Mehr Strategie wagen

Vom umstrittenen Wachstumsbeschleunigungsgesetz über die zögerliche Haltung bei der Griechenlandhilfe bis hin zum neuerlichen Lavieren in der Euro-Krise: Ein zukunftsweisendes Gesamtkonzept ist in der aktuellen Regierungspolitik nicht zu erkennen. Sicher, die Abhängigkeit von externen Einflüssen erscheint dieser Tage besonders hoch. Doch kann dies allein das zu beobachtende Dauer-Krisenmanagement erklären? Sicherlich nicht, schließlich ist der Mangel an proaktiver und prospektiver Politikgestaltung kein rein schwarz-gelbes Phänomen. So basierte die Rentensicherungsklausel ebenso wenig auf einem übergeordneten Konzept mit Langfristperspektive wie die Abwrackprämie oder das Konjunkturpaket II. Mutige Gegenbeispiele wie die von Franz Müntefering gegen massiven Widerstand aus den eigenen Reihen durchgesetzte Rente mit 67 blieben auch während der Großen Koalition die Ausnahme und in der schwarz-roten Gesamtschau letztlich Stückwerk. Warum ist Regierungspolitik häufig so gegenwartsfixiert und arm an Strategie? Und wie könnte sie strategie- und damit zukunftsfähiger werden?

Die Status-Quo-Falle

Die Strategiearmut in der Regierungspolitik ist bis zu einem gewissen Grad auf ein grundsätzliches Dilemma demokratischen Regierens zurückzuführen: Eine strategische Politikausrichtung bietet für Regierungsakteure nicht zuletzt wegen mangelnder politischer Zurechenbarkeit nur wenige Anreize im konkurrenzintensiven Tagesgeschäft. So ist die Suche nach kurzfristig vorzeigbaren Erfolgen neben sach- und wertepolitischen Erwägungen ein wesentlicher und durchaus legitimer Teil der Handlungslogik politischer Akteure. Schließlich soll Regierungspolitik nicht nur vor Wahlen für die aktuelle Stimmungslage in der Bevölkerung aufgeschlossen sein. Da der Bürger den mittel- bis langfristigen Zeithorizont von Politik zwar prinzipiell sehr wichtig findet, aber konkrete Einschnitte in der Gegenwart für allenfalls abstrakte Wohlstandsversprechen in der Zukunft im Zweifel eher ablehnt, erhalten Politiker mit Status-Quo-Orientierung nicht selten eine Stimmenprämie. Eine gewisse Gegenwartsorientierung ist deshalb durchaus systemimmanent.
Problematisch wird die wettbewerbsbedingte Kurzfristorientierung erst dann, wenn der Wettstreit der Parteien um die besten Ideen und Konzepte ausschließlich hinsichtlich Stimmungen und Stimmen ausgetragen wird. In diesem Fall drohen Opportunismus, Schnellschüsse und kollektive Mutlosigkeit. Tendenz: steigend. Angetrieben von weiter schwindenden Parteiloyalitäten in der Bevölkerung und einem damit verbundenen wachsenden Koalitionszwang im Fünf-Parteien-System wird der politische Wettbewerb zunehmen – mit unweigerlich negativen Folgen für die strategische Ausrichtung von Regierungspolitik. Dieser übergeordnete Trend ist im Regierungsalltag bereits zu beobachten: So stärkt der verschärfte politische Wettbewerb im regierungsinternen Zusammenspiel zwischen Zentrale und Ministerien das Ressortprinzip auf Kosten des Richtlinienprinzips. Die dadurch forcierten Rivalitäten um Budgetanteile, Kompetenzen und die Verbuchung politischer Erfolge erzeugen innerhalb der Regierung Zentrifugalkräfte, die eine zentrale Strategieentwicklung erschweren.
Gleichzeitig steigt aber der Bedarf an einer ressort- und legislaturübergreifenden Politikorientierung, was eine weitreichende Auslegung des Ressortprinzips zunehmend in Frage stellt. Nicht umsonst sprach sich Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ende April 2010 in der „Süddeutschen Zeitung“ für eine stärkere Zentralisierung der deutschen Außenpolitik im Bundeskanzleramt aus. Aber auch in vielen anderen Politikfeldern erfordern die wachsende Zahl relevanter Akteure sowie die steigende Komplexität und thematische Verflechtung Koordinationsleistungen, die nur ein starkes Macht- und Gestaltungszentrum erbringen kann. Damit eine Regierungszentrale diese anspruchsvolle Rolle einnehmen kann, müssen jedoch bestimmte Voraussetzungen erfüllt ­werden.
Zunächst einmal ist ein neues Selbstverständnis und Leitbild der Regierungszentralen auf Bundes- und Landesebene nötig: Statt einer regierungsinternen Kontrollbehörde sollte sie sich verstärkt als politischer Impulsgeber verstehen, der systematisch langfristige Strategien entwickelt und für eine kohärente und zukunftsorientierte Regierungspolitik sorgt. Dafür müssen sich die Organisationsstrukturen der Regierungszentrale stärker an der effektiven und effizienten Durchsetzung ressortübergreifender Langfristziele orientieren. Statt der typischen Spiegelreferate, die die Arbeit der Ministerien begleiten, sind problemorientierte Koordinationseinheiten jenseits der klassischen Ressortaufteilung denkbar. Auch die häufigere Ernennung von Staatsministern, die von der Zentrale aus bestimmte Querschnittsthemen wie etwa den demografischen Wandel koordinieren und steuern, kann den positiven Einfluss der ­Zentrale stärken.

