Unumgänglich: Parlamentarische Gepflogenheiten

Politik

„Diese Sitzung heute und hier ist unverantwortlich“, wetterte der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) bei einer Sitzung des Sächsischen Landtags Mitte März. Was war passiert? Landtagspräsident Matthias Rößler (CDU) hatte vorgeschlagen, ein Notparlament mit nur wenigen Abgeordneten tagen zu lassen. Die AfD lehnte ab und ließ das Parlament trotz Corona-Ausnahmezustand und Ansteckungsgefahr in Vollzahl antreten. Man habe die Ausrufung des Notstands erwirken wollen, verteidigte sich AfD-Fraktionschef Jörg Urban. Selbst seine Fraktionskollegin Doreen Schwietzer schien das für fahrlässig zu halten. Sie erschien mit Mundschutz. Die Rechtspopulisten in Sachsen verpassten damit wieder einmal, ihr Interesse an konstruktiver Zusammenarbeit zu beweisen. Ihre Partei­freunde in Bayern dagegen hatten gemeinsam mit den anderen Fraktionen beschlossen, künftig nur noch mit einem Fünftel der Abgeordneten zusammenzukommen.

Die AfD-Abgeordnete Doreen Schwietzer kam mit Mundschutz zur Sitzung des Sächsischen Landtags am 18. März. Ihre eigene Fraktion hatte trotz Corona-Krise ein vollzähliges Erscheinen der Abgeordneten erzwungen. (c) dpa/Sebastian Kahnert

Die Beispiele zeigen: Um auch in Krisenzeiten beschlussfähig zu bleiben, müssen die Parteien Verabredungen treffen und sich daran halten. Gelingt dies, bleibt die Legislative handlungsfähig, ihre Mehrheitsverhältnisse gewahrt. Allerdings braucht es dafür Vertrauen, und das ist beschädigt. Dasselbe gilt auf Bundesebene. Die letzte Sitzungswoche des Bundestags fand unter großer Teilnahme statt, wenn auch nur Dreiviertel der 709 Abgeordneten nach Berlin gekommen waren. Im Ple­narsaal war allerdings nur jeder dritte Platz besetzt, um Abstand zu wahren. Die restlichen Parlamentarier verfolgten die historische Sitzung in nahen Büros und kamen nur zur Stimmabgabe zu weit voneinander entfernt aufgestellten Boxen. Zusammentreten musste die Legislative, weil wichtige Gesetze zur Abstimmung standen: die Aussetzung der Schuldenbremse und ein Nachtragshaushalt für gigantische Wirtschaftshilfen.

Würde die AfD Wort halten?

Für die Sitzungswoche im April könnte sich auch der Bundestag in Minimalbesetzung treffen. Das ginge auch ohne Änderung der Statuten, wie sie sich Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) wünscht. Dazu müssten die parlamentarischen Geschäftsführer der Bundestagsfraktionen verabreden, mit einem Rumpfparlament zusammenzutreten, das die Mehrheitsverhältnisse im Hohen Hause abbildet. Das Problem: Könnte man der AfD vertrauen, wenn sie zusagen würde, diese als „Pairing bekannte parlamentarische Gepflogenheit zu befolgen? Oft genug hat sie parlamentarische Regeln für den politischen Kampf missbraucht – zuletzt in Thüringen. Das ginge auch jetzt: Verlangt die AfD, mit einem sogenannten Hammelsprung die Beschlussunfähigkeit des Parlaments festzustellen, könnte sie das Notparlament sprengen.

Verstreute Regeln und ihr Nutzen

Damit die parlamentarische Debatte sowie die Arbeit in den Ausschüssen und Fraktionen gelingen können, sind Regeln auch in normalen Zeiten unverzichtbar. Sie bestehen in geschriebener und ungeschriebener Form. Oft beziehen sie sich aufeinander oder ergänzen sich wechselseitig. Ihre vordringliche Aufgabe ist es, eine verbindliche und allseits akzeptierte Grundlage für den möglichst reibungslosen Parlamentsbetrieb mit seinen vielfach widerstreitenden Kräften zu bieten. Das gilt erstens für das Spannungsverhältnis zwischen dem Parlament und der mächtigen Regierung mit ihrer Ministerialverwaltung, zweitens für innerparlamentarische Konfliktlinien – insbesondere zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien – und nicht zuletzt auch innerhalb der hierarchisierten und arbeitsteilig organisierten Fraktionen.

