Zwischenrufe erwünscht

Interview mit Ralph Brinkhaus

Herr Brinkhaus, Sie treten im Bundestag immer wieder ans Pult und halten Reden ohne Manuskript, die nicht nur meistens fehlerlos sind, sondern die Hörer auch in Ihren Bann ziehen. Wie machen Sie das?

Meine ersten Reden im Bundestag habe ich abgelesen. Und dann hat mein damaliger Kollege Leo Dautzenberg gesagt: “Ralph, du kannst nicht ablesen. Du wirst da immer zu schnell. Lass das Manuskript weg!” Anschließend habe ich angefangen, frei zu reden. Und das war die richtige Entscheidung. Das erste Mal war allerdings wie Klettern ohne Seil.

Wie wahren Sie die Struktur, ohne die Details zu vergessen?

Ich überlege mir natürlich vorher, was ich sage. Jede Rede ist durchstrukturiert. Es gibt ein Konzept, es wird nur nicht ausformuliert. Ich versuche mit jeder Rede, eine Geschichte zu erzählen. Und das kann im Prinzip jeder von uns. Wenn Sie abends nach Hause kommen und ihrer Frau erzählen, was Sie tagsüber erlebt haben, dann haben Sie ja auch keinen Stichwortzettel dabei. Wenn man einen logischen Faden hat, dann kann man sich daran entlanghangeln.

Lernen Sie etwas auswendig?

Nein, das würde schon aus Zeitgründen gar nicht gehen. Ich überlege vorher mit meinen Mitarbeitern, was die Hauptaussage ist, die ich betonen möchte, und was ich unbedingt sagen muss, weil es zwingend zum Thema gehört. Das Ganze wird dann gemischt mit Spontaneität. Schließlich ist es eine Debatte, bei der es nicht zuletzt darum geht, auf die anderen Redner einzugehen. Am besten ist es, wenn man mit der Episode, mit der man begonnen hat, auch wieder aufhören kann. Man improvisiert jedenfalls. Denn so eine Rede lebt ja. Man sieht, wie das Publikum im Plenarsaal reagiert oder nicht reagiert.

Was ist, wenn Sie mal den Faden verlieren?

Das werde ich öfter gefragt. Und ich muss gestehen: Ich hatte auch schon gute Reden, bei denen ich den Faden verloren hatte. Außer meiner Frau hat es aber keiner gemerkt. Man hat ja zu den Oberpunkten einer Rede auch immer Unterpunkte. Und wenn der fünfte Unterpunkt der Übergang zum nächsten Oberpunkt sein soll und man diesen fünften Punkt vergessen hat, dann muss man improvisieren. Meistens klappt das bei mir ganz gut. Wichtig ist: Fester Blick – und nicht stocken in der Aussprache!

Das klingt alles so selbstverständlich. Es gibt aber im Bundestag Redner, die auch mit vielleicht guten Manuskripten schlechte Reden halten. Sind Sie da nie nervös?

Ganz ehrlich: Es gab in letzter Zeit zwei Reden, bei denen ich tatsächlich etwas nervös war und deshalb ein Manuskript mitgenommen habe. Das war zunächst bei der Rede zum Attentat von Hanau. Da kommt es auf jedes Wort an, jede Betonung und jede Nuance. Da ist eine freie Rede viel zu risikoreich; das macht man besser kontrolliert. Bei der zweiten Rede ging es um den 70. Geburtstag des Grundgesetzes, also um eher abstrakte Ausführungen. Da habe ich ebenfalls versucht, das kontrolliert zu machen. Man merkt aber, dass das vom Vortrag her nicht so gut ist. Ansonsten muss man den Mut zum Risiko haben. Es ist nicht alles perfekt. Vielleicht vergreift man sich in seinem Temperament mal mit einer Formulierung. Doch das muss man in Kauf nehmen. Auf jeden Fall ist eine frei vorgetragene Rede lebendiger.

