Was im Ausland ­passiert, bleibt nicht im Ausland

Politik

Nie Dagewesenes in der Geschichte der Bundesrepublik hat sich im Oktober ereignet: Führende Politiker einer Bundesregierung fochten interne Koalitionsstreitigkeiten im Ausland aus. Während Olaf Scholz (SPD) und Robert Habeck (Grüne) in Neu-Delhi weilten, befand sich Christian Lindner (FDP) in Washington. Habecks Vorstoß, deutsche Unternehmen mit Steuersenkungen zu Investitionen anzuregen, nannte Lindner ein „Zeichen von konzeptioneller Hilflosigkeit“.

Die FDP lud – kurz vor Scholz’ geplantem Gipfeltreffen mit der deutschen Industrie – zu einem eigenen wirtschaftspolitischen Forum ein. Vizekanzler Habeck kommentierte schnippisch: „Ich brauche keine Gipfel.“ Und Scholz bemerkte: „Wir müssen wegkommen von den Theaterbühnen.“

Jeder der drei Führungsleute gab an, nichts von den Plänen der anderen gewusst zu haben. Von Berlin aus schalteten sich ihre Parteifreunde ein – natürlich. Schön war die Antwort von Scholz auf die Frage, ob die Ampelkoalition noch gemeinsam Weihnachten feiern werde: „Weihnachten wird immer gefeiert.“

Innenpolitik macht keine Pause

Wenn Bundeskanzler und andere Spitzenpolitiker sich amtsgemäß auf Auslandsreisen befinden, stellt sich ihnen die Frage, wie sie es zeitgleich mit Angelegenheiten der deutschen Innenpolitik halten. Die Innenpolitik macht keine Pause. Parteifreunde und die Medien sowieso erwarten Stellungnahmen, Bewertungen und Festlegungen – auch wenn ihre Führungsleute fern der Berliner Untiefen anderen Verpflichtungen nachkommen.

Auftritte bei den Vereinten Nationen in New York oder an anderen Orten geraten schnell in den Hintergrund, wenn in Berlin die Hütte brennt. Mitunter wird gar unterstellt, ein Kanzler drücke sich vor seiner Verantwortung, wenn er sich auf der Bühne der Weltpolitik sonnt, sich zu den an ihn gerichteten innenpolitischen Erwartungen aber in Schweigen hüllt. Einst gab es die Tradition, wonach Spitzenpolitiker sich vom Ausland aus nicht zu deutschen Angelegenheiten zu äußern haben. Ist davon noch was übrig?

Diplomatische Balance und innenpolitische Zwänge

Gute Gründe sprachen einst für Zurückhaltung. Auslandsreisen des Kanzlers sind keine touristischen Ausflüge. Gespräche, Reden und Verhandlungen erfordern sorgfältige Vorbereitung. Gastgebern gegenüber gebietet es die Höflichkeit, nicht den Eindruck zu erwecken, der Besuch sei nur Nebensache.

Doch auch Stellungnahmen zur deutschen Innenpolitik müssen durchdacht sein. Eine Nebensache sind auch sie nicht. Informationen aus Berlin müssen eingeholt werden. Nebenwirkungen sind zu bedenken. Zwecke der Auslandsreise drohen in den Hintergrund zu rücken, wenn das innenpolitische Agieren im Ausland weitere Auseinandersetzungen nach sich zieht. Dazu kommen noch Zeitverschiebungen. Nicht zuletzt signalisiert ein Kanzler durch Zurückhaltung, dass er sich von Medien nicht zu unbedachten Äußerungen treiben lässt.

Andererseits bleiben Kanzler und andere Berliner Spitzenpolitiker auch im Ausland innenpolitische Akteure. Manche Gelegenheiten und Anlässe sind ihnen zu wichtig, sie können sie sich nicht entgehen lassen. Bisweilen sehen sie sich auch von Erwartungen daheim genötigt, vom Ausland aus Erklärungen zur Innenpolitik abzugeben. Nicht zuletzt ist Außenpolitik stets auch Innenpolitik – samt ihrer parteipolitischen Implikationen. Auch deshalb legen seit mehr als fünfzig Jahren die kleineren Koalitionspartner einer Bundesregierung Wert darauf, den Außenminister zu stellen.

