Von der Politik lernen

Für Manchen ist schon die Fragestellung eine Zumutung: Unternehmen und Unternehmer sollen für ihre Kommunikationsarbeit etwas von der Politik lernen? Öffentlich akzeptiert ist seit vielen Jahren eine relativ einseitige Lernrichtung: In der Politik adaptiert man gerne und oft Methoden aus der Wirtschaftswelt in den Bereichen Kommunikation, Strategiebildung oder Controlling. Ganze Heerscharen von Beratern leben davon, das spezifische Know-how der Wirtschaft den verschiedenen Ebenen der Politik und Verwaltung nahezubringen. Die Lernbeziehung zwischen Wirtschaft und Politik sollte aber keine Einbahnstraße sein, es geht nämlich auch andersherum. Die Erfahrungen eines Polit-Managers können auch für Unternehmen und Unternehmer interessant sein – dies sind die sieben wichtigsten:

1. Innen und Außen

Politik und Wirtschaft stehen vor derselben und gewaltigen kommunikativen Aufgabe: Man muss sich zugleich intensiv, transparent und permanent mit seinen Mitgliedern (Mitarbeitern) und Wählern (Kunden) austauschen und dabei gleichzeitig im Wahlkampf (Wettbewerb) intern vertraulich sprechen können. Ohne die Offenheit in der Kommunikation entsteht keine Bindung, und ohne Vertraulichkeit kann in einer Konkurrenzsituation kein Vorteil erarbeitet werden. Dies ist ein unvermeidbarer und gravierender Widerspruch, und man muss sich dessen bewusst sein, um ihn sauber zu bewältigen, ja um große Fehler zu vermeiden. Dieses besondere Spannungsverhältnis hat die Politik mit Wucht und früh erfahren. Die großen Unternehmen kommen immer mehr in diese Lage. Zuallererst sind dem die Presse- und Kommunikationsverantwortlichen ausgesetzt; zunehmend ist das aber jeder mit Führungsverantwortung. Man kann von den Erfahrungen der Politik lernen.

2. Das Private ist politisch? Nicht unbedingt

Politik verhandelt die gesellschaftlichen Angelegenheiten, und demokratische Politik findet öffentlich statt. Politiker bewegen sich permanent öffentlich und lernen im Lauf ihrer Karriere, damit umzugehen. Sie treffen früh die Entscheidung darüber, welchen Grad von Privatheit sie sichern wollen und lernen früh, was sie tun müssen, damit dies auch von den Medien akzeptiert wird. Vorstandsvorsitzende  werden heute immer mehr zu öffentlichen Personen. Sie haben ihre Karrierestationen unsichtbar für die Öffentlichkeit und innerhalb der Unternehmen durchlaufen und betreten dann plötzlich eine grell ausgeleuchtete Bühne. Manche bewältigen die ersten Schritte gut, machen instinktiv und fast traumwandlerisch das Richtige; manche verletzen sich aber so sehr, dass sie sich davon nicht mehr erholen. Man muss früh, klar und sehr bewusst entscheiden, welches Maß an Privatem man erhalten will – und dies dann durchhalten. Man kann nicht nach Belieben zwischendurch die Regeln wechseln.

3. Auf Bilder achten

Wer kennt sie nicht? Bilder, die eine ganz bestimmte Zeit, eine Stimmung oder Situation widerspiegeln und sich in den Köpfen festbrennen: Ackermanns Victory-Zeichen ist dafür ein legendäres Beispiel. Gerade in komplizierten und kritischen Situationen muss man noch intensiver auf die Bildsprache achten. Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte den Brioni-Mantel wirklich nur kurz an – in der kollektiven Erinnerung aber jahrelang.

4. Neugier als Begabung

Wenn man Politikern begegnet, die nicht mehr neugierig sind, begegnet man den Absteigern von morgen. Nichts ist beständiger als der Wandel. Die Gesellschaft verändert sich permanent und in jeder Hinsicht. Es gibt menschliche Grundkonstanten und Grundbedürfnisse – sicher. Aber die Formen wechseln ständig, und dem muss man auf der Spur bleiben, man muss verstehen und lernen wollen. Gute Politik ist unermüdlich neugierig, sie lernt immer dazu. Das ist nichts Schlechtes, sondern eine Gabe. Unternehmer, die nicht mehr neugierig sind, werden absteigen.