Ralph Brinkhaus (52) ist seit September 2018 Fraktionsvorsitzender der Union im Bundestag. Davor war er als Vizefraktionschef für die Themen Haushalt, Finanzen und Kommunalpolitik zuständig. Brinkhaus ist seit 2009 CDU-Bundestagsabgeordneter. In Wiedenbrück geboren, wuchs er im nahen ­Rietberg auf. Nach Abitur und Wehrdienst studierte Brinkhaus Wirtschafts­wissenschaften. Der Diplom-Ökonom arbeitete bei einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und in der ­Industrie, später als Steuerberater. Brinkhaus ist verheiratet und praktizierender Katholik. Fußballerisch hält es der Westfale mit den Rheinländern, er ist Fan vom 1. FC Köln.(c) picture alliance/dpa/Kay Nietfeld

Und macht den Reiz für die Zuhörer aus.

Genau. Im Übrigen interagiert man ja, wie ich eben schon sagte. Das Schlimmste ist, wenn die Hörer nur teilnahmslos auf ihren Plätzen sitzen; das ist schrecklich für einen Redner. Es ist gut, wenn es im Bundestag Zwischenrufe gibt und der Saal entsprechend vibriert. Das verändert wiederum die eigene Rede. Da wird man selbst einmal lauter oder leiser. Im Grunde genommen ist so eine Rede Kommunikation mit dem Plenarsaal.

Man hört: Ihnen macht das Spaß.

Ja, in einer großen Debatte eine Rede zu halten, das ist die Königsdisziplin. Beim Fußball würde man sagen: Für solche Spiele trainiert man. Bundestag, das bedeutet Debatte.

“Ich versuche mit jeder Rede, eine Geschichte zu erzählen.”

Kennen Sie Politiker, die nicht so gerne Reden halten – ja, die womöglich sogar Angst davor haben?

Angst nicht, Respekt ja. Man hat den Bundesadler im Rücken. Man weiß, dass die Rede bei Phoenix live übertragen wird und dass man – wenn es ganz dumm läuft – freitagsabends in der “heute-Show” landet. Es gibt natürlich auch Kollegen, die sind super Politiker, die machen eine exzellente Wahlkreis- oder Facharbeit – aber reden ist vielleicht nicht deren Lieblingsbeschäftigung. Wir haben da eine ganz normale Verteilung von Begabungen. Gute Reden zu halten ist im Bundestag keine zwingende Voraussetzung, um erfolgreich zu sein. Ich würde im Übrigen auch nicht sagen, dass früher mit Herbert Wehner oder Franz Josef Strauß alles rhetorisch besser war. Manches war früher sehr beleidigend. Und es gibt auch im Bundestag heute gute Redner, Christian Lindner zum Beispiel oder Gregor Gysi, um nicht nur Kollegen aus der eigenen Fraktion zu nennen.

Viele CDU-Politiker beginnen in der Jungen Union und halten dort die ersten Reden. Wie war das bei Ihnen?

Ich war Mitglied in der JU, ohne dort eine große Rolle zu spielen. Zugleich habe ich kirchliche Jugendarbeit gemacht. Da trägt man hin und wieder auch mal was vor. Dann war ich im studentischen Bereich engagiert. Und schließlich war ich mal Betriebsratsvorsitzender. So bin ich da allmählich hineingewachsen. In den Bundestag bin ich ja erst gekommen, als ich 41 war.

Wann haben Sie gemerkt, dass Sie ein Talent zum Reden haben?

Ich weiß gar nicht, ob ich ein Talent habe. Ich versuche halt überall da, wo ich rede, eine Geschichte zu erzählen und nicht bloß Satzbausteine aneinanderzureihen. Vor 3000 Jahren haben die Menschen ja auch schon am Feuer gesessen und sich Geschichten erzählt. Darauf kommt es an – auch wenn es im politischen Kontext manchmal schwierig ist. 

Haben Sie Vorbilder?

