Top-down hat ausgedient

Haben Werte in der Politik ausgedient? Die Frage liegt nahe, denn auf der einen Seite ist die Berliner Politik in den vergangenen zwölf Monaten von erstaunlichen moralischen Verfehlungen erschüttert worden. Auf der anderen Seite beobachten wir einen nationenübergreifenden Trend zur staatslenkenden Technokratisierung, welcher Angela Merkels szientistischen Führungsstil ebenso umfasst wie die Sachzwang-Politik Mario Montis in Italien und Lucas Papademos’ in Griechenland.
Diese Entwicklung beruht nicht zuletzt auf der Vielzahl von betriebswirtschaftlichen Führungs- und Strategiekonzepten, die Unternehmens- und Politikberater im vergangenen Jahrzehnt in die Politik eingebracht haben. Doch jene Konzepte rekurrieren beinahe ausnahmslos auf ein transaktionales Verständnis von Führung: Der Führende entscheidet, reguliert und kontrolliert, und der Untergebene folgt im Gegenzug entweder um einer Entlohnung willen oder um Sanktionen zu entgehen. Außenminister Guido Westerwelle hat dieses Führungsverständnis auf die ebenso simple wie naive Formel gebracht: „Es geht nicht darum, das Populäre zu machen, sondern das Richtige zu tun. Und dann muss man dafür sorgen, dass es populär wird.“ Eine Vorstellung, die auch Karl-Theodor zu Guttenberg vor seinem unrühmlichen Abgang aus der Politik verinnerlicht hatte. Denn ebenso wie für Westerwelle bestand für den Ex-Verteidigungsminister Führung vor allem darin, „Richtungen vorzugeben und Unbequemes gegen Widerstände durchzusetzen.“

Eiserne Hierarchien geglättet

Doch die vermeintliche Orthodoxie der Unternehmensführung ist seit geraumer Zeit ins Wanken geraten. So haben hierarchische Stellung und formale Macht als Führungsgrundlagen zunehmend ausgedient, weil sich der betriebswirtschaftliche Erfolg im neuen Jahrtausend vornehmlich aus „Humankapital“ speist. Heißt im Klartext: Das Wohl und Wehe von Firmen wie Google, Siemens oder SAP hängt in nie dagewesenem Ausmaß vom technischen Know-How, der Kreativität und der Innovationsfähigkeit ihrer Mitarbeiter ab. Und die wachsende Bedeutung des Individuums hat für eine „unternehmerische Demokratisierungswelle“ gesorgt, welche einst eiserne Hierarchien merklich geglättet hat.
Das Ergebnis ist ein nachhaltiger Wandel hin zu transformationaler Führung. Transformational Führende geben Lösungen nicht in Top-Down-Manier vor, sondern bilden vielmehr einen Dialograhmen, in dem Zukunftsperspektiven entwickelt, Werte ausgehandelt, und eine Übereinstimmung zwischen den Interessen der Führungskraft und den Bedürfnissen der Geführten gesucht werden. Die Führungsperson übernimmt vornehmlich eine motivierende und orientierende Funktion und geht weit über eine rational betriebene, autoritär begründete Machtausübung hinaus. Stattdessen wird die Ausbalancierung von verschiedenen Werten, die Moderation zwischen Individuen und Gruppierungen, die für bestimmte Werte einstehen, und die Einordnung von unterschiedlichen Wertvorstellungen in ein geteiltes Wertesystem, zu einer, wenn nicht zu der zentralen Führungsaufgabe. Das lehrte schon Sam Palmisano, der ehemalige Lenker von IBM. Kaum zum Vorstandsvorsitzenden gekürt, initiierte Palmisano einen 72-stündigen Webchat, an dem knapp 140.000 Mitarbeiter teilnahmen. Ziel war die Erarbeitung eines unternehmensspezifischen Wertekatalogs, der noch heute als normative Richtschnur des IT- und Computergiganten dient.
Der wertorientierte Diskurs transformationaler Führung ist inhärent im politischen Prozess angelegt, im Zuge des transaktionalen Führungsdiktums über die letzten Jahre jedoch sträflich vernachlässigt worden. Nun gilt es diesen normativen Diskurs wiederzubeleben. Das Beispiel IBM, das im vergangenen Quartal einen Netto-Profit von über fünf Milliarden Dollar verbuchte, macht deutlich, wie wertvoll wertevolle Führung sein kann.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Alles Fake – Wenn Bürgerdialog nur PR ist. Das Heft können Sie hier bestellen.