Dabei sein ist nicht alles!

Praxis

Vor zehn Jahren startete der Siegeszug sozialer Netzwerke. Einst als “Mitmach-Internet” gefeiert, haben die Netzwerke vor allem die mediale Überbelichtung und Selbstinszenierung von Politikern befeuert – im positiven wie im negativen Sinne eines Nackt-Selfies. 92 Prozent aller Bundestagsabgeordneten sind bei Facebook aktiv. Das ist die quantitative Seite. Qualitativ betrachtet, scheitern aber erschreckend viele Politiker und Institutionen an der digitalen Praxis. Drei Phänomene sind typisch:

Authentizitätsangst

Gelungene Social-Media-Botschaften entstehen spontan, sind selten geschliffen formuliert und enthalten mitunter Persönliches. Die daraus resultierende Authentizität macht viele politische Institutionen nervös. In der niedersächsischen Staatskanzlei und im Hamburger Senat gab es kürzlich Aufregung über einen Staatssekretär und einen Senatssprecher, die auf ihren privaten Facebook-Profilen über Müsli und Bier schrieben. Reflexartig wurden verbindliche Regeln für die Online-Kommunikation der Staatsbediensteten gefordert. Wie bitte? Was ist so schlimm an einem Müsli essenden Staatssekretär und einem biertrinkenden Pressesprecher?

Die Staatskanzlei Niedersachsen gab zur gleichen Zeit bekannt, dass die neue Social-Media-Strategie von Ministerpräsident Stephan Weil keine Zitate über seinen Lieblingsverein Hannover 96 oder Fotos aus dem Urlaub vorsehe. Warum nicht? Bilder von Spatenstichen laufen schon in den klassischen Medien rauf und runter. Wenn ein Politiker nicht selbst verantworten kann, was er im Internet veröffentlicht, wie soll er dann Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen?

Es geht nicht darum, wie Marina Weisband auf Twitter über den Verlobten zu schwärmen. Aber eine “unverfängliche Menschlichkeit”, wie es die Forscherinnen Jasmin Siri und Katharina Seßler nennen, kann Nähe zwischen Politikern und Bürgern schaffen. Wenn der Grüne Konstantin von Notz sonntagabends auf Twitter den Tatort kommentiert oder Dorothee Bär (CSU) ihre Bewunderung für Campino offenbart, werden sie jenseits der politischen Berichterstattung zu Menschen mit Hobbies und Interessen von Durchschnittsbürgern.

Die Politik vergibt eine große Chance, das niedrige öffentliche Vertrauen in ihren Berufstand zu revitalisieren, wenn Politiker nicht menscheln dürfen in sozialen Netzwerken – dort, wo so viele Leute jedes noch so unspektakuläre Detail ihres Privatlebens mitteilen.

Die PR-Falle

Im Dezember konfrontierte Günther Jauch in seiner Sendung AfD-Chef Bernd Lucke mit einem Bild von dessen Facebook-Seite. Lucke verkündete dort, dass er die Forderungen der Pegida für legitim halte. In der Sendung hatte er diese Aussage kurz zuvor noch als Unterstellung von sich gewiesen. Lucke lenkte ein: “1:0 für Sie, Herr Jauch”. Den Facebook-Beitrag habe ein Mitarbeiter geschrieben, nicht er selbst, erklärte Lucke. 2:0 gegen Lucke! Social Media hat er offenbar nicht verstanden. Zwar ist es kein Drama, wenn Politiker nicht selbst twittern oder facebooken. Zitate für die Presse segnen sie in der Regel auch nur ab. Bedenklich ist es aber, wenn Politiker keine Ahnung davon haben, was unter ihrem Namen veröffentlicht wird.

Vollkommen unglaubwürdig wird es, wenn sie ganz offensichtlich gar nicht wissen können, was sie im Netz von sich geben. Beispiel Europawahlkampf 2014, TV-Duell in Brüssel: Jean-Claude Juncker, Martin Schulz und zwei weitere der insgesamt fünf Kandidaten twitterten, während sie live im Fernsehen diskutierten, d.h. ihre Mitarbeiter übernahmen das für sie.

Sie beließen es aber nicht dabei, die Sätze ihrer Chefs in Anführungszeichen wiederzugeben, sondern reagierten auch munter auf Tweets anderer Nutzer – ohne an irgendeiner Stelle darauf hinzuweisen, dass das Team am Werke war. Der Gipfel des PR-Missbrauchs ist dann erreicht, wenn Profile nach dem Wahltag abrupt nicht mehr genutzt werden, wie etwa der Twitter-Account von Peer Steinbrück.