Scholz aus dem Ausland

Bei Bundeskanzler Olaf Scholz mehrten sich die Fälle, sich auf Auslandsreisen zur Innenpolitik zu äußern. Kürzlich in Kasachstans Hauptstadt Astana kommentierte er die Nominierung von Friedrich Merz zum Kanzlerkandidaten der Union mit der Bemerkung: „Es ist mir recht, wenn Herr Merz der Kanzlerkandidat der Union ist“. Damit nahm er (nicht ganz nebenbei?) seine eigene abermalige Kanzlerkandidatur vorweg.

Wenig später, während eines Besuchs des Kanzlers bei den Vereinten Nationen in New York, wählten die Brandenburger ihren Landtag. Am Wahlabend von Brandenburg war es in New York noch Nachmittag. Dort wollte Scholz das Ergebnis (vom Ausland aus!) zunächst nicht kommentieren. Doch zwischen zwei Terminen hielt ihm ein „Politico“-Reporter sein Aufnahmegerät hin – wie er das Ergebnis der SPD denn bewerte? Scholz murmelte im Vorübergehen, es sei ein „tolles Ergebnis, für die SPD und uns alle“.

Das Video dieses Moments gelangte über soziale Netzwerke nach Berlin. Dort wollten SPD-Parteiführung und der brandenburgische SPD-Spitzenkandidat Dietmar Woidke die Wortwahl des Kanzlers nicht übernehmen. Später drängten die deutschen Journalisten in New York auf ein Scholz-Statement zur Wahl. In einem Hintergrundgespräch in New York wurde ihnen angekündigt, Scholz werde nun doch Stellung zum Wahlausgang nehmen. Am Hotel wurden Mikrofone aufgebaut.

Der Form nach äußerte sich Scholz zunächst zu seinen Vorstellungen zur Zukunft der Vereinten Nationen – dem offiziellen Anlass seiner Reise. Die erste Frage aber betraf die Wahl in Brandenburg. Scholz würdigte dann – wie seine Parteifreunde in Berlin – den Wahlerfolg von Dietmar Woidke. Seiner eigenen Bundesregierung stünden große Herausforderung bevor. Er wolle bei der Bundestagswahl 2025 wiederholen, was ihm schon 2021 gelungen sei – nämlich stärkste Kraft im Bundestag zu werden. Kämpfen lohne sich. Das „Wording“ aus dem Willy-Brandt-Haus übernahm er.

Reporter lieben das Innenpolitische

Olaf Scholz wurde auf seiner Reise auch zu anderen Themen befragt: dem möglichen Einstieg der Unicredit-Bank in die Commerzbank („Unfreundliche Attacken, feindliche Übernahmen sind nicht das, was für Banken eine gute Sache ist“) und die Lieferung von weitreichenden Raketen an die Ukraine, die er weiterhin ablehne. Seine kommunikativen Pflichten hatte er erfüllt.

Die deutschen Reporter hatten ihre Zitate. Scholz wirkte fast wie ein amerikanischer Präsident. US-Staatschefs werden von begleitenden White-House-Journalisten auf Auslandsreisen selten zum Reiseanlass befragt. Stattdessen dominieren Fragen zur US-Innenpolitik, die für das heimische Publikum Vorrang haben.

Deutsche Reporter sehen das ähnlich. Sie begleiten Kanzler und Bundesminister nicht bloß wegen außenpolitischer und internationaler Belange, sondern zumeist – manchmal auch in erster Linie – wegen innenpolitischer Fragestellungen. Die Devise scheint klar: Wer interessiert sich schon für Deutschlands Verhältnis zu Kasachstan oder die Vereinten Nationen, wenn in Berlin die Ampelkoalition auf der Kippe steht?

