Wie die Berliner Blase sich heute trifft und austauscht

Netzwerke

Früher war politisches Netzwerken eine sehr exklusive Angelegenheit. Rauchgeschwängerte Hinterzimmer und noble Restaurants waren die Bühnen, auf denen Deals ausgehandelt und Allianzen geschmiedet wurden. Vor fast zehn Jahren beleuchtete ein Artikel in p&k die informellen Kreise und Zirkel, die ebenso exklusiv wie intransparent waren. Hier trafen sich Politiker, Journalisten und Wirtschaftsvertreter zum vertraulichen Austausch.

Autor Florian Lanz, der damals wie heute die Kommunikation des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherung verantwortet, nannte damals etwa den „Adlerkreis“, in dem sich Politikbevollmächtigte deutscher Industriekonzerne und Geschäftsführer großer Verbände seit 1972 austauschen. Damals leitete der heutige Lufthansa-Cheflobbyist Kay Lindemann die Runde, heute ist es Mercedes-Mann Eckart von Klaeden. Tradition hat auch die „Teppichhändlerrunde“, wo die Vorsitzenden der Unionslandesgruppen und soziologischen Gruppen um Personalien feilschen.

In den vergangenen Jahren hat sich etwas bewegt. Viele Netzwerke sind offener geworden, öffentlicher und irgendwie auch demokratischer. Dieser Trend ging allerdings nicht von der Szene selbst aus. Die großen Kräfte der Veränderung sind: ein jüngerer, weiblicher, insgesamt diverserer Bundestag, stärkere Kommunikation über Messenger und soziale Plattformen und eine veränderte Bedeutung von Treffen, Orten und Festen. Bei alldem hat nicht nur die Digitalisierung eine Rolle gespielt, sondern auch die Coronapandemie. Grund genug, einen neuen Blick zu riskieren. Was ist anders?

Das Netz vernetzt

„Zumindest was harte Politik betrifft, haben informelle Kreise an Bedeutung verloren“, sagt Axel Wallrabenstein, Partner bei MSL. Früher ist man kaum darum herumgekommen, sich über Gesetzesentwürfe und Personalentwicklungen in Hintergrundkreisen schlau zu machen, wenn man frühzeitig im Bilde sein wollte. Heute läuft da viel digital – und dort viel schneller.

Die Coronapandemie hat diesen Trend zweifellos entscheidend beschleunigt. Plötzlich waren persönliche Treffen tabu, und die Akteure mussten sich neu erfinden. Videokonferenzen und virtuelle Empfänge ersetzten die traditionellen Face-to-Face-Begegnungen.

Die Laber-App „Clubhouse“ trieb dieses Prinzip auf die Spitze. Dort schalteten sich die Wichtigen und Gernegroßen aus dem heimischen Lockdown-Exil in Sprachkanälen zusammen und veranstalteten allabendlich Talks mit tiefsten Einblicken. Hier erfuhr man, dass Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) während der Ministerpräsidentenkonferenz „Candy Crush“ daddelte. Weil die App nur auf persönliche Einladung anderer Mitglieder zugänglich war, wurden interessante Verbindungen öffentlich. Wer hat wen eingeladen? Wer hat noch Invite-Codes übrig?

Die Rückkehr zu Präsenzveranstaltungen hat „Clubhouse“ nicht überlebt. Wirklich belastbare zwischenmenschliche Beziehungen werden noch immer offline aufgebaut. „Das wichtigste Medium, um psychologisch das Gefühl zu haben, miteinander verbunden zu sein, ist der Augenkontakt. Der lässt sich nur vor Ort herstellen“, sagt Netzwerkforscher Harald Katzmair (siehe Interview). Trotzdem hat die Pandemie Netzwerkformate nachhaltig verändert. Auch ältere Semester, die sich mit neuen Technologien eher schwertun, belegten zwangsläufig ihren digitalen Crashkurs. Und all die anderen sozialen Netzwerke gibt es ja noch.