Vorbilder nicht. Aber natürlich gibt es Leute, die beeindruckende Reden gehalten haben. Im Lateinunterricht in der Schule haben wir uns viel mit antiken Rednern beschäftigt. Ich bin jedenfalls fasziniert von großen Reden. Von manchen sind Ausschnitte oder Formulierungen hängen geblieben. Etwa von Ernst Reuter, der während der Berlin-Blockade sagte: “Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!” Er hat damals ein Wir-Gefühl hervorgerufen. Und das ist wichtig. Es geht bei einer Rede nicht darum, sich als Redner zu präsentieren, sondern darum, etwas zu erzeugen. Auch Barack Obama ist ein wirklich guter Redner, so wie es auch John F. Kennedy war. Das sind Leute, die das ganz fantastisch können oder konnten.

“Ich habe auch in guten Reden mal den Faden verloren.”

Hängt eine gute Rede von einem guten Inhalt ab? Oder kann man auch mit schlechten Inhalten gut reden?

Generell gilt: Eine Rede zu halten und darauf eine Reaktion zu kriegen – das ist der eine Teil. Der ist wie bei einem Eisberg über der Wasseroberfläche. Aber der größere Teil ist unterhalb der Wasseroberfläche – nämlich: Was denken die Leute, wenn sie nach Hause gehen? Es geht um die Wirkung über den Tag hinaus. Deswegen kommt es natürlich auf den Inhalt an.

Was macht eine gute Rede aus?

Ich bin kein Rhetorik-Experte, kann also nur von mir sprechen. Wichtig ist, dass man authentisch bleibt. Das, was man sagt, muss zu einem passen. Deshalb kann man mittelfristig durch gute Reden keine schlechten Inhalte verkaufen. Außerdem ist es gut, auch mal Emotionen zu zeigen und aus sich rauszugehen. Wichtig ist schließlich die bereits erwähnte Interaktion mit dem Saal. Und dann sollte man einen Plot haben, eine Geschichte, einen Rahmen. Wenn ich anderen Rednern zuhöre, suche ich immer den roten Faden. Zu guter Letzt braucht man Mut zur Lücke. Man muss auch mal was weglassen. Man kann in einer Rede nicht immer alles zu einem Thema sagen.

Wie ist eigentlich das Feed­back im Bundestag? Kriegt man Lob? Kriegt man ehrliche Kritik? Und was passiert mit Rednern, die nicht so richtig über die Rampe kommen: Gibt’s da Verständnis? Oder wird das ausgenutzt?

Nein, Letzteres nicht. Kollegen freuen sich über eine gute Rede. Übel wird es, wenn Redner anfangen, falsche Dinge zu behaupten oder andere Leute zu beschimpfen – da wird man schon irgendwie sauer. Generell gilt: Der Respekt gegenüber einem Politiker erwächst nicht aus seinen Reden, sondern aus dem Gesamtbild, das er abgibt. Bei besonders guten oder besonders schlechten Reden kriege ich übrigens schon die ersten E-Mails, während ich am Pult stehe – oder es klingelt im Büro das Telefon.

Wir haben jetzt in erster Linie über Ihre Stärken gesprochen. Woran müssen Sie als Redner noch arbeiten?

Natürlich an allen Bereichen. Aber um vielleicht eine Sache herauszugreifen: Pausen sind wichtig. Ein Jazzmusiker hat einmal zu mir gesagt: “Vieles im Leben ist wie Jazzmusik. Es kommt auf die Pausen an.” Ich arbeite daher momentan daran, auch mal etwas Tempo herauszunehmen und mehr Pausen zu machen.

Gibt es eine perfekte Rede?

Wahrscheinlich nicht, aber eine Rede hat ihre Funktion erfüllt, wenn die Hauptaussage auch noch eine Woche später hängen geblieben ist. Und ansonsten gilt: Etwas Nachdenkliches sollte drin sein, etwas Anrührendes und, wenn es passt, auch etwas zum Lächeln.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 134 – Thema: Wahlkampffieber – Superwahljahr im Zeichen der Pandemie. Das Heft können Sie hier bestellen.