Freiräume für konzeptionelles Arbeiten

Bei aller Zentralisierung braucht politische Strategie aber auch offene Kommunikationswege und ein ausgeklügeltes Wissensmanagement. Dies betrifft die Fähigkeit einer Regierung, auf regierungsinterne und -externe Wissensressourcen flexibel zugreifen und eine Art Wettbewerb der Ideen ausrichten zu können. Dazu bedarf es einer grundsätzlich stärkeren Vernetzung der Arbeitseinheiten und eines Strategiedialogs jenseits von klassischen Informationspyramiden und langwierigen Bearbeitungswegen. Dies ist nur dadurch möglich, dass starre hierarchische Organisationsstrukturen aufgebrochen und „Strategische Räume“ institutionell fest verankert werden.
Die Strategiefähigkeit von Regierungspolitik wird schließlich auch dadurch gesteigert, dass die progressiven Kräfte innerhalb der Regierungsorganisation gestärkt und entsprechend strategieaffine Köpfe rekrutiert werden. Anders als die politischen Spitzenakteure, die sich in der Hauptsache auf dem taktisch geprägten Parkett der Tagespolitik bewegen, sind es insbesondere die strategischen Einheiten in den Grundsatz- und Planungsabteilungen, die im engeren Sinne professionelle Strategiearbeit leisten. Um innovative Ideen zu politikrelevanten Themen von morgen und übermorgen entwickeln zu können, müssen diese regierungsinternen Strategieberater über ausreichende Personalressourcen und insbesondere Freiräume für konzeptionelles Arbeiten verfügen. Hier bestehen in der politischen Praxis gravierende Defizite, die größtenteils auf die anhaltenden Ressourcenengpässe in der Ministerialbürokratie zurück­zuführen sind.
Dass es häufig an strategischem Know-how mangelt, liegt aber auch an der verkrusteten Personalstruktur in vielen Regierungszentralen, die sich statt auf verwaltungsexterne Rekrutierung auf die interministerielle Personalrotation beschränken. Damit strategische Berater ihren Namen auch verdienen, sollte bei neuen Mitarbeitern neben fachlichen Kompetenzen verstärkt auf Strategieexpertise, Ideenreichtum und Kreativität geachtet werden. Gefragt sind kommunikationsstarke Querdenker und umtriebige Grenzgänger zwischen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Letztlich können nur schlagkräftige strategische Einheiten mit innovationsfreudigen Mitarbeitern die Zukunftsperspektive konsequent in die Regierungspolitik einbringen – und diese damit zumindest ein Stück weit zukunftsfähig machen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Schlechte Gesetze – dank Lobby, Hektik und Symbolpolitik. Das Heft können Sie hier bestellen.