Bloß nichts verraten

Gibt es noch Fragen?“ Thomas Wittke schaut in die Runde der Journalisten vor ihm. Die Minis­teriumssprecher links und rechts neben Wittke blättern in Unterlagen oder blicken gelangweilt in den Saal. Einige in der zweiten Reihe spielen mit ihren Handys. Die Journalisten schweigen. Nein, eine Frage hat offensichtlich keiner mehr. Nach einer halben Stunde erklärt Wittke die Pressekonferenz für beendet.
Thomas Wittke ist Leiter des Hauptstadtbüros vom „Bonner Generalanzeiger“ und Vorstand der Bundespressekonferenz, kurz BPK. Als solcher moderiert er regelmäßig die dreimal wöchentlich stattfindenden Regierungspressekonferenzen. Zu den Plauderstündchen laden ­die 925 bei dem Verein registrierten Journalisten die Bundesregierung selbst ins Haus der Bundespressekonferenz ein. Die Journalisten bestimmen den Ablauf und die Spielregeln der Sitzungen. Die Sprecher der Ministerien dürfen erst dann gehen, wenn die letzte kritische Frage gestellt ist. Ein weltweit einmaliges Privileg für Politikkorrespondenten.
Soweit die Theorie. In der Praxis zeigen sich sowohl die Journalisten als auch die Sprecher zunehmend unzufrieden mit dem Ritual. „Früher war die Bundespressekonferenz einmal die Mutter der politischen Informations-Austauschbörsen. Heute ist sie allenfalls noch die Urgroßmutter“, sagt Dieter Wonka, Leiter des Berliner Büros der „Leipziger Volkszeitung“. Die wirklich wichtigen Informationen würden mittlerweile woanders gehandelt.

Knute des Wettbewerbs

Für Klaus Vater, Sprecher im Bundesgesundheitsministerium, hat die BPK einen „zwiespältigen Charakter“. Einerseits sei sie „ein Stück Zivilisation unserer Medienkultur“. Andererseits habe ihre Bedeutung massiv abgenommen: „Weil die Journalisten heute sehr viel stärker unter der Knute des Wettbewerbs stehen und Exklusivität alles bedeutet, melden sie sich im öffentlichen Raum nicht mehr so zu Wort wie früher.“ So verkomme die BPK zur langweiligen Pflichtübung.
Auch auf Seiten der Journalisten herrscht Frust. Die Pressesprecher und Politiker, so ihr Vorwurf, geben nur noch Floskeln von sich. Oft bleibe den Korrespondenten lediglich, herauszufinden, ob die Politik zu einem Thema überhaupt etwas sagen will oder komplett zumacht. Vielen Journalisten ist das zu wenig, so dass sie gar nicht mehr erscheinen. „Die Zahl unserer Stammgäste ist ausgesprochen übersichtlich“, sagt Wittke. Meist verirren sich nur 20 bis 30 Kollegen zu den Regierungspressekonferenzen in den riesigen Saal der BPK.
Vor jeder Pressekonferenz finden in den Kommunikationsabteilungen der Ministerien genaue Briefings statt. Vater telefoniert schon vor acht Uhr mit Ulla Schmidt und spricht mit ihr mögliche Themen ab. Um halb neun folgt eine Konferenz mit den Kollegen von der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, dem Besucherdienst und den Redenschreibern. Danach heißt es für Vaters Leute: Keine Telefonate mehr und 90 Minuten auf die BPK vorbereiten. Die Pressesprecher erstellen „Wordings“, vorgefertigte Antwortformulierungen. Am Ende hat jeder eine Mappe voller Zettel, auf denen steht, was sie aktiv kommunizieren wollen, was nur auf Nachfrage – und was überhaupt nicht.
Mit piepsiger Stimme vom Zettel abgelesene, windelweiche Antworten sind nicht das, was die Journalisten hören wollen. Manche Sprecher schaffen es immerhin, kleine Showelemente einzubauen. Regierungssprecher Thomas Steg etwa sorgt dank seiner rhetorischen Fähigkeiten des öfteren für Unterhaltung. „Der ficht mit dem Florett“, lobt Vater. Er selbst habe es sich hingegen abgewöhnt, zuviel Show zu machen: „Ich werde ja nicht dafür bezahlt, da einen Handstand zu zeigen.“

Nur ein PR-Instrument?