Bereits die formellen Vorgaben bilden ein umfassendes Regelwerk, das im Grundgesetz, dem Wahl- und Abgeordnetengesetz sowie der Geschäftsordnung des Bundestags und seiner Hausordnung stehen. Aber auch die einzelnen Fraktionen erlegen sich Geschäftsordnungen auf. Allein die „GO-BT“, die vom Parlament in eigener Sache verabschiedete Geschäftsgrundlage, umfasst samt Anlagen inzwischen zweihundert Seiten. Daneben bieten informelle Regeln eine über den rechtlichen Ordnungsrahmen hinausgehende Handlungsorientierung für Abgeordnete und ihre Fraktionen. In der Parlamentarismusforschung werden dazu „verhaltensregulierende Normen“ gezählt. Demnach verhält man sich als Abgeordneter respektvoll und fair gegenüber seinen Parlamentskollegen und zeigt sich solidarisch und kooperativ untereinander, insbesondere bei öffentlichem Druck oder Anfeindungen in sozialen Medien. Diese Verhaltensnormen erleichtern es Abgeordneten, sich von ihrer solitären Stellung im Wahlkreis während der Sitzungswochen in der Hauptstadt umzustellen auf die Rolle des Hinterbänklers, Teamspielers oder Konkurrenten unter Fraktionskollegen.

Parlamentsneulingen helfen Normen bei der Orientierung im zunächst ziemlich unübersichtlichen Parlamentsdickicht. Generell tragen sie dazu bei, dass Abgeordnete über Parteigrenzen hinweg eine berufliche Identität ausbilden. Auch wenn eine relativ neue Partei wie die AfD als selbsternannte Alternative zu den länger etablierten Parteien bewusst gegen das Berufspolitikerdasein polemisiert, wird sie sich den parlamentarischen Sozialisationskräften mittel- bis langfristig kaum entziehen können. Das kann eine Professionalisierung zur Folge haben, in personeller wie organisatorischer Hinsicht. Ob das aber zur inhaltlichen und rhetorischen Mäßigung beitragen wird, kann hier nicht beantwortet werden.

Neue Parteien stellen Gepflogenheiten auf die Probe

Besonders der Parlamentseinzug einer neuen Partei kann für parlamentarische Gepflogenheiten eine Bewährungsprobe bedeuten. Mehr noch: Nicht schriftlich fixierte, höchstens sozial sanktionierte Regeln fordern geradezu heraus, infrage gestellt zu werden. Das war bei den Grünen in den 80er Jahren nicht anders als bei der Linkspartei beziehungsweise der PDS seit den 90er Jahren. Beide wollten ihrem Selbstverständnis nach gar nicht zum etablierten Parteiensystem der Bundesrepublik gehören, sondern es in ihrem Sinne grundlegend verändern. Während der Plenardebatten bedienten sie sich medienwirksam einer breiten Palette von kreativen Regelinterpretationen und kalkulierten Tabubrüchen.

Aus heutiger Sicht eine Lappalie: 1985 sorgte Joschka Fischer (Grüne) mit seinen Turnschuhen im Hessischen Landtag für Aufregung. Die Turnschuhe sind heute im Offenbacher Ledermuseum ausgestellt. (c) picture alliance/Heinz Wieseler

Erinnert sei an den turnschuhtragenden Joschka Fischer im Hessischen Landtag. Was heute wie eine Lappalie wirkt, taugte damals für einen handfesten Skandal. Der spätere Außenminister illustriert, dass man dem dosierten Durcheinanderwirbeln bewährter Parlamentsroutinen durchaus auch gelassen begegnen kann. Nicht immer ist die Demokratie in ihren Grundfesten bedroht. Vielmehr bieten (einstige) Anti-Establishment-Parteien Potenzial zur Weiterentwicklung demokratischer Konventionen.

Der richtige Umgang mit Störern ist schwer

Aktuell sind es Rechtspopulisten, die die repräsentative Demokratie herausfordern. Das betrifft auch die parlamentarischen Normen. Der Abgeordnete Stephan Brandner verweigerte jüngst in einer Rede die Auftaktformel „Herr Präsident“. Brandner selbst war zuvor als Vorsitzender des Rechtsausschusses aufgrund provokanter Medien­äußerungen abgewählt worden – seinerseits ein Vorgang entgegen den Parlamentsgepflogenheiten. Tatsächlich ist es manchmal nicht leicht, den richtigen Umgang mit Störenfrieden zu finden. Wie lässt sich umgehen mit einem Debattenbeitrag im Plenum, der die Grenze zwischen Zulässigem und Unzulässigem verwischt? Deshalb sieht ein Gesetzentwurf zur „Parlamentsreform 2020“ für den Landtag von Sachsen-Anhalt vor, dass Ordnungsmaßnahmen auch im Nachhinein verhängt werden können. Doch ist es nicht ein Eingeständnis der Schwäche, wenn sich die Sitzungsleitung nicht unmittelbar in der Lage sieht, auf eine verbale Entgleisung angemessen zu reagieren?

