Angst kriecht durch die Nase

Politik

Der ultimative Traum ist erfüllbar: ein Leben ganz ohne Angst! Keine brüchige Stimme bei Reden vor großem Publikum. Kein Zittern im Fernsehstudio bei aggressiven Nachfragen. Kein Schweißausbruch im taumelnden Landeanflug eines Flugzeugs im Sturm. Vor allem aber: Schluss mit den diffusen Angststörungen, der sinnlosen Form der Angst – vor Spinnen, hohen Türmen, geschlossenen Aufzügen, oder gar vor dem Verlassen des Hauses. Diese lähmende, alles umfassende Angst kann das ganze Leben zerstören. Und sie betrifft in der einen oder anderen Form etwa jeden siebten Menschen mindestens einmal im Leben.

Die gute Nachricht: Ein Leben ohne all diese Ängste ist möglich! Wie bei den Menschen, die unter dem seltenen Urbach-Wiethe-Syndrom leiden, einer selektiven Verkalkung der Mandelkerne, der Angstzentren des Gehirns. Sind die zerstört, ist die Angst weg. Wie auch bei den Versuchsaffen, bei denen man die Angstzentren gezielt entfernt hatte: Sie hatten jede Angst verloren. Auch in lebensbedrohlichen Situationen. Aber nicht nur die Angst war weg – die Versuchstiere hatten auch jede Wut und Aggression verloren. Tatsächlich wurde in den 30er Jahren sogar diskutiert, ob die operative Zerstörung der Mandelkerne nicht eine geeignete Behandlung von Schwerkriminellen sein könnte. Könnte sie?

Alarmbereitschaft für den Ernstfall

Der Eingriff wäre vergleichsweise einfach. Man weiß, dass die sogenannte Amygdala, der Mandelkern, die zentrale Schaltstelle für die Angst ist. Sie liegt tief im Gehirn, ungefähr auf Höhe der Ohrläppchen. Und es gibt zwei davon: eines in der rechten, eines in der linken Hirnhälfte. Die Mandelkerne koordinieren die Angstreaktion und sorgen dafür, dass im Ernstfall Hormone ausgeschüttet werden, die den ganzen Körper in Alarm versetzen: dass Muskeln sich anspannen, Pupillen sich weiten, der Blutdruck steigt – und dass dem Schweiß Stoffe beigemischt werden, die den Mitmenschen das Signal schicken: Dieser Mensch hat Angst. Ein Signal, das unterbewusst verschickt und wahrgenommen wird. Ein Signal, das auch der coolste Politiker nicht unter noch so viel Deo verstecken kann.

Also doch operieren und angstfrei Karriere machen? Die Mandelkerne zu zerstören, hätte erhebliche Nebenwirkungen, denn sie sind nicht nur für die Angst zuständig: Sie spielen eine große Rolle beim Speichern von Erinnerungen, vor allem von emotional aufgeladenen Erinnerungen, positiv wie negativ. Sie sind mit dafür verantwortlich, dass wir uns an den ersten Kuss sehr präzise erinnern. Und an den ersten schmerzhaften Sturz vom Fahrrad. An die erste französische Vokabel dagegen eher nicht. Die Mandelkerne scheinen aber auch eine entscheidende Rolle im Umgang mit Mitmenschen zu spielen. Die operierten Affen jedenfalls hatten Probleme, mit ihren Artgenossen umzugehen und waren schließlich völlig isoliert. Der Preis eines Lebens ohne Angst ist hoch. Der Mensch ohne Mandelkerne wird zum emotionalen Krüppel.

Die Mandelkerne sind etwas Besonderes. Auffallend ist ihre extrem gute Vernetzung mit anderen Hirnarealen. Die Informationen, die sie bekommen – etwa aus Augen, Ohren oder Mund – sind bis auf eine Ausnahme in anderen Arealen schon analysiert und bearbeitet worden. Die auffällige Ausnahme: Gerüche. Die kommen ungefiltert aus den Riechkolben der Nase. Entsprechend unmittelbar, emotional und unkontrollierbar reagieren wir auf Gerüche – auf Angstschweiß wie auf Bratäpfel, auf Brandgeruch wie auf erregendes Parfum. Die meisten Reaktionen werden bewusst gar nicht bemerkt. Ängstliche Menschen werden über den Schweiß unterbewusst demaskiert, auch wenn sie äußerlich beherrscht wirken. Was evolutionär auch gut ist. Denn die Angst des Nachbarn zu bemerken, kann das eigene Leben retten.

