Vordenken in der Nebelbank

Politik

Unzählige Arbeitsstunden werden jeden Monat in der Politik in Planung investiert. Tausende Mitarbeiter wandern in Brüssel, Berlin und den Landeshauptstädten allmorgendlich in ihre Büros, in Morgenlagen und Jour-Fixe-Runden, bereiten Klausuren vor oder nach. Sie produzieren Terabyte an Planungs-Präsentationen. Die politische Wirklichkeit, die Entwicklung der nächsten Monate und Jahre soll eingefangen, richtig beschrieben und damit kalkulierbar werden. “Wir müssen endlich aufhören, nur zu reagieren! Denkt nach! Kommt mit einem Plan!” – Arbeitsaufträge werden mal höflich, mal drastisch formuliert. Es geht immer um viel: Künftige positive oder negative gesellschaftliche, soziale und ökonomische Veränderungen müssen rechtzeitig erkannt werden. Vordenken und Planung sollen als Instrumente politischer Gestaltung genutzt werden.

Aber die Planungsstäbe in Parteien, Fraktionen oder Ministerien rangieren auf der Beliebtheitsskala des Politikbetriebs nicht gerade in der Top Ten. In der Wahrnehmung wollen sie “Ideen abgreifen”, “kosten Arbeitszeit” oder “machen sich wichtig und es kommt eh nichts dabei rum”.

Alles Zeitverschwendung?

Sicher kann man politisch erfolgreich sein, ohne zu planen. Nicht wenige, wesentlich karrieregetriebene Politiker halten planerisches Herangehen an Politik für Zeitverschwendung und Unsinn. Die Argumentation lautet in der Regel: Permanent und immer mehr bricht der Zufall in die Planungsprozesse ein. Also sei man besser beraten, seine Zeit auf den Aufbau von Netzwerken in Partei und Medien zu verwenden und sich so machtpolitisch abzusichern. Vordergründig betrachtet ist dies durchaus ein Erfolgsmodell. Es setzt fast ausschließlich auf persönlich-politischen Instinkt, eine leicht blendbare Öffentlichkeit und ein kurzes Gedächtnis. Sicher, es funktioniert: Aber es bleibt nichts Substanzielles.

Politischer Erfolg resultiert in der Regel aus einem Zusammenspiel günstiger Umstände, einer guten Strategie sowie Handwerk und Ausdauer. Vordenken, Strategie und Planung setzen einen Gestaltungsanspruch an Politik voraus. Man will eben nicht die Dinge “managen und abarbeiten”, sondern hat Ziele, analysiert die Verhältnisse, macht einen Plan und setzt sich an die Arbeit. Aber es gibt gravierende Unterschiede in den Planungsprozessen in Parteien, Fraktionen und Regierungen.

Parteiplaner bereiten Wahlen vor

Die Volksparteien bündeln eine erhebliche Bandbreite unterschiedlicher Überzeugungen. Parteiapparate und -gremien sind permanent damit beschäftigt, Übereinstimmung in inhaltlichen Fragen herbeizuführen und die Partei mit einem klaren Profil zu positionieren. Es geht darum, Erkennbarkeit zu gewährleisten, verständlich zu sein und die Interpretationshoheit in wesentlichen Themenfeldern zu haben. Planungseinheiten in Parteien sind an der oder dem Vorsitzenden orientiert, sichern Macht ab (Regierung) oder müssen eine plausible Strategie für die Machteroberung (Opposition) erarbeiten. Diese Fähigkeit ist ein, wenn nicht das wesentliche Erfolgskriterium.

Geht das Vertrauen in eine plausible Machterhaltungs- oder Machteroberungsstrategie der Führung in einer Partei verloren, beginnt schnell die Machterosion für die politische Spitze. Planungseinheiten in den Parteien sind darauf ausgerichtet, die nächsten Wahlen vorzubereiten. Zwei Jahre vor einer Bundestagswahl werden Themen sondiert, Werteinstellungen in der Gesellschaft erforscht, die Vernetzung überprüft. Ein Jahr vor der Wahl werden die operativen Strukturen etabliert und dann müssen Strategie und die grobe Planung stehen.

Kaum Spielraum für Planer in ­Fraktionen

Fraktionen sind entweder mit einer Durchsetzungsaufgabe betraut (Regierung) oder kämpfen um Medienresonanz (Opposition). Schon allein daraus leitet sich ein klarer Auftrag für Planungsprozesse in Fraktionen ab. Fraktionsgremien (Geschäftsführende Fraktionsvorstände, Fraktionsvorstände, Arbeitsgruppen) sind keine Planungsorte. Dort werden die Schwerpunkte der Sitzungswochen verabredet, Konflikte zwischen Fachpolitikern geschlichtet – mehr nicht.

