Das gefährliche Mantra der Alternativlosigkeit

Seit Angela Merkel das Mantra der Alternativlosigkeit als eine rhetorische Allzweckwaffe nutzte, diskutieren wir in Deutschland über die sogenannte TINA-Rhetorik. TINA steht als Abkürzung für Margaret Thatchers berühmten Slogan “There is no alternative”. Die Bundeskanzlerin und ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble nannten zahlreiche Entscheidungen, vor allem die Krisenmaßnahmen für Griechenland, alternativlos. Die Gesellschaft für deutsche Sprache erkor das Wort gar zum “Unwort des Jahres 2010”. Doch auch außerhalb deutscher Politik hören wir immer wieder diesen Slogan. Ob Europapolitiker wie Olli Rehn, IWF-Chefin Christine Lagarde oder andere europäische Premierminister – allesamt kommunizieren sie unliebsame Entscheidungen als “alternativlos”.

Mittlerweile erkennen wir die Wirkung dieses politischen Diskurses auf die Gesellschaft. Bürger gewinnen entweder den Eindruck, “die da oben” könnten nichts mehr ausrichten, Wählen lohne sich also nicht. Oder sie suchen sich Alternativen fernab der etablierten Parteien. TINA ist in den Augen vieler ein Sinnbild für ein kompromittiertes, elitäres System, das sich zwar Demokratie nennt, aber längst den “wahren Volkswillen” verkennt – der Aufschwung rechtspopulistischer Parteien in Europa ist ein klares Krisensymptom.

Die einzig richtige Politik gibt es nicht

Warum gebrauchen also politische Akteure diesen Slogan? Eine historisch einordnende, systematische Analyse zeigt, dass die Rede von Alternativlosigkeit nicht immer auf dem gleichen Politikverständnis oder der gleichen Kommunikationsstrategie basiert und durchaus politisch hilfreich sein kann. Margaret Thatcher etwa nutzte TINA, weil sie davon überzeugt war, die einzig richtige, prinzipiengeleitete und moralische integre Politik zu verfolgen. Die Sozialdemokraten um Gerhard Schröder und Tony Blair versuchten so, den Wandel ihrer politischen Ziele als notwendige Anpassung an Strukturzwänge der Globalisierung glaubhaft zu machen. In der Eurokrise hingegen versuchten Politiker wie Angela Merkel die Unsicherheit und den Zeitdruck, unter denen sie Entscheidungen von großer Tragweite fällen mussten, hinter Sicherheitsbehauptungen, kategorischen Imperativen und moralischem Gestus zu verstecken. Stets ging es aber darum, sich gegen Kritik zu immunisieren – und die in der Demokratie wichtige und legitime Opposition einzugrenzen.

Die TINA-Rhetorik hat die deutsche Parteienlandschaft verändert: Die Partei Alternative für Deutschland versteht sich schon ihrem Namen nach als Gegenpol zur vorgeblichen Alternativlosigkeit und zum System. Die AfD geriert sich als “wahre Opposition” der zuvor schweigenden, übergangenen Mehrheit und beansprucht für sich, gegen politische Korrektheit, Denkverbote, Systempresse und Mainstream anzukämpfen. In ihrem Grundsatzprogramm heißt es, dass sie “als Partei des gesunden Menschenverstandes” gegen “die auf vielen Politikfeldern durch die etablierten Parteien propagierte Alternativlosigkeit vermeintlicher Sachzwänge auf das politische Urteilsvermögen und die Verantwortungsbereitschaft der mündigen Bürger” setze. Sie propagiert einen “richtigen” Weg jenseits fauler Kompromisse und reklamiert für sich “Mut zur Wahrheit”. Die repräsentativ-parlamentarische Verhandlungsdemokratie wird als volksfern bezeichnet und politischer, ökonomischer Komplexität ein angeblich sichtbarer und direkt umsetzbarer Bürgerwillen entgegengesetzt.

Aber der Verweis auf den “gesunden Menschenverstand” beruht auf dem gleichen Argumentationsmuster wie die Rede von Alternativlosigkeit: Beide karikieren die Handlungslogik parlamentarischer Aushandlungsprozesse und demokratischer Kompromissfindung. In beiden Fällen erkennen wir die Illusion einer vernünftigen, allen einsichtigen, da eindeutigen und besten Lösung.

Diskussion, Protest und Widerspruch: Merkmale des politischen Prozesses

Um Vereinfachungen der Funktionsweise liberaler Demokratie und populistischen Anfeindungen gegenüberzutreten, sollten wir uns also der Bedeutung politischer Kommunikation in einer demokratischen Öffentlichkeit bewusst werden. Wir brauchen einen Diskurs, der demokratisches Regieren in eine demokratische Kommunikation übersetzt. Denn die Rhetorik der Alternativlosigkeit ist keine genuin demokratische Sprache: Sie verzerrt unser Bild von Politik; TINA-Rhetorik gefährdet politisches Vertrauen, weil sie Diskussion, Protest und Widerspruch als potenziell irrational oder illegitim diskreditiert. Sie marginalisiert die Rolle der politischen Opposition. TINA kann zu einer Entfremdung zwischen Bürgern und Politik, ja langfristig zu Politikverdrossenheit und einer Destabilisierung unserer politischen Kultur führen.

Demokratie bedeutet politische Lösungssuche in ergebnisoffenen Verfahren. Entscheidungen können keine absolute Richtigkeit, Endgültigkeit oder Wahrheit beanspruchen. Die Fehlbarkeit, Kontingenz und Komplexität von politischen Entscheidungen sind eben Zumutungen, die wir aushalten müssen.