„Der Stimmzettel ist ein Dolch aus Papier“, meinte einst der britische Premierminister David Lloyd George. Wahlen fordern auch heute, hundert Jahre später, bisweilen Opfer. Es humpeln allerdings nicht nur verletzte Wahlverlierer aus der politischen Arena. Im Herbst werden sich verdiente Veteranen in den Ruhestand verabschieden und die sprichwörtlichen „große Schuhe“ hinterlassen. Wechsel aber gibt es nicht nur beim Personal im Rampenlicht. Gerade in den hinteren Reihen beginnt das große Stühlerücken und Posten-Verschieben, sobald der „Dolch aus Papier“ gefaltet wird.
Das Berliner Personalkarussell dreht sich schon seit Anfang des Jahres: Der neue Bundespräsident brachte seinen Staatssekretär, quasi sein Alter Ego, mit ins Amt, ebenso nahmen langjährige Vertraute und Neulinge auf präsidialem Parkett Aufstellung. Die renommierte Hörfunkjournalistin Anna Engelke wurde vom künftigen Staatsoberhaupt eingeladen, „die Seite zu wechseln“. Und aus dem Amt wiederum scheiden Beamte aus, wechseln zurück in die Ministerien oder Bundesländer, die sie auf Zeit entsandt hatten. Angestellte wagen sich heraus aus dem unmittelbaren Dunstkreis des höheren öffentlichen Diensts, klopfen an bei den großen Stiftungen, den Agenturen und zahllosen Verbänden im Umkreis der Bannmeile.
Die Zeiten für „Heads and brains“ sind günstig
Der Möglichkeiten sind göttlich viele. Julia Helmke, bislang Referatsleiterin für gesellschaftspolitische Grundsatzfragen im Bundespräsidialamt, wird im Juli Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentags. Die Vakanz bot sich, weil ihre Vorgängerin Ellen Ueberschär die Leitung der Heinrich-Böll-Stiftung übernimmt – ein klassisches Beispiel für die Reaktionsketten, die Personalwechsel auslösen und freiwillige wie unfreiwillige Rollenwechsel in der politischen Manege nach sich ziehen.
Die Dynamik im Politik-Medien-Verbandsgeschäft ist hoch, im Vorfeld berechnen allerdings lässt sich vor der Stimmenauszählung am Wahltag nichts. Gleichwohl sind die Zeiten für „Heads and brains“ ausgesprochen günstig. Selbst der öffentliche Dienst sprengt immer wieder sein Organisationskorsett und installiert neben dem Beamtenapparat Projektgruppen. So entstehen befristete Jobs für angestellte, fachkompetente Seiteneinsteiger, die freilich vertraglich auch wieder zu Aussteigern werden.
Es ist eine Unsitte, doch vor der Wahl werden schnell noch „eigene Leute“ abgesichert, Verbeamtungen initiiert oder Aufstiege wohlkalkuliert verschleppt, Türen geöffnet und vor der Nase zugeschlagen. Gleichwohl können sich parteipolitisch festgelegte Mitarbeiter in dieser Zeit in neue Sphären katapultieren lassen. Der Bedarf an loyalen und engagierten Mitstreitern für die Kampagnenteams ist vor den Wahlen immens. Wer strategisch denkt, neugierig und stresserprobt ist, kann den Finger heben. Der Erfahrungszuwachs ist eine eigene Qualifikation, von den Kontakten, die sich in der intensiven Zeit des Wahlkampfs knüpfen lassen, ganz zu schweigen.
Des einen Chance, ist des anderen Nachteil: Wer absehbar wegen des „falschen“ Parteibuchs seinen Arbeitsplatz im Ministerium oder Bundestag verlieren wird, muss jetzt, da sich die innerparteilichen Kampfgruppen formieren und das Fell des noch nicht erlegten Bären bereits aufteilen, schnell in die Selbstfindung eintreten. Keine Schande, sondern Chance!
Individualisierte Karrierewege
Karrierewege führen heute nicht notwendigerweise – wie die klassische Beamtenlaufbahn – stetig bergauf. Das müssen sie auch nicht. Das tradierte Ziel, „uns soll es mal besser gehen als unseren Eltern“, erfährt in der Generation derer, die in ihrer Kindheit vom Aufstiegsideal der Väter und Mütter profitiert haben, unzählige, individualisierte Varianten. Auf der Suche nach einer ausgeglichenen Work-Life-Balance, mit einer veränderten Definition von Elternschaft, im Doppelverdienermodus und angesichts der Möglichkeiten von Kinderbetreuung und Home Office zählen heute andere Kriterien bei der Suche nach einem attraktiven Arbeitsplatz als in der vorherigen Generation. Und das gilt gerade auch im politischen Umfeld.
Wer sich, beispielsweise als Mitarbeiter eines ausscheidenden Abgeordneten, absehbar ein neues Tätigkeitsfeld erschließen muss, sollte sich rechtzeitig überlegen, ob er sich auf die Versorgungs- und Vermittlungsleistung seines bisherigen Chefs oder seiner Partei verlassen kann oder will. Auch eine Zeit im politischen Abklingbecken kann neue Perspektiven eröffnen, gibt eine Berliner Personalberaterin zu bedenken. „Tummelt Euch an den Wasserlöchern!“, rät sie und empfiehlt, sich für Neues zu öffnen.
Und selbst das Blättern im konventionellsten aller Medien kann unverhoffte Überraschungen bringen: Die Fachhochschule Stralsund suchte kürzlich eine – wörtlich! – „Eierlegende Wollmilchsau als Leiterin/Leiter der Hochschulkommunikation“ – eine unkonventionelle Einladung an diejenigen, die dem papiernen Dolch ausweichen wollen und keine Scheu vor dem Leben außerhalb der Sphäre am Spreebogen haben.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 118 – Thema: Bundestagswahl 2017. Das Heft können Sie hier bestellen.