Die Zahl der Umfragen in der Hochphase von Wahlkämpfen ist ebenso von Jahr zu Jahr gestiegen wie die Intensität der Medienresonanz. Auch die Zahl der auf dem Markt konkurrierenden Institute ist auf ein knappes Dutzend gewachsen. Die Anbieter unterscheiden sich in ihrer Methodik, aber zumindest für 2025 nicht auffällig in ihren Ergebnissen. Während der 109 Tage Wahlkampf waren Reichweiten starke Medien von ZDF (FG Wahlen) bis BILD (INSA) stetige und gelegentlich enervierende Begleiter. Wie der Wetterbericht konnten die gefühlt täglich veröffentlichten Befunde verfolgt und verglichen werden. Gewissermaßen von außen wurden die allgemeinen Stimmungsbilder an die WählerInnen herangetragen, die ihre Meinung vorrangig in anderen Formaten bilden und erörtern: im sozialen Umfeld bzw. in Netzwerken. Die früher großen Parteien sind in den wesentlichen Mikrokosmen nur noch schwach vertreten. Soziale Medien oder Influencer anderer Art übernehmen ihre Rolle. Was Umfragen bewirken, darüber gibt es keine belastbaren Erkenntnisse. Tatsächlich verfolgen zumindest, so Wahlforscher Frank Brettschneider, 70 Prozent der Wähler Umfragen. Damit lohnt sich der kommerzielle Einsatz für die Auftraggeber.
Die Mehrheit bekundet, sich davon nicht beeinflussen zu lassen. Sarah Wagenknecht behauptet jedoch als eine Ursache ihres schwachen Abschneidens „manipulative Umfragen“. Die Linkspartei wiederum hat wahrscheinlich am Ende vom Verlauf der Umfragen profitiert. Ihre überraschende Dynamik wurde kurz vor der Wahl lediglich von YouGov, FG Wahlen sowie Forsa adäquat und sicher ohne politische Intention abgebildet. Diese Institute haben womöglich ihre Rohdaten unkonventioneller „gewichtet“ als die Konkurrenz. Die Rede ist nicht von geheimnisvollen Glaskugeln, sondern von angewandter Mathematik. Eine zu starre Haltung bei den Annahmen kann eine adäquate Berücksichtigung spontaner Stimmungen erschweren. Yougov-Chef Frieder Schmied hat am Vortag der Wahl in der WamS eingeräumt, mit leichter Beklemmung ins Risiko gegangen zu sein. Denn monatelang lautete der allgemeine Tenor: Die Linkspartei ist am Ende. Werden Parteien im Vorfeld unter 5 Prozent gemessen, liegt es nahe, dass sie nicht ins Parlament kommen. Das Signal des Anziehens mag die Sorge vor einer verschenkten Stimme reduziert haben.
Anders als bei Wirtschaftsprognosen erfolgt der Realitätscheck für die Demoskopie stets konzentriert an einem Abend. Wie schon 2021 lagen diesmal die Voraussagen im Unterschied zu einigen Landtagswahlen allesamt recht nahe bei den harten Zahlen der Endabrechnung. Die Zahlen von Yougov sind am zutreffendsten ausgefallen. Der Wettbewerb hat sich mit dem erfolgreichen Auftritt des britischen Unternehmens verschärft, das 2024 wertvolles Knowhow des aufgelösten Unternehmens GfK eingekauft hat. Einen gewissen Reiz wohl eher für professionelle Beobachter besorgte wieder die Konkurrenz bekannter Demoskopen mit ihren Eitelkeiten und eigenen Agenden. Das war namentlich der Chef von INSA, Hermann Binkert, früher CDU-Politiker, der BILD mehrfach zugespitzt kommentieren ließ. Parteinähe sollte man ihm ebenso wenig unterstellen wie dem SPD-Mitglied Güllner, der seit Schröders Abgang eine Privatfehde mit der SPD führt und mittels RTL/NTV kräftig gedeutet hat. Das hatte Unterhaltungswert und man sollte darüber nicht die Nase rümpfen.
