Xi Jinping hat ein neues Machtniveau erreicht

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Für diejenigen von uns, die die chinesische Politik von außen verfolgen, ist es oft schwierig oder sogar unmöglich, die Dinge in klarem Licht zu sehen. Denn was wir zu sehen bekommen, folgt einem akribischen Drehbuch, vergleichbar mit einer aufwändigen Bühnendramaturgie, in der die eigentliche Dramatik mit allen inneren Spannungen und Konflikten bewusst im Verborgenen gehalten wird.  
 
Die Sprache dieses Drehbuchs ist nicht wohlgeformt, sondern oft gekünstelt, starr und einfallslos, mit nahezu schwindelerregenden Abstraktionen wie zum Beispiel dem „Sozialismus chinesischer Prägung“. Zugleich wird diese Show dem Publikum als ruhmreich und epochemachend verkauft – etwa bei Ereignissen wie dem 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas im Oktober dieses Jahres.

Bei diesem Parteitag ließ es sich die staatliche Presse nicht nehmen, eifrig von den zahlreichen Wogen tosenden Applauses zu berichten, die Präsident Xi Jinping für seinen Politischen Bericht – eine Rede von nahezu dreieinhalbstündiger Dauer – erhielt. Der chinesische Online-Gigant Tencent brachte zu diesem Anlass sogar ein Spiel für mobile Endgeräte namens „Clap for Xi Jinping“ (Applaus für Xi Jinping) heraus, mit dem Benutzer dem Präsidenten während wichtiger Momente seiner Rede durch wildes Klopfen auf ihr Mobiltelefon virtuell Applaus spenden konnten.

Rhetorik aus der Ära Stalins

Das hölzerne Drehbuch des politischen Diskurses in China ist weit entfernt von Poesie, keine Spur von Goethe oder Shakespeare. Der Duktus stammt vielmehr in weiten Teilen aus der Ära Stalins. Wenn wir aber lernen, das Drehbuch zu lesen, wenn wir in der Lage sind zu erkennen, wie seine Sprache sich im Laufe der Geschichte und in Echtzeit verändert, dann lassen sich daraus aussagekräftige Informationen ableiten – und zwar die Art von Informationen, die uns vom Applaudieren abhalten sollten.
 
Im Politischen Bericht des 19. Parteitags der KPC gibt es einen hochrelevanten Indikator, der recht gut die Spielart des Diskurses und seine Bedeutung in der chinesischen Politik wiedergibt. Die Rede ist von Xi Jinpings „Leitlinie“, dem chinesischen Ausdruck für ein Führungstheorem, das der Partei- beziehungsweise Staatschef einführt, um seine Ideen darzustellen und sein Vermächtnis zu definieren.  
 
2014, als Xi gerade einmal ein gutes Jahr lang im Amt war, fiel auf, dass er in den staatlichen Medien bereits auf einem Niveau gefeiert wurde, wie wir es seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr gesehen hatten. Bei der Analyse des Aushängeschilds der KPC, der Zeitung „People’s Daily“, stellte ich fest, dass Xis Name sowohl auf der Titelseite als auch im Innenteil der Zeitung etwa doppelt so häufig genannt wurde wie die Namen seiner Vorgänger, Jiang Zemin und Hu Jintao, während deren jeweiliger Amtszeit.
 
Daher war die große Frage vor dem diesjährigen Parteitag – und damit zu Beginn von Xis zweiter Amtsperiode –, ob seine „Leitlinie“ (die normalerweise erst nach einer Amtszeit von mehreren Jahren bekannt gegeben wird) ihn gewissermaßen krönen, d. h. explizit seinen Namen beinhalten würde. In den Monaten vor dem Parteitag präsentierte ich eine Reihe von Möglichkeiten, wie dies – basierend auf dem vorherrschenden Diskurs – geschehen könnte. Im Extremfall, so spekulierte ich, könnte es sich bei der Krönung um einen „Xi-Jinping-Gedanken“ handeln, in Anlehnung an die Leitlinie von Mao Zedong selbst. Dies wäre ein klares Signal für eine erneute Zentralisierung der Macht in den Händen eines Einzelnen, wie es sie seit Maos Tod nicht gegeben hat.  
 
Und genau dieser letztgenannte Fall trat beim Parteitag im Oktober ein. Die Bedeutung dieses Schrittes ist kaum zu unterschätzen. In dem von Xi am Parteitag vorgetragenen Politischen Bericht wurde die „Leitlinie“ zwar ursprünglich ausgegeben als „Sozialismus chinesischer Prägung für eine neue Ära“ und „Gedanken über den Sozialismus chinesischer Prägung für eine neue Ära“. Als der Ausdruck dann allerdings in die Parteistatuten übernommen wurde, wurde Xis Name hinzugefügt, sodass der endgültige Ausdruck lautete: „Xi-Jinping-Gedanken über den Sozialismus chinesischer Prägung für eine neue Ära“. In der Berichterstattung der staatlichen Presse über die neue Leitlinie machte bereits kurz darauf die abgekürzte Version – „Xi-Jinping-Gedanken“ – die Runde.  
 
Dieser dramatische Wandel im Diskurs legt nahe, dass Xi Jinping ein neues Machtniveau erreicht hat – und zwar in einem Ausmaß, wie wir es seit Mao Zedong nicht mehr gesehen haben. Was aber hat Xi Jinping jetzt vor, wo er ein Macht- und Prestigeniveau besitzt, das beispiellos ist in der Reformära?  
 
In einigen Fällen kann der Diskurs Anhaltspunkte liefern: Der Ausdruck „Parteiführung“ erschien zum Beispiel so häufig in Xis Politischem Bericht, dass er nur übertroffen wurde von den vielen Erwähnungen der „neuen Ära“. Und in Anlehnung an einen anderen, ähnlichen Ausdruck, der Erinnerungen an Mao weckt, erklärte Xi Jinping: „Regierung, Militär, Gesellschaft und Bildung; Norden, Süden, Osten, Westen – sie alle unterliegen der Führung der Partei.“ 
 
Diese unmissverständliche Erklärung der Parteidominanz legt eindeutig nahe, dass Xi sich auch während seiner zweiten Amtsperiode weiterhin jedem Trend widersetzen wird, der interpretiert werden könnte als Gegenpol zur Machtposition und zum Zentralitätsprinzip der Partei – wie zum Beispiel größere Meinungsfreiheit, eine stärkere Zivilgesellschaft oder unabhängigere Gerichte – und im Zweifelsfall entsprechende Gegenmaßnahmen einleiten wird.  
 
Es gibt vieles, was wir nicht in klarem Licht sehen können. Daher ist es von großer Bedeutung, über die Aktionen von Xi Jinping hinaus auch dem chinesischen Diskurs aufmerksam zu folgen.