Heute ist die Whatsapp-Nachricht schneller als die E-Mail. Gleichwohl ist der schnelle Anruf noch immer die beste Option, auch wenn gerade die „Generation Z“ sich hier ziert, abzuheben.

Ab in die Gruppe

Soziale Apps spielen eine immer größere Rolle im politischen Alltag. Whatsapp-Gruppen sind zu digitalen Stammtischen geworden, in denen Informationen blitzschnell geteilt und Meinungen ausgetauscht werden. Der Anteil von Whatsapp-Nutzern an allen Internetnutzern in Deutschland lag 2023 nach Zahlen von „We Are Social“ bei rund 85 Prozent. Der Beitritt zu einer Whatsapp-Gruppe ist nur einen Klick weit entfernt. Man wird in Berlin-Mitte wohl kaum jemanden treffen, der die App nicht installiert hat.
Der politische Stammtisch ist deshalb aber nicht überflüssig geworden. Amelie Hipp, Head of Public Affairs bei MSL, sieht in der Whatsapp-Gruppe „eine sinnvolle und niedrigschwellige Ergänzung“ zu persönlichen Treffen. Auch andere sehen das so. „Das läuft weitgehend pa–rallel“, sagt David Issmer, Managing Director von Teneo. „Der persönliche Austausch ist durch nichts zu ersetzen.“

In einer Whatsapp-Gruppe gelten allerdings andere Regeln. Wem zu später Stunde in einem Berliner Hinterzimmer mal ein Spruch rausrutscht, kann darauf vertrauen, dass der Mantel des Schweigens ihn schützt. Anders in einer Chatgruppe. Die dokumentiert alles schwarz auf weiß und für immer. Die Anzahl der Skandale, die in der letzten Zeit von Whatsapp-Gruppen ausgelöst wurden, steigt. Die AfD kann ein Lied davon singen.

„Manche Themen sind im Stammtischgespräch besser aufgehoben“, sagt Christiane Rebhan, Politikjournalistin beim „Tagesspiegel“. „Gerüchte sollten nicht verschriftlicht werden.“ Vieles andere ist auch im persönlichen Gespräch besser aufgehoben – oder man behält es besser ganz für sich. Man denke hier an einschlägige Polizistenchats.

Zurück zur Politik. Als anderes Netzwerk hat sich Linkedin als professionelle Plattform für politische Akteure etabliert. Immer häufiger kommt es vor, dass auf Veranstaltungen nicht nur die Visitenkarten getauscht werden. Auch auf Linkedin trudeln in der Folge die Kontaktanfragen ein. Viele Nachrichten finden über den Linkedin-Chat genauso unmittelbar ihren Adressaten wie über Whatsapp. Das ist oft besser, als eine Mail im Dickicht eines E-Mailpostfachs zu versenken.

Weniger Leber

Doch wird Politik immer noch „mit der Leber gemacht“, wie es die ehemalige schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis einst formulierte? Man kennt das ja: je später der Abend, desto mehr sammeln sich Menschen um die Bar, die immer ungezwungener miteinander plaudern. Alkohol ist ein verlässliches Verbrüdungsschmiermittel – und hilft auch beim Verschwestern.

Aber die Buffets in Mitte wandeln sich. Ohne alkoholfreie Alternativen kann kein Veranstalter mehr eine Bar aufbauen. Der ehemalige SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert ist früher öfter beim Feiern gesichtet worden. Heute trinkt der 34-Jährige keinen Alkohol mehr. Bei seiner Arbeitsbelastung und den vielen Reisen brauche er so viel guten Schlaf, wie er kriegen könne, sagte Kühnert der „Neuen Zürcher Zeitung“.

Dazu passt die neue Einschätzung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, wonach es keinen Alkoholkonsum ohne Risiko gibt. Auch das Essen auf Veranstaltungen wird pflanzlicher. Heute kann es vorkommen, dass das Buffet vollständig vegetarisch oder gar vegan ist.

