damit weder effizient noch stabil. Aus diesem realistischen Bild von Menschen und Märkten erwächst besondere Verantwortung für die Politik.

Müssen Menschen nur zu ihrem Glück “genudgt” werden?

Um dem gerecht zu werden, entwickelte Richard Thaler gemeinsam mit Cass Sunstein das Konzept des “Nudging”. Statt Vorschriften und Verbote zu erlassen, sollten Verbraucher zum “richtigen” Verhalten angeleitet, also “genudgt” (dt.: gestupst) werden. Unter dem Schlagwort “liberaler Paternalismus” soll der Staat dem Menschen helfen, trotz seiner Schwächen vernünftig zu handeln. Sei es, dass der Salat in der Kantine prominenter präsentiert wird als die Currywurst; sei es, dass die Riester-Rente bei neuen Arbeitsverträgen standardmäßig abgeschlossen wird.

Doch offen bleibt: Was ist das richtige Verhalten? Und wer bestimmt das? Weiß der Staat wirklich besser, was gut für den Einzelnen ist? Ebenso problematisch ist die Neigung, dem Einzelnen die alleinige Verantwortung für sein Glück zuzuschreiben. Denn ist ein Mensch, der zu wenig verdient, um ordentlich vorzusorgen, wirklich schuld daran? Oder liegt die Verantwortung nicht auch bei Politik und Wirtschaft, die bis dato kein tragfähiges gesetzliches Rentensys­tem geschaffen haben?

Thalers Werk lässt hoffen, dass die Ökonomie lernfähig und die Politik dazu in der Lage ist, die gewonnenen Erkenntnisse richtig anzuwenden. Dann kann das Leben vieler Menschen verbessert werden. Doch wir sollten vorsichtig sein, dass auf die Hybris der Mainstream-Ökonomen nicht der Irrglaube folgt, Menschen müssten nur zu ihrem Glück “genudgt” werden.

Richard H. Tahler: Misbehaving. The Making of Behavioral Economic, Norton & Company, New York City 2015, 415 Seiten, 27,99 Euro.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe politik&kommunikation III/2015 Geld. Das Heft können Sie hier bestellen.