Wer ist hier der Boss?

Politik

Lange Zeit hieß es in Politik, Medien und Wissenschaft, ein Bundeskanzler müsse zugleich Vorsitzender seiner Partei sein. Das war ein Relikt der Wahrnehmung, in der Bundesrepublik herrsche eine „Kanzlerdemokratie“. Ein Kanzler, der mit einem ebenbürtigen Parteifreund zurechtkommen müsse, sei in seinen Handlungsmöglichkeiten beschränkt. Die ersten drei Bundeskanzler – Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger – waren zugleich Vorsitzende der CDU. Willy Brandt führte als SPD-Vorsitzender seine Partei in die sozialliberale Koalition. Besonders die langen Amtsjahre von Adenauer, Helmut Kohl und Angela Merkel als Bundeskanzler festigten den Glauben, das Parteiamt sei die machtpolitische Basis der Kanzlerschaft. Parteivorsitzende führen Verhandlungen mit Koalitionsparteien und entscheiden über die Vergabe von Ministerposten. In der politischen Wirklichkeit ist die verfassungsrechtliche Richtlinienkompetenz des Kanzlers jedoch nicht grenzenlos.

Kann Olaf Scholz dennoch von Glück reden, dass er nur Kanzler und nicht auch noch Parteichef ist? Bei der Europawahl 2019 landete die SPD mit 15,8 Prozent auf Platz drei hinter den Unionsparteien und den Grünen – das bis dahin schlechteste Ergebnis der Sozialdemokraten bei bundesweiten Wahlen. Die Folge: Andrea Nahles, die Partei- und Fraktionsvorsitzende, wurde zum Verzicht auf ihre Ämter getrieben. Wenige Monate ist es her, da schnitt die SPD bei der Europawahl noch schlechter ab: 13,9 Prozent, abermals Platz drei, dieses Mal hinter der CDU und der AfD. Trotz Kritik an Bundeskanzler Olaf Scholz gab es keine personellen Konsequenzen – auch aus Rücksicht auf die anstehenden Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im September.

Die Parteivorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil behielten ihre Ämter, ebenso wie Generalsekretär Kevin Kühnert und der Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich und natürlich Bundeskanzler Olaf Scholz, obwohl der Kanzler während des Europawahlkampfes auf Plakaten zu sehen war. Schon Anfang des Jahres forderte die SPD-Bundestagsfraktion Scholz auf, angesichts des gesunkenen Ansehens von Regierung und SPD mehr Führung und bessere Kommunikation an den Tag zu legen. Nach der Europawahl wurde das wiederholt: Die sozialdemokratische Handschrift in der Regierungspolitik müsse deutlicher werden. Doch was wäre gewesen, wenn der Kanzler zugleich Parteichef wäre? Ratschläge, auf den Parteivorsitz zu verzichten, hätten nahegelegen: Beide Aufgaben seien eine Überforderung; Scholz könne sich nicht ausreichend um die Partei kümmern; er müsse sich auf die Kanzlerschaft konzentrieren und das Parteiamt abgeben.

Die Auffassung, beide Ämter gehörten in eine Hand, erhielt in der zweiten Phase der sozialliberalen Koalition besondere Nahrung. 1974 wurde nach Willy Brandts Rücktritt Helmut Schmidt Bundeskanzler, Brandt aber blieb SPD-Vorsitzender. Beide Sozialdemokraten setzten unterschiedliche Akzente: Schmidt erschien als Pragmatiker alltäglicher Regierungsarbeit. Brandt legte Wert darauf, über den Tag hinaus zu wirken. Schmidt wurde vom „rechten“ Flügel der SPD getragen, Brandt von der (meist jugendlichen) Parteilinken. Auf Parteitagen wurden Beschlüsse gefasst, die nicht der Linie des Kanzlers entsprachen. Auch damit begründete die FDP 1982, warum sie die Koalition mit der SPD aufkündigte.

