Herr Katzmair, Sie erforschen Netzwerke nun seit drei Jahrzehnten. Was ist die größte Veränderung in diesem Zeitraum?
Harald Katzmair: Netzwerke heute sind viel stärker loyalitätsgetrieben als noch vor zwanzig Jahren. Damals, Anfang der Nullerjahre, gab es eigentlich eine Öffnung der politischen und wirtschaftlichen Netzwerke. Start-ups waren cool und es sah so aus, als könnten die alten Netzwerke und Seilschaften offener werden für neue Mitglieder. Aber aktuell sehen wir eine Abkehr. Die Menschen versuchen eher, ihre Position in den Machtzyklen zu festigen. Das führt zu einer stärkeren Innenorientierung.
Woran liegt das?
Katzmair: In den Nullerjahren hatten wir einen wirtschaftlichen Frühling. Geld musste ausgegeben werden, neue Ideen florierten: Da ist es immer einfacher anzudocken als Neuling. Aktuell haben wir eine Wirtschaftsflaute und da geht es darum, bestehende Machtpositionen zu verteidigen. Niemand hat gerade Lust, tolle neue Kontakte zu knüpfen. Das finde ich schade, weil es so schwieriger ist, Geld und Einfluss an die Menschen zu geben, die wirklich gute Ideen haben, Start-ups beispielsweise.
Was sind die Folgen aus Ihrer Sicht?
Katzmair: Die aktuelle Situation führt zu einem Gap: Die neuen Netzwerke von Start-ups oder Influencern haben zwar Aufmerksamkeit durch beispielsweise Social Media, doch ihnen fehlt es an zwei wichtigen Faktoren: Kapital und Macht. An die kommen sie aufgrund der stärkeren Innenorientierung zurzeit noch schwieriger als zuvor. Gleichzeitig gibt es die alten, mächtigen Netzwerke noch, in denen es Kapital und Einfluss in die wichtigen Machtzirkel gibt, denen es aber an Aufmerksamkeit fehlt. Wir haben also eine Influencer-Generation und dann die Old-Dude-Netzwerke, die ihre Position vehement verteidigen. Das wird nicht ewig so sein, es wird einen Kipppunkt geben, ab dem neue Netzwerke wichtig sind. Aber der ist noch nicht erreicht und solange er nicht erreicht ist, stagnieren neue Ideen und Einflüsse ein wenig.
Es ist wichtig, sich frühzeitig ein Netzwerk aufzubauen, um im richtigen Moment schlagfertig zu sein. Was macht denn einen guten Netzwerker aus Ihrer Sicht aus?
Katzmair: Wichtig ist zu wissen, was man will, welche Vision man hat und selbstkritisch zu hinterfragen: Was kann ich eigentlich in eine Beziehung einbringen? Das ist der Grundstein eines guten Netzwerkers. Dicht gefolgt ist die Neugierde: Sie müssen ehrlich und neugierig auf neue Menschen und Chancen sein. Ich rede nicht nur von Small Talk, sondern ernstem Interesse, das auch mal in die Tiefe geht. Dritter Punkt: Ein guter Netzwerker baut sich ein Netzwerk, in dem er etwas lernt. Sich nur mit Gleichen zu umgeben, hilft wenig bis gar nicht. Schauen Sie also, dass das Netzwerk zwar das gleiche Ziel verfolgt, sich aber aus unterschiedlichen Berufen, Herkünften und so weiter zusammensetzt. Und ganz wichtig: Wenn Sie Netzwerke aufbauen, brauchen Sie auch Menschen, die mit Ihnen durchs Feuer gehen würden. Diese Beziehungen müssen schwierige Gespräche aushalten und müssen ein Safe Space sein, in dem Sie Geheimnisse teilen können. Das ist der Anker eines jeden guten Netzwerks. Wenn Sie solche Leute nicht haben, wird auch Ihr Netzwerk in schwierigen Zeiten nicht halten.
Sagen wir, ich ziehen in eine neue Stadt. Wie baue ich mir Netzwerk auf?
Katzmair: Das wichtigste Mittel, um ein Netzwerk aufzubauen, ist, Leute gegenseitig vorzustellen. „Ich kenne den und den und ich bringe euch zusammen“: Das sind die Sätze, die Sie eigentlich ständig sagen sollten. Oftmals ist aber genau das ein Hemmnis in der westlichen Kultur. Wir haben extrem Angst, dass uns etwas verloren geht, wenn wir zwei Menschen miteinander verbinden. Da schwingt auch die Sorge mit, dass man künftig kein Teil dieser Beziehung ist, dass die vielleicht ganz anders und besser miteinander arbeiten können. Doch diese Annahme ist falsch! Wenn ich Person A mit Person B bekannt mache, dann profitiere ich als Person C immer. Diese Dreiecksbeziehungen sind das Entscheidende. In der Forschung nennen wir das die indirekte Reziprozität, also indirekte Wechselseitigkeit.
Irgendwo muss ich die Menschen A und B kennenlernen. Ist Linkedin eine Möglichkeit?
Katzmair: Sie können am Marktplatz von Linkedin Aufmerksamkeit gewinnen, indem Sie etwas Relevantes posten und sich Respekt verschaffen. Das ist ein guter und einfacher Schritt. Aber Sie müssen verstehen: Die wahre Macht ist nicht auf Linkedin zu Hause. Da können Sie noch so schöne Bilder von sich mit ein paar Emojis posten. Wenn Sie wirklich Macht, Einfluss und Kapital gewinnen wollen, müssen Sie woanders schauen.
Sie würden also Offline-Networking bevorzugen?