Jünger, weiblicher

Ein bedeutender Wandel ist die zunehmende Präsenz von Frauen in politischen Netzwerken. Laut Statistischem Bundesamt stieg der Frauenanteil im Bundestag von 20,5 Prozent im Jahr 1990 auf 36 Prozent heute. Frauen bringen andere Perspektiven ein und setzen neue Themen auf die Agenda. Das hat die Dynamik des Netzwerkens verändert. Frauen achten auf ihre Zeit, sie lassen sich nicht mit Steaks und Zigarren ködern. Um mit der Politik im Gespräch zu sein, müssen moderne Gesprächsformate her. Selbst der krawattenreiche Bundesverband der deutschen Indu­strie umgarnt mit Netzwerkevents wie „Women only in Economy and Politics“ gezielt Frauen.

Im Gegensatz zu den Boysclubs, die zunehmend leiser operieren, um sich keiner Kritik auszusetzen, können Frauennetzwerke wie Frauen 100 offen für sich werben. Das müssen sie auch. Während Männer sich ganz selbstverständlich in Gruppen zusammenfinden, wollen es viele Frauen noch alleine schaffen und verstehen Leistung als einzigen Weg, um im politischen Bereich erfolgreich zu sein. Dass diejenigen, die diese Vorstellung einst etablierten, sich selbst nie daran hielten und das auch heute nicht tun, wird oft vergessen.

Seit 2021 ist der Bundestag auch jünger. Lag das Durchschnittsalter der Abgeordneten seit 2005 immer über 49, sind die Abgeordneten des 20. Bundestages durchschnittlich 47,3 Jahre alt. Die „Generation Z“ bringt neue Kommunikationsgewohnheiten und Wertvorstellungen mit. Sie nutzt verstärkt Social-Media-Plattformen wie Instagram oder Tiktok, um politische Botschaften zu vermitteln und sich zu vernetzen.

Ein Beispiel ist der „Insta-Walk“ durch den Bundestag, bei dem junge Abgeordnete ihre Follower virtuell mitnehmen. Auch bei Netzwerkorten haben jüngere Bubble-Bewohner andere Vorlieben. „Erfahrene Führungskräfte gehen in schicke Restaurants oder tauschen sich beim Golfausflug aus, während junge Nachwuchstalente sich in der Lieblingsbar, im Park oder auf der Hausparty treffen“, sagt Anna Moors. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Bundestagsabgeordneten Armand Zorn (SPD) berät zur Kommunikation in junge Zielgruppen. „Diese Altersgruppen netzwerken zwar an anderen Orten, aber immer dort, wo es sich für sie authentisch anfühlt“, sagt sie.

Einige Interessenvertreter wurden davon kalt erwischt. Als sie die neuen Abgeordneten zu Beginn dieser Legislatur mit Einladungen zu herkömmlichen Netzwerkterminen eindeckten, dachten einige von denen gar nicht daran, dieses ritualisierte Spiel mitzuspielen. Stattdessen drehten Neuparlamentarier Videos für ihre Social-Media-Kanäle, in denen sie die Einladungen gut sichtbar durchgingen und am Ende in den Papierkorb geschmissen. Am besten greift man politisch Aktive deshalb immer noch über Themen.

Es war mir ein Fest

Wichtig sind dazu nach wie vor die großen Sommerfeste in Berlin. Doch auch hier ist Wandel: Früher dienten Events dazu, sich mit potenziellen Kontakten bekannt zu machen. Da sind digitale Kontaktaufnahmen heute oft niedrigschwelliger. Noch sind gerade die bedeutenden Sommerfeste aber der beste Weg, um ähnlich dem Speeddating in kurzer Zeit viele interessante Menschen kennenzulernen – oder die bereits bestehenden Beziehungen über einen Drink aufzufrischen. Ziel der Berlin-Mitte-Bubble ist es, auf möglichst vielen (und den richtigen) E-Mail-Verteilern zu landen und so Zugänge zu bekommen.