Als Planer und Berater habe ich den Wert demoskopischer Forschung kennen- und den Rat von Demoskopen schätzen gelernt. Im Schröder-Wahlkampf 2002 wurden in der letzten Phase grundiert durch demoskopische Erkenntnisse sozialdemokratische Specials beiseitegeschoben und kommunikativ umgesteuert. Die Daten der Wahltags Befragung haben seinerzeit den Kurs bestätigt. Angela Merkel ist mit ihrer erfolgreichen Strategie einer asymmetrischen Mobilisierung einer Empfehlung ihres Beraters Matthias Jung (FG Wahlen) gefolgt. Ursula von der Leyen hat sich von Renate Köcher (Allensbach) in ihrer Familienpolitik beraten lassen. Schröder, Merkel und von der Leyen sind mit ihrer Beratungsbereitschaft recht gut gefahren. Dabei vermitteln Erkenntnisse nie einfache Gebrauchsanweisungen. Mitunter äußern sich die Befragten widersprüchlich und verunsichern die Auftraggeber. Das sind neben wesentlichen Medien die größeren Parteien bzw. die Regierung, die dann freilich Ergebnisse häufig ignorieren oder eigenwillig auslegen. Im Kanzleramt wurden 2024/25 wie immer alle Ergebnisse sorgfältig aufbereitet und den Mitarbeitern des Bundeskanzlers sowie den Ressortleitungen zur Verfügung gestellt. Ob die Schlussfolgerungen angemessen ausgefallen sind, darüber mag man Zweifel haben.
Friedrich Merz seinerseits hat sich lange an den Rat gehalten, auf das Thema Wirtschaft zu setzen. Seine Offensive am Schluss, bei Migration mit Hilfe der AfD zu polarisieren, erfolgte als persönlicher Reflex. Profitiert haben Linkspartei und AfD. Das haben u.a. der Wahlforscher Karl-Rudolf Korte sowie Infratest-Chef Roland Abold betont. Viele junge Wähler, so die Statistik haben die Linken als Gegenpol zur AfD betrachtet, die freilich ebenfalls viele Jüngere angezogen hat. Experten erläutern das im Vergleich zu 2021 auffällig veränderte Stimmverhalten der Jungen mit deren überdurchschnittlicher Volatilität. Das verschafft immerhin Hoffnung, dass diese Gruppen für die Mitte zurückzugewinnen sind. Das amtliche Ergebnis sah schließlich in etwa so aus, wie es die Umfragen seit dem Ende der Ampel erwarten ließen. Im Rückblick wirken die Daten sogar schon wesentlich länger wie eingefroren. Weder der Koalitionsbruch noch der Wahlkampf führten zu nennenswerten Veränderungen. Auch die vielen TV-Debatten haben keine spürbaren Effekte ausgelöst. Hat es sich dann überhaupt gelohnt, die Meinungen zu erheben, sie zu veröffentlichen, sie zu lesen?
Nun wird ja jenseits der Wahlabsicht auch vieles andere abgefragt. Hintergründe werden erforscht, die bei den umfangreicheren Befragungen von ARD und ZDF am Wahltag noch einmal verstärkt ausgeleuchtet werden. In der Summe daraus ergeben sich wirklich aufschlussreiche Erkenntnisse. Aus dem Ampelfrust hat sich eine Wechsel-, aber keine Aufbruchstimmung ergeben. Das muss vor allem die Union beschäftigen. Es ist belegt, bei wem die Wähler für was Kompetenz unterstellen. Kombiniert mit dem Wissen darüber, was die Wähler als vordringlich empfinden, ergeben sich Rückschlüsse für alle Parteien. Nicht ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild treibt viele Wähler der AfD um, sondern die Auffassung, dass nur diese Partei das anspricht, was „die Bürger bewegt“. Berechtigte Sorge oder Wut über Unvermögen vor allem bei der Migration sind kenntlich geworden. Damit müssen sich insbesondere SPD und Grüne auseinandersetzen. Anderseits fällt die Bilanz der persönlichen Situation bei einer Mehrheit positiv aus. Damit gibt es einen Grundoptimismus, den Schwarz-Rot schnell durch wirksame Maßnahmen stützen sollte.
Nicht nur Renate Köcher rät deshalb Merz, Pistorius und Co. zu einem Mix von zupackender Kommunikation und sichtbaren Maßnahmen und sie sieht Erfolgsaussichten. Durch konstruktive Verhandlungen, eine zügige Koalitionsbildung und plausible Ergebnisse bei Prioritäten kann eine Dynamik entstehen. Sie kann durch Umfragen gestütztes Aufmerksamkeitsmanagement verstärkt werden. Ab sofort werden jedenfalls die Meinungen neu vermessen und in Immer-noch-Leitmedien von FAZ bis RTL veröffentlicht werden. Wie sich die Werte entwickeln, dass werden andere Daten beeinflussen: zu Wachstum, Zuwanderung, Infrastruktur etc. Der Kurvenverlauf der AfD wird sich daran orientieren. Friedrich Merz wird rasch das Gesicht des Gelingens oder des Scheiterns verkörpern.
Malte Ristau war Analyst beim Vorstand der SPD. Danach politischer Beamter, u.a. 8 Jahre für Ursula von der Leyen. Seit 2015 u.a. Berater bei Roland Berger. Aktuell tätig für ein Wirtschaftsforschungsinstitut.