Den Wert der BPK für die Pressearbeit der Regierung sieht Vater darin, Agendasetting zu betreiben. Jede Pressekonferenz wird in die Korrespondentenbüros, den Bundestag und die Ministerien übertragen. Besonders bei den Mittwochsterminen nach der Kabinettssitzung versuchen die Sprecher gezielt, Themen für die 14-Uhr-Nachrichten im Fernsehen zu setzen. Manche Minister wie Sigmar Gabriel treten gar so oft vor die BPK, dass sie dort schon fast „ein Bett aufstellen“ könnten, meint Thomas Wittke. In Krisenzeiten würden die Politiker Pressekonferenzen dagegen lieber „in der heimischen Kuscheligkeit des Ministeriums“ veranstalten. Dort behalten sie die Kontrolle über die Fragensteller und die Zahl der Nachfragen. Sie dennoch zu einem Auftritt vor der BPK zu bewegen, gleiche „dem Bohren dickster, widerstandsfähigster Bretter“, sagt Wittke.
Kein Wunder: Die BPK hat die Macht, Karrieren zu beenden. Herta Däubler-Gmelin hatte kurz vor der Bundestagswahl 2002 George W. Bushs Politik mit der von Hitler verglichen. Nachdem ihr offenbar unzureichend vorbereiteter Sprecher während der Regierungs-PK nichts gesagt hatte, forderten die Journalisten eine Stellungnahme von Däubler-Gmelin. Kanzler Gerhard Schröder verdonnerte seine Justizministerin zum Canossa-Gang vor die BPK. Eineinhalb Stunden, viele unangenehme Fragen und ein halbes Dutzend Mineralwasser später war klar, dass sie in der kommenden Regierung nicht mehr dabei sein würde. Auch Reinhard Klimmt erlebte seinen letzten Auftritt als Minister vor der BPK. Er verließ sie einfach vorzeitig.
Doch solche Sternstunden sind zwischen den vielen öden Veranstaltungen spärlich gesät. Der BPK-Vorstand hat darum das Prozedere der Pressekonferenzen ein wenig reformiert. Jetzt können die Journalisten vorab kritische Themen bei der Regierung anmelden und sie verpflichten, Informationen darüber preiszugeben. Bewerten mag die Neuerungen freilich noch niemand. Doch auf die Frage, ob man die BPK nicht gleich komplett abschaffen könnte, erntet man Kopfschütteln. „Die Chance, dass sich Politiker bei uns bis zum bitteren Ende rechtfertigen müssen, ist mir viel zu kostbar, als dass ich sagen würde: Wir lösen unseren journalistischen Taubenzüchterverein einfach auf“, sagt Dieter Wonka.
Wer den Wert der BPK nur an den Verlautbarungen in den Pressekonferenzen bemisst, greift ohnehin zu kurz. Hinterher, wenn die Kameras und Mikrofone ausgeschaltet sind, treffen sich Sprecher und Korrespondenten in der Lobby auf einen Kaffee. Hier verraten die Sprecher „unter zwei oder drei“ auch gerne mal mehr. Das könnten sie zwar auch während der BPK machen. Aber erstens fragt dort niemand, um die Kollegen nicht auf die eigene Recherchespur zu lenken. Und zweitens würden die Minister in Wallung geraten, wenn der Bildschirm in ihrem Büro – wie bei Aussagen „unter drei“ üblich – plötzlich schwarz würde. Thomas Wittke: „Dann wäre Revolution. Das traut sich kein Sprecher.“

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Verhandeln – Die vernachlässigte Kunst. Das Heft können Sie hier bestellen.