Abstieg auf Raten

International

Beim Fernsehduell der Parteivorsitzenden im Wahlkampf 2010 schlug die große Stunde von Nick Clegg. Zwischen dem damaligen Premierminister Gordon Brown und seinem konservativen Herausforderer David Cameron wirkte der Vorsitzende der Liberalen ausgesprochen authentisch, spritzig und witzig. Clegg wurde von einer Sympathiewelle getragen, die damals von der britischen Presse “Clegg-Manie” getauft wurde.

Mit 23 Prozent der abgegebenen Stimmen erzielten die Liberalen ein Traumergebnis. Einzig das Mehrheitswahlrecht sorgte dafür, dass die Liberalen lediglich neun Prozent der Sitze erzielten und gegenüber 2005 sogar fünf Mandate verloren. Gegen den Widerstand der mehrheitlich linksliberalen Basis führte Clegg seine Partei erstmals seit den siebziger Jahren zurück an die Fleischtöpfe.

Vier Jahre später ist wenig von der Euphorie übrig geblieben, die den Vorsitzenden der Liberalen in das Amt des Vizepremiers trug. Bei den Europawahlen verlor die Partei im vergangenen Mai zehn ihrer elf Mandate. In den vergangenen vier Jahren halbierte sich die Zahl der kommunalen Mandate auf landesweit etwas mehr als 2.000 Stadt- und Gemeinderäte. In Umfragen dümpelt die Partei bei sechs bis acht Prozent und liefert sich mit den Grünen einen Kampf um Platz vier. Den dritten Platz im Parteiengefüge haben die Liberalen mittlerweile an die United Kingdom Independence Party (UKIP) verloren.

Abhanden ging mit der Regierungsverantwortung auch das Image als Protestpartei. “In den vergangenen Jahrzehnten haben die Liberaldemokraten die Protestwähler auf sich vereint. Diese sind nun zu den Grünen, UKIP und den schottischen Nationalisten abgewandert”, sagt Michael White, langjähriger politischer Kommentator des “Guardian”.

Auch gebrochene Wahlversprechen haben zum Absturz geführt: “Die Erhöhung der Studiengebühren war die unpopulärste Entscheidung, welche die Liberalen getroffen haben. Sie hat die Glaubwürdigkeit von Nick Clegg zerstört”, sagt Robert Hazell, Politikprofessor am University College in London. Im Wahlkampf hatten sich die Liberalen für die Abschaffung der Studiengebühren stark gemacht. Im Parlament stimmten sie letztlich einer Erhöhung von 3.000 auf 9.000 Pfund zu – ein herber Schlag für die Anhänger der Liberalen. Dabei gerät es zur Nebensache, dass die Konservativen die Gebühren am liebsten noch deutlicher erhöht hätten.

Doch damit nicht genug. Die Koalition hatte sich darauf verständigt, Kürzungen im Sozialsystem vorzunehmen, um die britische Wirtschaft zu stärken. Der wirtschaftliche Aufschwung ließ tatsächlich nicht lange auf sich warten, doch dieser Erfolg wird ausschließlich den Konservativen zugeschrieben. Bei der sozialliberalen Wählerklientel hingegen waren die Sparmaßnahmen so verhasst, dass den Liberalen neben Wählern auch die Mitglieder in Scharen davongelaufen sind.

Von den 65.000 Mitgliedern im Jahr 2010 verließ ein Drittel die Partei. Zurück blieben 44.000 Mitglieder, die ungläubig den Niedergang ihrer Partei mit ansehen. Die Kritik entzündet sich insbesondere an Nick Clegg, der nach seiner Wahl zum Parteichef den Schwenk in die politische Mitte zu verantworten hat. Für Verdruss sorgt zudem, dass die Regierungsämter mehrheitlich mit Vertretern des wirtschaftsliberalen Flügels besetzt wurden und die Partei zunehmend nur noch als Mehrheitsbeschaffer der verhassten Konservativen wahrgenommen wird.