Kommentare damals lauteten, das wäre nicht geschehen, wenn Schmidt darauf bestanden hätte, von Brandt nicht nur die Kanzlerschaft, sondern auch den Parteivorsitz zu übernehmen. Schmidt selbst sah das später differenzierter. Ob er es bedauere, in seiner Zeit als Regierungschef nicht zugleich SPD-Vorsitzender gewesen zu sein? „Aus der Rückschau“, sagte er 2013 dem Autor dieses Textes, sei dieser Umstand „nicht so wichtig“ gewesen. Natürlich sei es „kein Schaden“ für seine Vorgänger gewesen, auch Parteivorsitzende gewesen zu sein. Doch er schränkte ein: „Manches wäre leichter, manches jedoch auch schwieriger geworden.“ Tatsächlich wäre es Schmidt schwergefallen, die Doppelrolle auszufüllen. Die Parteibasis wandte sich von seiner Politik ab – zumal in Fragen der Nutzung der Kernenergie, der Wirtschafts- und der Sicherheitspolitik. Schmidt war mehr ein Mann der Exekutive als der Partei. Trotzdem funktionierte die Zusammenarbeit mit Brandt über acht Jahre. Keine kurze Zeitspanne in der Politik.

Helmut Kohl war das Gegenteil seines Vorgängers Schmidt. Die CDU war ihm eine Heimat, wie er zu sagen pflegte. Ein Instrument der Macht freilich war sie auch. Den CDU-Vorsitz strebte er an, um Kanzler zu werden. 1989 zeigte sich, wie wichtig ihm der Parteivorsitz als Grundlage seiner Macht war. Nach verlorenen Landtagswahlen und wegen eigenen Ungeschicklichkeiten führte sein Generalsekretär Heiner Geißler eine Gruppe von Christdemokraten an, die eine Trennung der beiden Ämter anstrebte. Kohl solle den Parteivorsitz abgeben, Bundeskanzler könne er bleiben. Kohl sah es anders. Auf einem Parteitag setzte er sich durch – mit Härte, Chuzpe und unter Verheimlichung von Schmerzen, die von einer Prostataerkrankung herrührten. Drei Gründe waren für ihn ausschlaggebend.

Innerhalb der CDU wollte er keine Schwäche zeigen, sondern Chef bleiben. Gegenüber der CSU wollte er als Parteivorsitzender auftreten. Innerhalb der schwarz-gelben Koalition wollte er die kleineren Partner – CSU und FDP – gegeneinander ausspielen, was aus seiner Sicht nur aus der Position des Parteivorsitzenden gelänge. Bis 1998 funktionierte dieses System.

Gerhard Schröder ging einen anderen Weg. 1993 bewarb er sich bei einem SPD-Mitgliederentscheid nur deshalb um den Parteivorsitz, um Kanzlerkandidat zu werden. Doch er unterlag Rudolf Scharping. Nach dessen Sturz und einem Machtkampf mit dem neuen Parteichef Oskar Lafontaine erreichte Schröder sein Ziel. 1998 wurde er Kanzler, Lafontaine blieb Parteivorsitzender. In der Annahme, er könne Schröder domestizieren, übernahm Lafontaine zusätzlich das Amt des Bundesfinanzministers.

Doch die beiden mächtigsten Sozialdemokraten fanden kein Auskommen miteinander – weder politisch noch persönlich. Lafontaine zog die Konsequenz. Im März 1999, ein halbes Jahr nach der Bundestagswahl, legte er beide Ämter nieder. Schröder, der Bundeskanzler, hatte zusätzlich das Amt des SPD-Vorsitzenden zu übernehmen. Die wenigen Monate der missglückten Ämtertrennung galten zunächst als Beleg dafür, dass beide Aufgaben wie einst bei Kohl in eine Hand gehören. Doch es kam anders. Schröder gelang es nicht, die Doppelrolle auszufüllen. Wegen seiner Reformpläne für die Sozialsysteme („Agenda 2010“) und auch wegen verlorener Landtagswahlen wandte sich die SPD zunehmend von ihm ab. Das Amt des Parteichefs half ihm nicht. Auf einem Parteitag im Herbst 2003 wurde er nur mit einem mäßigen Ergebnis von 80 Prozent im SPD-Vorsitz bestätigt.

