Der organisierte Erfolg

Es überrascht zunächst, wer in Deutschland den Organizing-Ansatz am erfolgreichsten umsetzt: die Gewerkschaften. Ausgerechnet die Organisationen, deren Kommunikationsarbeit – von wenigen Ausnahmen abgesehen – sich in der Regel auf durchschnittlichem Qualitätsniveau abspielt, sind überraschend gut aufgestellt, wenn es um die kommunikationsstrategische Innovation aus den USA geht.
Das hat einfache Gründe. Barack Obama strukturiert sein heutiges Regierungsprogramm nach dem gleichen strategischen Prinzip, mit dem er auch seine Kampagne zum Erfolg führte: durch konsequente Beteiligung seiner Anhänger. Dieses Prinzip hat das Potenzial, als „dritte Welle“ in die Geschichte der strategischen Kommunikation und politischen PR einzugehen. In den achtziger Jahren löste die Idee des Dialogs in der Kampagnenarbeit als „zweite Welle“ den eindimensionalen Botschaftsbegriff des Sender-Empfänger-Modells ab. Heute ist konsequente Beteiligung die Möglichkeit, die kommunikative Nachhaltigkeit von Kampagnenstrategien sicherzustellen. Was früher einmal Zielgruppe hieß und danach Dialogpartner genannt wurde, ist nun zum aktiven Part der Kampagne geworden, zum Akteur – und das heißt für die Wirkung: PR hoch drei.

Mobilisierung von Multiplikatoren

So fremd den Gewerkschaften diese kommunikative Perspektive ist, so vertraut ist ihnen die Beteiligungsidee: Allein die DGB-Gewerkschaften organisieren mit 6,3 Millionen Mitgliedern in Deutschland mehr als viermal so viele Menschen wie alle politischen Parteien zusammen – und sind damit Musterbeispiele demokratischer Massenorganisationen.
Auch Obama hätte ohne die Gewerkschaften keine Chance gehabt: Allen voran war es die amerikanische Dienstleistungsgewerkschaft SEIU, die ihre 1,8 Millionen Mitglieder im Verlauf der Kampagne gezielt als Multiplikatoren für Obamas „Change“ aktivierte und dem US-Senator so zum Sieg verhalf. Ihr konsequentes Mobilisierungs-Modell steht für das der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) Pate. Nicht nur deshalb sollten sich politische Kommunikatoren in Deutschland vor der Planung der nächsten Kampagne die Methoden der gewerkschaftlichen Organizing-Profis in den USA genauer anzuschauen.
Schon fast zehn Jahre ist es her, dass sich die Strategen in der deutschen Gewerkschaftsbewegung mit der Organizing-Strategie und ihrem Nutzen für die US-amerikanischen Kollegen auseinanderzusetzen begannen. Seither wird vor allem die „Anleitung zum Mächtigsein“ von Saul Alinsky gelesen, ebenso wie Edward Bernays’ „Propaganda – Die Kunst der Public Relations“ als Literaturklassiker über die strategische Entwicklung der politischen Kampagnenarbeit gilt.
Fünf Jahre praktische Erfahrung mit der Organizing-Strategie kann Verdi heute für sich beanspruchen. Anfänglich war jeder noch so kleine Kampagnen­erfolg unter widrigsten Bedingungen hart erkämpft – wie vor nicht ganz drei Jahren im Hamburger Sicherheitsgewerbe, als die Gewerkschaft Wachleute zum Protest gegen niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen bewegte. Mittlerweile ist es für die Gewerkschaften zur Routine geworden.
Das beweist vor allem die „mitgliederorientierte Offensivstrategie“ der IG Metall, die als größte Einzelgewerkschaft der Welt mit einer Organizing-Kampagne im vergangenen Jahr fast 15.000 Leiharbeiter für eine Mitgliedschaft gewinnen konnte. Aber nicht nur das: Gleichzeitig konnte sie so mehr als 400 betriebliche Vereinbarungen durchsetzen, die das Ziel eines höheren Lohnabschlusses hatten. Aktuell macht die IG Metall vor allem mit ihrer groß angelegten Jugendkampagne „Operation Übernahme“ auf sich aufmerksam. Hier setzt die Gewerkschaftsjugend konsequent auf Organizing-Prinzipien – und entfaltet damit eine Mobilisierungsdynamik, die man in der politischen Jugendarbeit der letzten zwei Jahrzehnte vergeblich sucht.