Angesichts anhaltender Kritik und konstant schlechten Umfragewerten nimmt das Abwehrverhalten bei den Liberaldemokraten derzeit zu. Auf dem Parteitag im Oktober fand Clegg für die zunehmend europakritische Haltung der Konservativen scharfe Worte. Das war Balsam für die Seele seiner europafreundlichen Partei.

Auch Danny Alexander, Erster Staatssekretär im Finanzministerium und Parteipräsident Tim Farron kritisierten den Koalitionspartner. Rund drei Monate vor der Unterhauswahl haben die Liberalen in den Wahlkampfmodus geschaltet. Gleichzeitig positionieren sich die zwei Hauptkonkurrenten um die Nachfolge von Nick Clegg, der sich im Falle eines schlechten Wahlergebnisses kaum als Parteivorsitzender halten dürfte.

Bei einer Entscheidung zwischen Alexander und Farron steht die Partei abermals vor einer wegweisenden Richtungsentscheidung. Nach drei erfolglosen Anläufen sitzt Tim Farron seit 2005 im Unterhaus. 2006 machte ihn der damalige Parteiführer Menzies Campbell – ebenfalls ein Vertreter des sozialliberalen Flügels – zu seinem Parlamentarischen Privatsekretär. Im darauffolgenden Jahr rückte Farron in das Schattenkabinett der Liberalen auf. Einen herben Rückschlag erlitt er 2010, als sich die Mehrheit der Fraktion bei der Wahl zum stellvertretenden Parteivorsitzenden gegen ihn entschied. Sein Comeback gelang allerdings noch im selben Jahr, als ihn die liberale Basis zum Parteipräsidenten wählte – ein Amt, bei dem alle Mitglieder stimmberechtigt sind, nicht nur die Fraktion. Ende 2014 endete seine zweite und letzte Amtszeit. Spätestens nach den Wahlen wird der karrierebewusste Mittvierziger seine Ansprüche auf ein herausragendes Amt geltend machen. Seine Vernetzung an der Basis wird ihm dabei nicht schaden.

Danny Alexander gilt mit Anfang 40 als das größte Talent der Liberalen. Der ambitionierte Schotte fand früh zur Politik und ist vor allem in Schottland gut verwurzelt, wo er bereits mit Anfang 20 Pressesprecher der Liberalen war. Wie Farron sitzt er seit 2005 im Unterhaus; zwei Jahre später leitete er als Cleggs Stabschef dessen erfolgreiche Kandidatur um den Parteivorsitz. Als einer von vier Unterhändlern war er maßgeblich am Zustandekommen der Koalition mit den Konservativen beteiligt. Heute gilt er als engster Vertrauter des Vizepremiers, was künftig ein Nachteil sein kann. Sein größter Vorteil gegenüber Farron ist, dass er über Regierungserfahrung verfügt. Das würde für ihn sprechen, wenn die Liberalen bei einem Patt erneut als Koalitionspartner infrage kommen.

Bei allem Verdruss haben sich die Liberalen vorgenommen, die Koalition bis zu den Wahlen im Mai Jahres fortzuführen. Einen parlamentarischen Exodus wie bei der FDP brauchen die britischen Liberalen auch dann nicht zu fürchten; dafür verfügen sie in einigen Hochburgen im Südwesten und Norden des Landes über satte Mehrheiten von mehr als 50 Prozent. Entsprechend gehen Experten wie Matthew Flinders, Politikprofessor an der University of Sheffield, davon aus, dass 20 bis 25 liberale Abgeordnete das Gewitter im Mai überstehen werden. Auch wenn er erneut ins Parlament gewählt würde, wäre Nick Clegg bei solchen Verlusten nicht mehr tragbar. Die Liberalen stünden dann vor einer Richtungsentscheidung, denn seine potenziellen Nachfolger könnten unterschiedlicher nicht sein.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Beste Wahl. Das Heft können Sie hier bestellen.