Dass Berufe familienfreundlicher werden sollen, fordern nicht nur Arbeitnehmer in der Wirtschaft. Vor der politischen Bubble macht dieser Trend nicht halt. Das beeinflusst die Zeiten und Orte des Netzwerkens. Statt später Abende an der Bar werden häufiger Frühstückstreffen oder Lunch-Dates ausgemacht. Sowohl Frauen als auch Männer legen größeren Wert darauf, Politik und Privatleben zu vereinbaren. Während Verbände und Unternehmen hier mehr Freiheit haben, bestimmt für Berufspolitiker noch stärker der Job den Takt.

Trotz der Digitalisierung haben gute Netzwerker immer noch einen Informationsvorsprung. Wer die richtigen Kontakte hat, erfährt oft früher von politischen Entwicklungen oder kann Entscheidungen beeinflussen. Allerdings ist dieser Vorsprung flüchtiger geworden. In Zeiten von Twitter und Co. verbreiten sich Nachrichten rasend schnell, das große Angebot von Briefings und Newslettern trägt einen hohen Grad an Informiertheit auch in die Breite. Politische Akteure müssen ständig präsent sein und schnell reagieren. Das Handy schalten am Wochenende wohl auch die Politikprofis kaum aus, die sich Entschleunigung fest vorgenommen haben.

Neben den klassischen Lobbyplayern mischen NGOs und Thinktanks immer stärker beim Netzwerken mit und gewinnen an Einfluss. Sie nutzen innovative Formate und digitale Kanäle, um ihre Agenda voranzutreiben. Viele dieser Organisationen haben ihre Büros strategisch in Regierungsnähe angesiedelt. Von dort aus organisieren sie Fachkonferenzen, Podiumsdiskussionen und Hintergrundgespräche. Diese Events ziehen Politiker, Journalisten und Wirtschaftsvertreter gleichermaßen an. Die Thinktanks positionieren sich als Ideengeber und Vermittler zwischen verschiedenen Interessengruppen.

Parallel dazu haben NGOs und Thinktanks eine digitale Präsenz aufgebaut. Sie produzieren Podcasts, betreiben eigene Youtube-Kanäle und sind in sozialen Medien sehr aktiv. Kurz: Sie sorgen selbst dafür, stattzufinden. Gleichzeitig nutzen sie die Plattformen, um direkt mit Entscheidungsträgern ins Gespräch zu kommen. Für die sind diese Kanäle eine willkommene Bühne. Wie früher gibt es natürlich auch hier Gelegenheit für ausführliche Vorgespräche, in denen man sich besser kennenlernt und die eine oder andere Information austauscht.

Das alte Netzwerk bleibt

Die neue Dynamik im Netzwerken macht es unverbindlicher und chaotischer. Netzwerker jonglieren mit einer Vielzahl von Kanälen, um relevant und informiert zu bleiben. Die Halbwertszeit von Informationen und Kontakten sinkt. Was gestern noch ein exklusiver Insidertipp war, weiß heute schon jeder im Restaurant Borchardt.

Deshalb behalten die traditionellen, oft mühsam aufgebauten Netzwerke ihren Wert. Sie bieten eine Verlässlichkeit, die in der digitalen Welt oft fehlt. Vertrauensvolle persönliche Beziehungen bleiben ein Schlüssel zu sensiblen Informationen und echtem Einfluss. Gerade in Krisenzeiten zeigt sich die Belastbarkeit dieser gewachsenen Strukturen. Früher galt: Gleich und gleich gesellt sich gern. Das kann sich heute keiner mehr leisten. Diversere Netzwerke holen zunehmend auch Gruppen an den Tisch, die lange unsichtbar waren. Auch wenn der Weg hier noch weit ist.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 148 – Thema: Netzwerke. Das Heft können Sie hier bestellen.