5. Markenkern und Diversifikation

Den Wandel anzunehmen ist das eine – im Wandel zugleich den eigenen Identitätskern zu wahren, ist die andere Herausforderung. Parteien durchlaufen über die Jahre Veränderungen. Sie reagieren auf den gesellschaftlichen Wandel, verändern ihre Programmatik und erweitern sie, betonen anders, sprechen neue Wählerschichten an. Sie müssen dabei aber immer ihren Identitätskern beachten und wahren, da sie sonst existenzielle Krisen provozieren. Der Identitätskern ist die Grundidee, die kurze Beschreibung des Zwecks. Bei aller Notwendigkeit zur Diversifikation ist die Wahrung des Markenkerns existenziell.

6. Führungsrekrutierung

Eine zentrale Aufgabe von Parteien ist es, Führungspersönlichkeiten für Wahlämter in der Demokratie zu rekrutieren. Das Ziel muss sein – und das erst einmal abstrakt und für alle Parteien gleichermaßen –, hervorragend fachlich und ethisch qualifizierte Männer und Frauen für demokratische Wahlen „anzubieten“. Dazu braucht es genügend Personen, die auf den jeweiligen Auswahlstufen mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen, Biografien und Qualitäten gegeneinander antreten. Am Ende entscheiden dann die Wähler, und das ist sicherlich nicht immer eine „Bestenauswahl“; aber es ist doch ein solides und vertretbares Ergebnis. Soweit die Theorie. Man muss sehr genau prüfen, ob die Theorie noch etwas mit der Praxis zu tun hat. Sind die Rekrutierungswege verengt, fehlt die Breite der Lebenserfahrungen, fehlt die Vielfalt in den Ausbildungswegen und Berufserfahrungen; das schlägt schließlich negativ auf die Qualität des Rekrutierungsprozesses durch. Die Folge: Die Parteien rekrutieren kein ausreichend qualifiziertes Personal. In der Politik führt das zu Wahlniederlagen oder sinkender Wahlbeteiligung. Unternehmen, die sich in ihrer Führungsrekrutierung verengen, deren Führungsebenen sich abschließen, weil man „unter sich“ bleiben will, verlieren nach und nach ihre Qualität.

7. Nervensägen willkommen

Qualität entsteht nicht durch Zufall. Besondere Qualität, die sich in der Konkurrenz und im Wettbewerb durchsetzt, entsteht auch nicht bequem und durch die Bequemen. In polarisierten Lagen, in Wahlkämpfen, oder wenn eine Kampagne unter Zeitdruck entsteht, wenn mit ihr hohe Erwartungen verbunden sind, wenn Karrieren davon abhängen, wenn die Nerven angespannt sind – dann möchte kein normaler Mensch Widerspruch hören oder Dinge, die doch klar zu sein scheinen, in Frage gestellt bekommen. Doch gerade dann, wenn das unterbleibt, entstehen die größten Fehler; wo das hingegen geschieht, die besondere Leistung. Politik lebt vom Widerspruch, dieser ist fast konstituierend für sie. Natürlich muss es einen Punkt geben, an dem entschieden wird, ab dem man beginnt, die Dinge umzusetzen. Doch sollte man eine klare Verabredung darüber treffen, wann und wo gestritten werden kann. Man muss eine Gesprächs- und Streitkultur entwickeln, die dafür sorgt, dass es um die Sache geht. Es gibt viele gute und schlechte Beispiele dafür in der Politik. Die Erfahrung lehrt: Dort, wo es keinen Widerspruch mehr gibt, versandet das Denken, und notwendige Innovationen bleiben aus.
Die Entwicklungen und Veränderungen, die Politik und die Wirtschaft durchlaufen, haben unterschiedliche Formen und sind sicher ungleichzeitig – aber sie finden in einer Gesellschaft statt und sind miteinander verbunden. Politik und Wirtschaft: Man meint sich gegenseitig zu kennen, und man kennt sich doch nicht. Ein Perspektivwechsel lohnt sich.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Schlechte Gesetze – dank Lobby, Hektik und Symbolpolitik. Das Heft können Sie hier bestellen.