Wie sich die Redenkultur verändert hat

Praxis

In früheren Zeiten konnte es „eine gute Rede“ sein, wenn der Heerführer im Morgengrauen mit erhobenem Schwert die erste Reihe seiner Heerscharen abritt, ihre Schilde als Zeichen tiefer Verbundenheit berührte und in wenigen Sätzen darlegte, dass der Feind zu besiegen und es sowieso ein guter Tag zum Sterben sei. Pathos und Ethos waren die entscheidenden Überzeugungsmittel. Sie hatten große Kraft und erzeugten starke Stimmungen.

In der demokratischen Auseinandersetzung ist die Bedeutung des Logos größer. Reden sind Diskussionsbeiträge; ausdifferenzierte Argumentationen stellen den tieferen Kern des Parlamentarismus dar: Rede und Gegenrede, das gemeinsame Wechselspiel zwischen Überzeugung und Zweifel. In diesem Sinne ist eine gute Rede eine Rede, die überzeugt.

Dieses Credo gilt in der Praxis eher für Reden, die auf eine relativ stabile Vortragssituation abzielen und für ein definiertes Publikum entworfen werden. Der klassische Redeaufbau folgt über Jahrhunderte ausgefeilten Prinzipien und stellt auch ästhetische und moralische Ansprüche. So stellt sich das Idealbild der Arbeit von Redenschreibern dar.

In Reden geht es heute häufig nur um Stimmungsverstärkung

Inzwischen sind die Reden in den Parlamenten aber immer stärker davon geprägt, eigene Positionen zu unterstreichen und die der Konkurrenz lautstark zu verwerfen. Es geht oft nur um Stimmungsverstärkung, weniger um -prägung. Die Überzeugungskraft lässt dadurch nach und weicht einer darstellerischen parteipolitischen Pflichterfüllung. Nun waren auch Wahlkampfreden selten „große Reden“. Der eigentliche Wahlkampf findet aber auch immer zwischen den Wahlen statt.

Seit einigen Jahren ist manches anders. Aktuell ist die Erwartung an die Wahlkampfreden, die in den vergangenen vier Jahren entstandene Stimmung zu drehen. Diese Bundestagswahl ist auch eine Volksabstimmung zu einem politischen Thema: Migration. Und nun befinden wir uns plötzlich in einem Martial-Arts-Film mit harten Sätzen und derbem Verhalten, aufgepeitschten Emotionen und moralbefreiten taktischen Kniffen. Der Spannungsbogen hatte sich lange aufgebaut.

Ein amüsierter Blick auf die Skurrilitäten und die heftige Sprache in der Auseinandersetzung um den Brexit und die US-Präsidentschaft weicht immer mehr der Erkenntnis, dass diese Entscheidungen beständiger sind, als sie anfänglich wirkten. Sie haben Auswirkungen auf das Zusammenleben in diesen Ländern, sind also stimmungsprägend.

Die klassische Wahlkampfrede zerfällt in Module

Dies hat nun auch Einfluss auf die Reden und Auftritte im Wahlkampf in Deutschland. Die sozialen Medien spielen dabei eine große Rolle: Neue Formate werden in den Wahlkampfauftritten ausprobiert. Die klassische Wahlkampfrede zerfällt in Module, die in sich überzeugend aufgebaut sein müssen und vielfältig angewandt werden. Es gibt viel mehr die situative Rede in Dialogformaten als die vorbereitete.

Das stellt Redenschreiber vor erhebliche Herausforderungen, wenn es darum geht, Wahlkampfreden zu konzipieren, zumal situativ auch harsche Ablehnung, z. B. durch Trillerpfeifenkonzerte, die Dialogverweigerung signalisieren, einkalkuliert werden muss. Redenschreiber werden zunehmend zum Sparringspartner des Redners, sie antizipieren und entwickeln entsprechende Reaktionen.

Nachvollziehbar ist, dass Parteien im Wahlkampf auch auf kleinere Formate abheben. Die Ansprache wechselt von größeren Milieus zu kleinen Zielgruppen. Dementsprechend ändern sich auch die Instrumente: Alle Parteien haben Social-Media-Teams, kleinere geben relativ viel für die Auftritte in den sozialen Medien aus. Im Fernsehen kommen neue Stilelemente wie das vorzeitige Verlassen einer Sendung aus Protest auf.

Diese Entwicklungen werden von den klassischen Medien aufgegriffen, z. B. mit dem Format des ARD-Hauptstadtstudios „Frag selbst“. Es geht darum, durch persönliche Ansprache all jene zu erreichen, die sich von der institutionalisierten Politik offenbar nicht mehr angesprochen fühlen oder Nachrichten über Facebook etc. aufnehmen statt über die traditionellen Medien.

Für viele politische Botschaften gilt: Keep it simple. Donald Trump wurde belächelt, weil auch Viertklässler problemlos seinen Reden folgen konnten. Aber das war ziemlich clever. Die Linguistin Elisabeth Wehling, die seit mehr als zehn Jahren an der University of California (Berkeley) im Bereich Kognitionsforschung arbeitet, hat analysiert: Durchgesetzt hat sich bei der US-Präsidentschaftswahl derjenige mit dem niedrigsten Sprachniveau. Trumps Trick: Seine Sprache bleibt besser hängen und erzeugt Bilder, die Emotionen hervorrufen – ob der Zuhörer das will oder nicht (basic level cognition).

Wahlen beruhen auf Vertrauen, Transparenz und sozialem Miteinander. Dafür braucht es ein Minimum an rationalem Diskurs – oder man findet einen überzeugenden emotionalen Zugang. Die Politik tut sich mit dieser Stilvielfalt offenkundig noch schwer.