Angst ist verlernbar

Auffallend auch: Die Mandelkerne können sich verändern: In einer aktuellen Studie wurde nachgewiesen, dass Kinder aus prekären, unsicheren Familienverhältnissen noch im Erwachsenenalter messbar vergrößerte Angstzentren hatten. Jahrelange Angst und Unsicherheit führt offensichtlich zu dauerhaften Veränderungen. So wie Vokabeln, Radfahren oder Musikstücke erlernt werden, wird auch Angst erlernt. So wie Klavierspielen nach kurzer Zeit automatisiert, unterbewusst, abläuft, so wird auch die Angst nicht mehr vom Bewusstsein kontrolliert. Sie kann sich verselbstständigen und generalisieren. So wird etwa aus der Angst vor Spinnen eine Angst vor Wiesen, vor dem Garten, vor dem Verlassen des Hauses. Oder die Angst vor Auftritten vor Publikum steigert sich langsam in eine generalisierte Angst vor Personen. Millionen von Menschen leiden unter Angststörungen, die unbehandelt zu immer größeren Lebenseinschränkungen führen können. Oder sich gar zu einer Phobophobie steigern – einer Angst vor der Angst.

Das Problem: Zwar können wir bewusst lernen – aber nicht aktiv vergessen. Das Gehirn kennt keine Löschtaste. Einmal erworbenes Wissen, Gefühle, Einschätzungen oder Fähigkeiten gehen nicht mehr verloren. Und das Gehirn kennt kein Nein: Stellen Sie sich jetzt bitte keinen rosa Elefanten vor! Geht nicht. Ebenso wenig lassen sich angstbesetzte Erlebnisse einfach ausblenden. Wenn wir vergessen, vergessen wir durch Nichtbenutzung. Aktives Vergessen ist nicht vorgesehen. Allerdings lassen sich Angst und andere Erfahrungen überschreiben. Nicht durch Ignorieren, sondern durch Konfrontation. So können Angststörungen verhaltenstherapeutisch “verlernt werden“. Die Panikattacke – egal ob sie durch eine Menschenmenge, einen schwindelerregenden Blick vom Kirchturm oder durch eine Spinne ausgelöst wird – dauert nur wenige Minuten. Danach ist der Körper entspannt – ein evolutionär sinnvolles Verhalten! Denn die akute Gefahrensituation dürfte sich mittlerweile geklärt haben: Entweder wurde man vom Mammut zertreten oder man war erfolgreich geflüchtet; tot oder gerettet. Wenn die Panik nun aber vorbei ist und die ängstigende Situation ist noch da (Menschen, Höhe, Spinne), dann lernt das Gehirn plötzlich, dass es gar kein Problem gibt. Denn objektiv ist alles gut! Der angstbesetzte Reiz koppelt sich an das Gefühl großer Entspannung. Das wusste auch schon Goethe, der sich angeblich auf einem Kirchturm selbst von seiner Höhenangst befreite. Angst ist verlernbar.

Wobei Angst natürlich auch schön sein kann: Der Thrill, am Fallschirm oder Gummiseil in die Tiefe zu stürzen – Sekunden später die Kontrolle wieder zu haben, ist die reine Lust.

Der spektakuläre Fall des Derek Adams:

Angst kann töten. Die Erwartung des Todes kann töten. Legendär ist das Beispiel von Derek Adams, der an einer Medikamentenstudie teilnahm, in der Antidepressiva getestet wurden. Im Laufe dieser Studie unternahm der 26-Jährige einen Suizidversuch mit einer Überdosis aus den Resten seiner Studienmedikation. Adams wurde in die Notfallambulanz eingeliefert, die Ärzte konnten ihn aber nicht stabilisieren. Schließlich gelang es ihnen, die Studie zu “entblinden”: Sie stellten fest, dass Adams zum Placeboteil der Studie gehörte. Er hatte statt Tabletten mit Wirkstoff nur Placebos bekommen. Damit hatte er also versucht, sich das Leben zu nehmen. Beinahe wäre es ihm gelungen: Doch wäre er nicht an einem Wirkstoff gestorben, sondern an dem Glauben an dessen tödliche Wirkung.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe politik&kommunikation I/2016 Emotionen. Das Heft können Sie hier bestellen.