Wenn Berlin die Bühne bestimmt

Ereignisse in Deutschland beeinflussen oft die Auslandsreisen von Kanzlern und Ministern. 1989 brach Helmut Kohl seinen Besuch in Polen ab, als in Berlin die Mauer geöffnet wurde. Als Gerhard Schröder in China weilte, entbrach daheim zwischen den rot-grünen Koalitionspartnern ein Zwist über die Hanauer Nukem-Alkem-Atomfabriken, der Teile der Delegation und viele der begleitenden Journalisten dermaßen beschäftigte, dass sich die Wirtschaftsdelegation empörte: Die Abschlüsse ertragreicher Handelsabkommen gerieten in den Hintergrund.

Bei Schröder und Merkel spielten Themen wie Rüstungsexporte auf Auslandsreisen oft eine Rolle. Beide mussten stets die Reaktionen an der heimatlichen Politikfront berücksichtigen. Ähnlich war es, wenn Kanzler im Ausland die Lage der Menschenrechte ihrer besuchten Länder thematisierten. Robert Habecks „Diener“ bei der Begrüßung durch den Handelsminister in Katar sorgte in Berlin für Debatten, ob der deutsche Vizekanzler gekatzbuckelt habe.

Außenministerin Annalena Baerbock wiederum gab in Washington in einem Interview mit CNN bekannt, sie werde nicht ein weiteres Mal Kanzlerkandidatin sein – Habeck müsse ran. Als sie später in New York war, äußerte sie – wie ihre Parteifreunde zu Hause – „Respekt“ über den Amtsverzicht der Grünen-Vorsitzenden Omid Nouripour und Ricarda Lang.

Merkels kommunikative Zurückhaltung

Angela Merkel hielt sich in ihrer Kanzlerschaft weitgehend an die Tradition, sich im Ausland nicht zur Innenpolitik zu äußern – zumindest öffentlich. Ausnahmen betrafen allenfalls unspektakuläre Nebensächlichkeiten. Den innenpolitischen Interessen der „Begleitpresse“ kam sie gleichwohl nach. Auf der Hinreise lud Merkel die Journalisten in die Besprechungskabine zu einem Hintergrundgespräch. Dort ging es um Anlass, Zweck und Ablauf der Reise. Erst auf dem Rückflug gab es ein – meist eine knappe Stunde langes – Hintergrundgespräch zur Innen-, Koalitions- und Parteipolitik. Im Laufe ihrer Kanzlerschaft rückte es an die Stelle ihrer üblichen Hintergrundgespräche für die Berliner Büroleiter von Fernsehen, Hörfunk und Zeitungen, zumal die Schnittmenge von Büroleitern und Begleitpresse groß war.

Eine sensationelle Ausnahme der öffentlichen Schweige­tradition freilich ging in die Geschichte Merkels und der CDU ein. Im Februar 2020 war im Landtag von Thüringen der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit den Stimmen von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten gewählt worden. Merkel weilte in Südafrika. Im Beisein des südafrikanischen Regierungschefs Cyril Ramaphosa nutzte Merkel eine Pressekonferenz, sich von den Vorgängen in Erfurt zu distanzieren. Ungefragt gab sie eine Erklärung ab.

„Die Wahl dieses Ministerpräsidenten war ein einzigartiger Vorgang, der mit einer Grundüberzeugung gebrochen hat für die CDU und auch für mich, nämlich dass keine Mehrheiten mithilfe der AfD gewonnen werden sollen“, sagte sie in Pretoria. „Da dies absehbar war in der Konstellation, wie im dritten Wahlgang gewählt wurde, muss man sagen, dass dieser Vorgang unverzeihlich ist und deshalb auch das Ergebnis wieder rückgängig gemacht werden muss.“

Merkel fügte an: „Es war ein schlechter Tag für die Demokratie. Es war ein Tag, der mit den Werten und Überzeugungen der CDU gebrochen hat, und es muss jetzt alles getan werden, damit deutlich wird, dass das in keiner Weise mit dem, was die CDU denkt und tut, in Übereinstimmung gebracht werden kann. Daran wird in den nächsten Tagen zu arbeiten sein.“ Wenig später trat Kemmerich zurück und auch die da noch amtierende CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer war nachhaltig desavouiert.