Die Bundestagsfraktionen verfügen über Planungsstäbe beim Fraktionsvorsitzenden oder einem der Parlamentarischen Geschäftsführer. Sie helfen beim Vordenken und Planen, sind aber immer Teil einer extrem formalisierten Routine (man lese nur einmal die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags) und zwischen Eitelkeiten und Konkurrenzen innerhalb der Fraktionen eingezwängt.

Koalitionserfordernisse, das Themensetting der Bundesregierung, des Bundesrats, Europas und der Medien engen den Gestaltungsraum zusätzlich ein. Dies führt in der Praxis schnell dazu, dass Vordenken und Planen als Anspruch aufgegeben wird. Vielmehr konzentriert man sich darauf, keine Fehler zu machen und in der internen Machtkonkurrenz zwischen Regierung, Partei und Bundesländern seinen Einfluss zu behaupten.

Der Koalitionsvertrag und seine Tücken

Jedes Bundesministerium hat einen Planungsstab. Aber keiner von ihnen kann einfach frei “losdenken und -planen”. Es gibt ein vorgegebenes Curriculum, den Koalitionsvertrag. Das Verhältniswahlrecht in Deutschland führt – bis auf sehr wenige Ausnahmen – zu Koalitionsregierungen. Nach einer Wahl wird sondiert und verhandelt. Und weil sich die beteiligten Partner nur bedingt vertrauen, sind Koalitionsverträge extrem detailliert. Sie sind Grundlage der Vorhabenplanung der Bundesregierung. Die Planungseinheiten in Kanzleramt und den Ministerien nummerieren und terminieren alles durch.

Die Vorhabenplanung wird regelmäßig in der Staatssekretärekonferenz beim Chef des Bundeskanzleramts durchgesprochen. Ein wesentlicher Teil der Tagesordnungspunkte der Kabinettssitzungen – vor allem in der ersten Hälfte der Legislatur – steht schon mit dem Koalitionsvertrag (zu Beginn der Regierungszeit) fest. Improvisiert wird dort selten, denn neue Ideen müssen erhebliche Hürden nehmen: Man braucht den Rückhalt in der eigenen Partei, in der Fraktion, zum Teil bei den Bundesländern. Andere Ministerien müssen überzeugt werden (fachlich), und dann ist da noch der Koalitionspartner, der kein Veto aussprechen darf (machtpolitisch). Wenn man sich dies vor Augen führt, wird schnell klar, dass viele Dinge nur vorankommen, wenn man “Pakete schnüren kann”. Erfolgreiche Planungsprozesse sind immer erweitert um die Dimension klarer Durchsetzungsstrategien.

Acht Grundregeln für Planer, Strategen und Vordenker

Für den Erfolg von Vordenken, Strategieentwicklung und Planung gibt es keine einfache Rezeptur. Jedoch existieren Felder, die man optimieren sollte, wenn man erfolgreich sein will:

1.    Es ist das Schicksal unzähliger ehemaliger oder aktueller Planungsstäbe, die ihre Ideen immer wieder neu den Berg heraufrollen, um dann zu sehen, wie sie wieder herunterkullern. Ohne eine klare Anbindung an die Führungsebene wird planerische Arbeit schnell zum Besinnungsaufsatz: Vordenken und Planung haben nur Wirkung, wenn sie an Macht gekoppelt sind.

2.    Je größer die Homogenität im strategischen Ziel und je weniger Akteure eine persönliche Agenda verfolgen, desto wirkungsmächtiger kann Vordenken, Strategie und Planung sein. Oft muss erst einmal grundsätzlich angesetzt werden, um Planungsarbeit prinzipiell erfolgsträchtig zu machen. Die Notwendigkeit zur Etablierung eines strategischen Zentrums ist einsichtig. Der Weg dahin – also das Überwinden von Egoismen, Fraktionierung und Engstirnigkeit – dauert zuweilen deutlich länger als folgende Planungs- und Umsetzungsprozesse.

3.    Wer über einen längeren Zeitraum politisch erfolglos ist und sich die Frage stellt “Warum haben wir keinen Erfolg? Was machen wir falsch?”, sollte diese Frage nur stellen, wenn er wirklich die Antwort hören will – und nicht aus Wehleidigkeit. Vordenken und Planung braucht Neugier, Mut und Konsequenz. Die Bereitschaft, sich selbst und die bisherige Denk- und Arbeitsweise grundlegend infrage zu stellen, ist essenziell.