Eine greifbare Rolle spielen Parlamentstraditionen bereits bei der Konstituierung eines frisch gewählten Bundestags. Der älteste Abgeordnete eröffnet als Alterspräsident die erste Sitzung der Volksvertretung und leitet sie bis zur Wahl eines Parlamentspräsidenten. Auf Betreiben von CDU/CSU und SPD wurde die Geschäftsordnung im Juni 2017 geändert. Der dienstälteste Abgeordnete sollte jetzt Alterspräsident werden, nicht der lebensälteste. Damit wurde mit Blick auf die spätere Bundestagswahl im Herbst ein AfD-Alterspräsident verhindert, der somit auch keine anstößige Eröffnungsrede – wie befürchtet – halten konnte. Am Ende eröffnete Hermann Otto Solms (FDP) als Alterspräsident die erste Sitzung, da er bis 2013 33 Jahre lang Mitglied des Deutschen Bundestags gewesen war. Dass eine bewährte Spielregel zum Nachteil eines neuen Mitspielers geändert wurde, stieß nicht nur auf Kritik der AfD, sondern auch anderer Parteien wie den Bündnisgrünen. Bestätigte man damit nicht Vorwürfe der Verächter der parlamentarischen Demokratie, die in deren Wählerschaft allzu leicht auf fruchtbaren Boden fielen? Andererseits verdeutlicht das Beispiel, wie schnell eingespielte Parlamentsroutinen umgestoßen werden können, wenn sie von einer Mehrheit als nicht mehr zweckmäßig erachtet werden werden.

An den Rand drängen oder mitspielen lassen?

Grundsätzlich gibt es im Parlament zwei Arten, mit populistischen Herausforderungen umzugehen: Man kann die Rechtspopulisten entweder an den Rand drängen, notfalls auch durch eine punktuelle Abkehr von üblichen Verfahren. Oder man wendet sich dagegen, für Populisten andere Regeln anzuwenden, da auch populistische Parteien durch Wahlen legitimiert sind. 

Hermann Otto Solms (FDP) eröffnete als Alterspräsident die konsti-tuierende Sitzung des 19. Deutschen Bundestags am 24. Oktober 2017. Zuvor waren die Regeln verändert worden, um eine Alterspräsidentschaft der AfD-zu verhindern. (c) DBT/Melde

Beispiel Bundestagsvizepräsident: Aus den Reihen der selbsterklärten Alternative für Deutschland wurde bisher niemand in dieses Amt gewählt, obwohl sie inzwischen schon den fünften Anlauf dazu unternommen hat. Rechtlich steht ihr dieser Posten zu. Zudem ist es üblich, den Wunschkandidaten einer Fraktion mitzuwählen. Allerdings kann kein Abgeordneter gezwungen werden, einen missliebigen Bewerber zu wählen. Dieselbe Erfahrung hatte nach der Wahl 2005 die Linkspartei mit Lothar Bisky sammeln müssen, der letztlich zurückzog zugunsten von Petra Pau – die mittlerweile als dienstälteste Bundestagsvizepräsidentin amtiert.

In den Landtagen von Brandenburg, Hamburg, Sachsen oder Sachsen-Anhalt brachte die AfD ihre Kandidaten hingegen durch. So auch in Thüringen: Dort bekannte sich Linken-Ministerpräsident Bodo Ramelow zur Wahl eines AfD-Landtagsvizepräsidenten. Die „parlamentarische Teilhabe“, so Ramelow, müsse „jeder Fraktion zugebilligt werden“. Auch wenn sein Schritt dazu angetan war, angedrohte Blockaden seitens der AfD bei der parlamentarischen Personalbestellung zu umgehen, vertritt er damit den Ansatz, die Auseinandersetzung mit den Rechtspopulisten zuerst politisch und nicht formell auszutragen.

Die robuste Demokratie und ihre Grenzen

Die Spielregeln im Parlament gelten für alle Mitglieder gleichermaßen. Sie gilt es einzuhalten und zu verteidigen, auch gemeinsam weiterzuentwickeln. Die bewährte Demokratie der Bundesrepublik Deutschland kann damit umgehen, dass diese Regeln auch von ihren Gegnern in Anspruch genommen werden. Nichts ist für ihre Akzeptanz gefährlicher, als mit zweierlei Maß zu messen, wie das bei der Lex AfD zum Alterspräsidenten geschah. Allerdings gibt es Grenzen, nämlich dann, wenn Rechtspopulismus in Rechtsextremismus übergeht und damit der Boden der freiheitlich-demokratischen Ordnung verlassen wird.

Die AfD muss sich jedoch nicht nur fragen, wie sie es mit rechts außen hält, sondern auch mit gezielter Obstruktion. Tricksen und Täuschen beim MP-Wahldrama in Thüringen oder das Anzweifeln der Beschlussfähigkeit des Bundestags, die man durch den eigenen Auszug untergräbt, zeugen von einem beispiellos zerstörerischen Umgang mit der parlamentarischen Demokratie. Sich in Zeiten der pandemischen Krise pragmatischen Lösungsansätzen wie einem verkleinerten Notbundestag zu verweigern, wäre auch für die AfD hochriskant. Dass die Partei aber gerne mit dem Feuer spielt, zeigte sich bei der Abstimmung über das Rettungspaket. Als einzige Fraktion enthielt sie sich, nur zwei Abgeordnete stimmten mit dem gesamten Parlament. Die Populisten blieben ihrem Krawallkurs treu.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 130 – Thema: Stresstest. Das Heft können Sie hier bestellen.