Seine wichtigsten Helfer, Generalsekretär Olaf Scholz und Wolfgang Clement, stellvertretender SPD-Vorsitzender und „Superminister“ für Arbeit und Wirtschaft, wurden abgestraft: Nicht einmal 60 Prozent der Stimmen bekamen sie. Franz Müntefering, der Fraktionsvorsitzende, („Fraktion gut, Partei gut, Glück auf“) aber wurde gefeiert. Schröder zog die Konsequenz. Wenig später überließ er Müntefering den SPD-Vorsitz. Obwohl Müntefering befürchtete, die Funktionäre der SPD könnten ihn, den Parteichef, und Schröder, den Bundeskanzler, gegeneinander ausspielen, arbeiteten beide weitgehend einvernehmlich zusammen. Jeder achtete die Zuständigkeiten des anderen.

Angela Merkels erste Reaktion auf Schröders Verzicht war, er sei ein „Autoritätsverlust auf ganzer Linie“ und der „Anfang vom Ende von Rot-Grün“. Diese Einschätzung erwies sich nur bedingt als richtig. Zwar endeten die rot-grüne Regierungszeit und Schröders Kanzlerschaft mit der Bundestagswahl 2005. Doch an der Schröder-Müntefering-Ämterteilung lag es nicht. Merkels Vorbild aber war Helmut Kohl. Nach den CDU-Spendenaffären übernahm sie 2000 den Parteivorsitz und später den CDU/CSU-Fraktionsvorsitz. 2005 wurde sie Bundeskanzlerin. Vom Kanzleramt aus führte sie die Partei. Bis 2018 ging es gut. Merkels Getreuer Volker Kauder wurde als Fraktionschef abgewählt. Die CDU verlor Landtagswahlen. Merkel, obwohl noch CDU-Vorsitzende, hatte die Partei nicht mehr in der Hand. Wie Schröder gab sie das Parteiamt unfreiwillig ab. Merkel sagte, sie weiche damit „in einem ganz erheblichen Maß von meiner tiefen Überzeugung“ ab, beide Ämter gehörten in eine Hand.

Zwar wurde mit Annegret Kramp-Karrenbauer eine CDU-Politikerin zur neuen Parteivorsitzenden gewählt, die von Merkel und ihrem Lager unterstützt wurde, weshalb Merkel angab, es sei vertretbar, das Wagnis der Ämtertrennung einzugehen. Doch die Sache ging schief. Ständig wurden Reibereien öffentlich. Als 2019 Ursula von der Leyen nach Brüssel wechselte und eine Nachfolge im Amt des Verteidigungsministers gesucht wurde, nutzte Kramp-Karrenbauer ihr Parteiamt, um ins Bundeskabinett einzurücken – an Merkel vorbei. So ist das eben: Laut Koalitionsverträgen ist die Vergabe von Ministerposten eine Sache der Parteien – und damit ihrer Führungen und Vorsitzenden.

Ist bei Olaf Scholz alles anders? Nach dem Rücktritt von Andrea Nahles 2019 wollte er eigentlich nicht SPD-Vorsitzender werden. Erst als sich kaum taugliche Kandidaten für die Mitgliederbefragung gemeldet hatten, warf er den Hut in den Ring. Da die beiden Sieger, Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, als Kanzlerkandidaten nicht in Betracht kamen (und das auch einsahen), wurde er Kandidat und dann Kanzler. Auch die nun amtierende SPD-Doppelspitze Esken und Lars Klingbeil akzeptiert Scholz, den Regierungschef, als eigentliche Führungsfigur sozialdemokratischer Politik. An der Trennung von Parteivorsitz und Kanzleramt liegen Zustand und Umfragewerte von SPD und Bundesregierung nicht. Verantwortung und Last sind auf viele Schultern verteilt. Die Ämtertrennung kann auch ein Schutzschild für die Betroffenen sein. Vorläufig?

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 148 – Thema: Netzwerke. Das Heft können Sie hier bestellen.