Noch Zukunftsmusik

Die Anforderungen für politische Kampagnenführung nach der Organizing-Strategie lassen sich mit drei einfachen Grundprinzipien verdeutlichen – wobei der Vergleich mit den USA jedoch zeigt, wie schwierig die praktische Umsetzung dieser Strategie sein kann: Zunächst einmal orientieren sich die Kampagnen an den ganz konkreten Anliegen von Bezugsgruppen, was sich nur schwer mit den eher allgemein gehaltenen Zielen von Berufspolitikern vereinbaren lässt. Mit diesen Anforderungen an die politische Kommunikation haben auch Kommunikationsmanager professioneller Organisationen zu kämpfen. Fakt ist: Ihre dialogorientierte Ausprägung unterscheidet sich stark von der auf Ausgleich bedachten Marktforschungshörigkeit klassischer Parteienwahlkämpfe in Deutschland.
Auch die Beteiligungsorientierung, in der demokratischen Alltagskultur der Vereinigten Staaten eine Selbstverständlichkeit und von Obamas Kampagne als strategische Ressource zielgenau aktiviert, verlangt von politischen Kommunikatoren in Deutschland einen Bruch: und zwar den mit der „Zielgruppen“-Strategie von Werbung und Marketing. Auch PR-Profis müssen sich auf eine neue, erweiterte Perspektive einlassen: Gerade dort, wo der Dialoggrundsatz begrifflich und praktisch oft darauf reduziert wird, die nach wie vor hierarchischen Kommunikationsprozesse zu optimieren, ist eine Kampagnenpraxis, die ihre Bezugsgruppen schon in der Planungsphase beteiligt, vor allem eines: Zukunftsmusik.
Nicht zuletzt wird gerade die Konfliktorientierung – als drittes Leitprinzip von Organizing-Kampagnen – in Deutschland noch einige kulturelle Hürden zu überwinden haben. Die Berührungsängste, die gerade die Parteienkommunikatoren gegenüber den Ansätzen des „Negative Campaigning“, dem gezielten Diffamieren des politischen Gegners, noch immer hegen, sind ein Beispiel dafür. Diese Fixierung auf einen sauberen Wahlkampf verdeutlicht die sozialdemokratische Kampagne zur Europawahl: Punkteten die amerikanischen Demokraten im Präsidentschaftswahlkampf mit scharfen Attacken auf John McCains Kandidatin für das Amt des Vizepräsidenten, Sarah Palin, setzte die SPD auf ihr neues, marktliberal-sympathisches Hai-Maskottchen. Scharfe politische Munition ist beim Angriff auf den Gegner verboten – es könnte sich immerhin um einen zukünftigen Koalitionspartner handeln.
Da sind die Gewerkschaften weiter. Denn während sich deutsche Politiker darum bemühen, den Microblogging-Dienst Twitter zu verstehen und drohenden sozialen Krisen mit Bier-und-Bratwurst-Botschaften von zweifelhaftem politischen Wert zu begegnen, gehen die Gewerkschaften in die Vollen. „Mitglieder – Beteiligung – Konflikt“: So offensiv klang die Linie der IG Metall schon vor der Krise. Sie zeigt, was ein Mobilisierungsplan im besten Fall sein kann: ein kraftvoller Energiegeber.

Parteien hinken hinterher

Allenfalls Bündnis 90/Die Grünen kommen mit ihrer Graswurzel-Kampagnenplattform „Meine Kampagne“ ihrem amerikanischen Organizing-Vorbild erstaunlich nahe. Damit sind die Grünen – dank des Bildungsniveaus und Altersdurchschnitts ihrer Anhänger sowie ihres Agenturpartners Zum goldenen Hirschen – heute die einzige Partei auf dem Markt, die sich in naher Zukunft als organizingfähig entpuppen könnte.
Denn Die Linke will zwar – allein ihr fehlt das Können, wie ein Blick in ihre Wahlkampfpapiere beweist. Denn dort zeigt sich, wie weit die Partei vom oft geforderten Organizing und der Fähigkeit zu seiner überzeugenden strategischen und kommunikationspraktischen Anwendung entfernt ist.
Sonst ist aus der Parteienlandschaft in den Krisenwahlkämpfen des Jahres 2009 in Sachen Organizing wenig zu erwarten. Die Parteien hinken den maßgeblichen Kampagnen der Gewerkschaften um Jahre hinterher. Doch ob es diesen im Superwahljahr bereits gelingt, in der Systemkrise die Chancen der Organizing-Strategie auszuschöpfen, bleibt offen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Wahlkampf – Diesen Sommer in Ganz Deutschland. Das Heft können Sie hier bestellen.