Dialogverweigerung

Politiker nutzen das Internet gerne als kommunikative Einbahnstraße. Sie schicken ihre Botschaften raus, reagieren aber nicht auf die vielen und oftmals auch berechtigten Fragen und Erwiderungen. Sahra Wagenknecht (Linke) ist ein Paradebeispiel dafür: Wagenknecht hat von den 631 Bundestagsabgeordneten die fünfgrößte Anzahl von Freunden und Followern, nämlich knapp 90.000. Auf die vielen Antworten, die sie täglich erhält, reagiert sie nie.

Es ist im Grunde so, als würde sich Wagenknecht bei einer öffentlichen Podiumsdiskussion nach ihrem Redebeitrag Kopfhörer aufsetzen und die Rückfragen der Zuhörer ignorieren. Während ihr mehr als 56.000 Menschen auf Twitter folgen, interessiert sie sich für ganze 59 Nutzer – vornehmlich Medien und Parteikollegen aus der Berliner Politikblase. Dialog mit Bürgern geht anders.

Bei aller Kritik ist aber klar, dass Politiker nicht dafür gewählt sind, das Volk auf Facebook oder Twitter zu vertreten. Die öffentliche Kommunikation über ihre Arbeit ist ein sehr wichtiges Element einer funktionierenden Demokratie, aber auch nicht alles. Dennoch zeigt sich, dass die Möglichkeiten der sozialen Netzwerke oft unzureichend genutzt werden. Dass eine Verbesserung für unsere Demokratie wünschenswert wäre, zeigen Forschungsergebnisse aus Münster: Virtuelle Nähe zu Politikern wirkt sich signifikant  positiv auf das Vertrauen in die Politik aus. Besonders stark ist der Effekt bei politisch wenig interessierten Menschen.

Was können Politiker besser machen? Online-Profile sollten zuallererst nicht zum verlängerten Arm der Pressestelle werden. Interessant ist das, was nicht sowieso schon in den Medien läuft. Das können subjektive Einblicke in politische Prozesse, menschliche Themen, aber auch spontane und zugespitzte Kommentare zur Tagesdebatte sein. Im US-Wahlkampf 2012 wurden die Tweets von Mitt Romney vor der Veröffentlichung von 22 Mitarbeitern abgesegnet.

Deutlicher kann man sich der Logik des Momentums sozialer Netzwerke nicht widersetzen. Zugespitzte Tweets werden immer öfter selbst zur Nachricht: Der französische Linken-Chef Jean-Luc Mélenchon pöbelte im Dezember mit dem Tweet “Maul zu, #Merkel” gegen die Kanzlerin, die am selben Tag in einem Interview Frankreich zu mehr Reformanstrengungen aufgefordert hatte. Das war unhöflich von Mélenchon. Aber es war frei von der Leber weg und traf den Nerv vieler Franzosen weit über das linke Lager hinaus.

Ein effektives Mittel sind audiovisuelle Inhalte. Lars Castellucci (SPD) widerlegte mit fünf Fakten aus dem Migrationsbericht den Pegida-Propagandaspruch, Deutschland werde “überrannt und ausgenommen”. Das grafisch einfach gestaltete Bild erreichte mehr als zwei Millionen Menschen auf Facebook, obwohl Castellucci selbst nur knapp 2.000 Fans hat. Bildinhalte bieten auch Raum für Humor und Emotionen. Grünen-Chef Cem Özdemir landete einen Twitter-Coup, als er inmitten der hitzigen Pegida-Debatte ein altes Familienbild veröffentlichte, auf dem seine “fundamentalistischen Eltern” vor dem Christbaum sitzen. Das Bild wurde 1.368 Mal retweetet – ein Wert, der den Dimensionen von Barack Obamas hoch professionalisierter Online-Kommunikation entspricht.

Wichtigster Faktor für eine gelungene Aktivität in sozialen Netzwerken bleibt die Bereitschaft zum Dialog. Das ist nicht für jeden einzelnen Kommentar zu leisten, Politiker sollten sich aber bemühen, ernste Fragen zu beantworten. So machen sie es auch bei postalischen Anfragen. Mit spezifischen Dialogangeboten können sie Zeit sparen: Frank Steffel (CDU) lädt beispielsweise schon seit 2010 einmal im Monat zur Skype-Bürgersprechstunde ein.

Das Internet bietet die Infrastruktur, um das kommunikative Dilemma der Demokratie zu überbrücken. Um die Technik in den Dienst der Demokratie zu stellen, ist der olympische Ansatz “Dabei sein ist alles!” aber zu wenig.