Camerons Drahtseilakt

International

Großbritannien hat gewählt. Und während die Wahlnacht entgegen allen Vorhersagen den Konservativen von Premierminister David Cameron eine absolute Mehrheit bescherte, kostete sie zwei Parteivorsitzende das Amt. Am Morgen nach der Wahl traten Ed Miliband (Labour) und Nick Clegg (Liberale) von ihren Ämtern zurück. David Cameron hat nun die Aufgabe, zwischen den Europhilen und den Euroskeptikern ein verlässliches Regierungsprogramm auf die Beine zu stellen.

Aus dem prophezeiten Kopf-an-Kopf-Rennen wurde ein Fiasko für die Labour Party. Dabei wiegen insbesondere die Verluste in Schottland schwer. In einer ihrer Herzkammern verloren die Sozialdemokraten nicht nur 40 ihrer 41 Mandate, sondern mit Douglas Alexander, ehemaliger Schattenminister für Außenpolitik und Wahlkampfmanager der Labour Party, und Ed Balls, ehemaliger Schattenminister für Finanzen, zwei Schwergewichte aus der ersten Führungsriege. Das soziopolitisch traditionell linke Schottland war bisher ein wichtiger Talentpool für Labour. So kamen beispielsweise mit John Smith, Tony Blair und Gordon Brown drei der letzten vier Parteivorsitzenden aus Schottland.

In ehemals todsicher geglaubten Wahlkreisen der Labour Party wanderten teilweise mehr als 30 Prozent zu den schottischen Nationalisten der Scottish National Party ab. Der Labour Party steht somit nicht nur die Suche nach einem neuen Parteivorsitzenden bevor, sondern auch die Revitalisierung ihrer schottischen Parteiorganisation.

Naturgemäß treten nach Wahlen Risse und Unstimmigkeiten ans Licht. So kritisierten zahlreiche Vertreter der New Labour Ära den scheidenden Parteivorsitzenden Ed Miliband scharf für dessen Linksschwenk. Wahlen müssen in der Mitte gewonnen werden, so Peter Mandelson, Tony Blair und Alan Johnson unisono.

Die Partei steht in den kommenden Monaten vor einem quälenden Neuanfang, an dem führende Köpfe wie Balls und Alexander nur vom Spielfeldrand aus zuschauen können. Die Parteipolitik findet im Parlament statt, anders als in Deutschland haben überregionale Parteigremien geringe Bedeutung. Kein Mandat, keine Mitsprache.

Liberale in der Diaspora

Noch schlimmer als befürchtet und heftiger als die Sozialdemokraten traf es die Liberalen. Die einstige Protestpartei hatte nach den Wahlen 2010 Verantwortung gezeigt und trat mit den Konservativen in die erste Koalitionsregierung der Nachkriegszeit ein. Dafür straften die Wähler sie reihenweise ab. Gerade einmal acht von 57 Abgeordneten haben es ins neue Parlament geschafft, darunter der bisherige Parteivorsitzende und Vizepremierminister Nick Clegg vom konservativen Parteiflügel, der frustriert das Handtuch warf.

Denkbarer Nachfolger ist der an der Basis sehr beliebte ehemalige Parteipräsident Tim Farron. Dem Linksliberalen obliegt die schwierige Aufgabe, seine Partei wieder aufzurichten. Eine deutliche Kurskorrektur nach links ist zu erwarten. Erste Signale des Aufbruchs zeigten sich drei Tage nach der Wahl, als Präsidentin Sal Brinton 5.000 Neumitglieder begrüßte. Eine ähnliche Erfahrung hatte auch die FDP nach ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag gemacht. Aber das Beispiel FDP zeigt auch, dass der Weg zurück zu alter Stärke dennoch langwierig ist.  

Frust über das Mehrheitswahlrecht

Die Funktion der Protestpartei wird mittlerweile von den Grünen und der UK Independence Party (UKIP) ausgefüllt. Die Parteien am linken und rechten Rand der britischen Parteienlandschaft eint tiefer Frust über das Mehrheitswahlrecht. Die rund vier Millionen Stimmen, die UKIP auf sich vereinen konnte, materialisierten sich in einem Sitz im Unterhaus. Genauso viele Sitze haben die Grünen, die diesmal über eine Million Stimmen auf sich vereinen konnten. Zum Vergleich: Die 1,45 Millionen Stimmen für die schottischen Nationalisten bedeuten immerhin 56 Mandate im Unterhaus. Ein Schrei nach einer Reform des Wahlsystems wird an den Rändern der britischen Politik lauter werden.

Ob Premierminister David Cameron sich dieses Themas annehmen wird, darf zumindest bezweifelt werden. Immerhin schafften es seine Tories, mit 36,9 Prozent der Stimmen eine absolute Mehrheit der Mandate zu erzielen. Obgleich eindeutiger Wahlsieger, hat er derzeit ganz andere Probleme. Während das von ihm ins Spiel gebrachte Referendum über einen Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union im Wahlkampf als Thema nicht existent war, haben es einige Abgeordnete der Konservativen nur Stunden nach der Wahl sofort wieder auf die Tagesordnung gesetzt.

Entsprechend wird die Zusammenstellung seiner Regierungsmannschaft mit Argusaugen verfolgt. Anders als in Deutschland spielt der Regionalproporz eine nachgelagerte Rolle. Es zählt vielmehr Lagerdenken zwischen den gemäßigten Pro-Europäern und den konservativen Europaskeptikern. In den vier Schlüsselressorts steht mit Finanzminister George Osborne einer der größeren Pro-Europäer dem europaskeptischen Außenminister Phil Hammond gegenüber. Spannend werden die Ernennungen in der zweiten und dritten Regierungsebene, die in den kommenden Tagen anstehen.

Die denkbar knappe Mehrheit von zwölf Stimmen lässt Erinnerungen an Premierminister John Major wachwerden. Er regierte zwischen 1992 und 1997 mit einem ähnlich knappen Vorsprung, der durch zahlreiche Verluste bei Nachwahlen zum Unterhaus kontinuierlich sank und den er nur mit Ach und Krach ins Ziel rettete. Insbesondere Europakritiker unter den Konservativen hatten ihm damals stark zugesetzt und regelmäßig die Gefolgschaft versagt. Diese Erinnerung vor Augen, bündeln die Pro-Europäer derzeit ihre Kräfte unter dem Dach der British Influence Group, einer überparteilichen Initiative, in der beispielsweise der enge Vertraute von Tony Blair, Peter Mandelson, und der größte Pro-Europäer der Konservativen, Kenneth Clarke, eine Schlüsselrolle spielen.

Cameron steht ein Drahtseilakt bevor. Insbesondere die Einpeitscher der Fraktion, die sogenannten “Whips” um den Parlamentarischen Geschäftsführer Mark Harper werden ganze Arbeit leisten müssen. Dabei weiß Cameron, dass er wohl auf die acht Mandate der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) zählen kann, sollten ihm gleich mehrere Abgeordnete die Gefolgschaft verweigern. Die nordirischen Unionisten hatten sich bereits während des Wahlkampfs als möglicher Koalitionspartner angeboten. Der eindeutige Wahlausgang zugunsten der Konservativen hat die britische Europapolitik nicht unbedingt verlässlicher, wohl aber die europäische Politik spannender gemacht.