Katzmair: Es ist eine Notwendigkeit. Das wichtigste Medium, um psychologisch das Gefühl zu haben, miteinander verbunden zu sein, ist der Augenkontakt. Der lässt sich nur vor Ort herstellen, genauso wie die Co-Präsenz im selben Raum und zur selben Zeit zu sein. Diese Synchronität verbindet uns und lässt uns gemeinsame Erinnerungen schaffen, die die Beziehung stärken. Und genau das wollen wir ja. Bei sozialen Medien wie auch dem Smartphone entsteht diese Synchronität nie, weil einer morgens schreibt, ein anderer abends antwortet und man dann noch in zwei verschiedenen Städten ist. Wahrscheinlich haben Sie schon jetzt vergessen, was Sie vor drei Wochen getippt haben, nicht aber, wenn Sie gemeinsam mit jemandem auf einem Event waren. Es ist daher ein gefährlicher Trugschluss, dass wir über die digitalen Medien einen wirklich guten Kommunikationskanal zu Menschen aufbauen können. Ich empfehle daher: Offline-Formate, Time-Out-Zones oder auch mal gemeinsam wegfahren. Das ist 1000-mal hilfreicher als 100 SMS.
Wie komme ich an die wichtigen Leute ran?
Katzmair: Sie müssen sich hocharbeiten, ganz einfach. Es gibt keine Abkürzung. Stellen Sie sich ein Casino vor mit vielen Pokertischen. Sie fangen am Ersten an und steigen dann immer weiter auf, weil Sie sich vorher Respekt erarbeitet haben. Daraufhin werden Sie immer weiter empfohlen und landen dann am wahren Tisch der Macht. Solche Menschen treffen Sie nicht beim Afterwork-Networking in einer Bar und gerade deshalb ist es langwierig und anstrengend, bis zu ihnen vorzudringen. Deshalb sind Networking-Tipps natürlich richtig und ich will da gar nichts Schlechtes drüber sagen. Aber sie helfen nicht, bis in die wahren Zirkel von Macht, Kapital und Einfluss vorzudringen.
Wenn ich es nun in ein Netzwerk geschafft habe, bestenfalls sogar ganz tief in die innersten Zirkel: Welche Art von Gefallen wird dann von mir verlangt?
Katzmair: Der Unterschied zwischen dem Machtzentrum und der Peripherie ist der: In der Peripherie können Sie sehr frei sein, locker Kontakte knüpfen und mit Wissen und Kompetenz glänzen. Das ist eine sehr angenehme Art von Netzwerk. Wenn Sie nun aber in die Machtzentren in Wien, Brüssel oder Berlin kommen, dreht sich das: Es geht hier nun um Loyalitätsbeziehungen. Ich tue dir was Gutes und du tust mir was Gutes. Das ist der älteste Deal der Welt. In Loyalitätsnetzwerken gilt diese Regel aber noch viel krasser. Denn hier ist ein Gefallen keine lose Währung, sondern hartes Geld. Menschen werden Gefallen zählen, einfordern und Ihnen auch sagen: Du darfst das Projekt A nicht mit B machen, du musst es mit mir machen. Es gibt also sehr viel stärkere Beziehungen, aber sie sind auch deutlich eingeschränkter.
Überschreiten solche Gefallen auch mal Grenzen?
Katzmair: Sie gehen bewusst Geheimnisse ein, die nur dieses Netzwerk oder vielleicht sogar nur zwei Personen miteinander teilen. Das schweißt zusammen, weil Sie wissen: Wenn einer plaudert, sind wir beide geliefert. Wenn es aber um Grenzen geht, juristisch wie moralisch oder ethisch, würde ich immer davon abraten, diesen Schritt mitzugehen. Denn er bringt Sie in eine Lage, in der jemand anderer Besitz von Ihnen ergreift. Er hat dann ein Druckmittel, weil er Ihre Grenzüberschreitung kennt. Ob etwas Grenzen überschreitet, ist recht einfach festzustellen: Fühlen Sie sich damit gut, ja oder nein? Nein? Dann lassen Sie es.
Grenzen überschreiten, Geheimnisse hüten, Macht ausüben: Haben Netzwerke wirklich so eine Macht?
Katzmair: Wir müssen hier einmal unterscheiden. Es gibt die Verschwörungstheorie, dass große Mächte die ganze Welt lenken, etwa über eine Geheimgesellschaft wie bei James Bond. Dafür ist die Welt natürlich viel zu komplex und kompliziert. Das ist Quatsch. Aber es ist natürlich richtig, das zeigt unsere Forschung, dass Netzwerke mit guten Beziehungen in die Machtzirkel einen großen Einfluss darauf haben, wie die Politik entscheidet, wie die Wirtschaft entscheidet. Gerade in der Politik funktioniert vieles nur aufgrund solcher Netzwerke im Schatten. Dort werden Kompromisse gemacht, Allianzen geschmiedet und Pläne diskutiert, bevor sie an die Öffentlichkeit dringen.
Das klingt jetzt nicht vertrauenserweckend.
Katzmair: Wichtig ist, erst einmal zu wissen: Es gibt diese Netzwerke und sie haben Einfluss. Entscheidend ist nun, wie man diese Netzwerke nutzt. Denn ja, sie können schlechtes bewirken, weil sie Lobbyinteressen durchsetzen. Aber sie haben auch die Möglichkeit, Wirtschaft, Politik und die Gesellschaft in eine gute Richtung zu lenken und mit ihrer Arbeit unsere Zukunft zu sichern. Wir müssen also mit guten Netzwerken einfach die dunklen Netzwerke besiegen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 148 – Thema: Netzwerke. Das Heft können Sie hier bestellen.