4.    Vordenken und Planung brauchen Dialogbereitschaft und -fähigkeit. Nicht erst seit Stuttgart21 ist klar, dass wichtige politische Vorhaben nicht einfach geplant und umgesetzt werden können. Politische Planungseinheiten sollten mit gleicher Energie über Verständlichkeit und Beteiligung nachdenken wie über die materiellen Fragen des jeweiligen Projekts. Die Risikobereitschaft des politischen Führungspersonals ist heutzutage geringer als noch vor zehn oder 15 Jahren. Die Ursachen dafür sind komplex und nicht auf Charakterfragen zu reduzieren. Die Konsequenz, die man daraus ziehen sollte, ist nicht folgenloses Beschreiben “der alten Zeiten”, sondern mehr Umsicht und Klugheit beim Herstellen von gesellschaftlichem Konsens.

5.    Planer arbeiten immer mit persönlichen Urteilen, Vermutungen und einer Reihe von Unbekanntem. Sie bewegen sich auf einem hochdynamischen Feld, die öffentliche Stimmung kann sich verändern, einkalkulierte Unterstützung ausbleiben und so weiter. Dies sollte dazu führen, dass auch die Grenzen von Planung nicht vergessen werden. Planungsprozesse sind oft ein Vordenken in der Nebelbank. Die Sichtweite ist begrenzt und Planer operieren intuitiv-rational.

6.    Planung darf nicht zur Fixierung werden: Falls es fundamental schiefläuft, ist im strategischen Zentrum Urteilskraft und Entscheidungsfähigkeit gefragt. Wenn ein Planungsfehler vorliegt, muss man in der Lage sein zu korrigieren. In der Vorbereitung auf den Wahlkampf 2002 haben wir im Jahr 2001 als SPD beispielsweise analytische Fehler gemacht, als wir dachten, man könne den Kanzlerkandidaten der Union, Edmund Stoiber, einfach in die rechte Ecke stellen. Diesen Fehler haben wir im Sommer 2002 gerade noch korrigiert. Andernfalls wäre Stoiber Bundeskanzler geworden und die bundesdeutsche Geschichte hätte einen anderen Verlauf genommen.

7.    Improvisation ist die robuste Schwester der Planung: Die Ausbildung strategischer Kompetenz sollte immer kombiniert sein mit einer starken Improvisationsgabe. Man kann nicht alles vorhersehen und manchmal muss man sofort umschalten können und in der Vorwärtsbewegung wieder planerische Elemente einbauen. Planerisches Denken klärt den Blick und die Urteilskraft und dies kann dabei helfen, auch in krisenhaften Lagen den Weg in die Stabilität zurückzufinden.

8.    Planung braucht immer einen normativen Rahmen: Man kann vieles vordenken, aber es gibt in der politischen Auseinandersetzung Kraftströmungen, die man nicht aktivieren sollte. Planungseinheiten sollten sich auch darüber Klarheit verschaffen und müssen entsprechend geführt sein. Es gibt Demokratien, in denen das politische Klima vergiftet worden ist, weil alles, was legal im Rahmen von politischem Machtkampf möglich ist, auch gemacht wird. Die USA sind dafür ein negatives Beispiel geworden.

Zwischen tagtäglichem Durchwursteln und Ankündigungsgedröhne

Natürlich haben sich die politischen, kommunikativen und sozialen Bedingungen verändert. Die Bürger sind bei großen Ankündigungen skeptischer geworden, die Weltlage ist unübersichtlicher. Dies steigert das Sicherheitsbedürfnis der ­Gesellschaft. Aber eine übersteigerte Risikovermeidung kann auch negativ ausschlagen und zu politischer Lähmung führen. Es gibt einen Mittelweg zwischen tagtäglichem Durchwursteln und Ankündigungsgedröhne. Planen und Vordenken zeichnen ambitionierte Politik aus. Es ist demokratischer als Nicht-Planen.

Es sind spezifische Bedingungen, unter denen sich politische Planung vollzieht und Entscheidungen getroffen werden. Diese Bedingungen zu verstehen, hilft NGOs, Unternehmen und Branchen dabei, eine realistische Erwartung an das politische System und dessen Akteure zu entwickeln. Man kann sich dadurch viel Ärger ersparen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Denken. Das Heft können Sie hier bestellen.