Mit den drei Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen im Spätsommer und im Herbst 2019 – 30 Jahre nach der friedlichen Revolution – gelangt der siebte Zyklus der Landtagswahlen in den neuen Ländern zum Abschluss. Nicht nur die Diskussion um den „richtigen“ Wahltermin zeugt von Aufgeregtheit: Die Wahl in Brandenburg und Sachsen dürfte jeweils am 1. September stattfinden, die in Thüringen am 27. Oktober. Sowohl in Brandenburg als auch in Sachsen wird ein gutes Ergebnis der AfD befürchtet. Bei Wahlen an demselben Termin kann der eine Wahlausgang den anderen nicht beeinflussen. Der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow hingegen will einen gewissen Abstand zu diesen beiden Wahlen wahren, um möglichst eine Diskussion über die (Nicht-)Regierungsfähigkeit der Postkommunisten zu vermeiden. 2014 war das noch anders: Zuerst wurde in Sachsen gewählt (am 31. August), zwei Wochen später in Brandenburg und Thüringen. Hingegen gibt es Parallelen zu 2009, als Sachsen und Thüringen am selben Tag wählten. Die Wahl in Brandenburg folgte damals einen Monat später, zusammen mit der im Bund. Die sächsische und die thüringische CDU versprachen sich von einem Termin jenseits der Bundestagswahl Vorteile.
Wie die Ergebnisse der Landtagswahlen in den drei Bundesländern seit 1990 illustrieren, weist der Anteil für die beiden Volksparteien nahezu kontinuierlich nach unten (siehe Tabelle 1). So hatten sie in Brandenburg 1990 66,7 Prozent und 2014 54,9 Prozent, in Sachsen 72,9 (1990) und 51,8 Prozent (2014), in Thüringen 68,2 (1990) und 45,9 Prozent (2014). Der Anteil der PDS beziehungsweise der Partei Die Linke ist in dem betreffenden Zeitraum jeweils angestiegen: von 13,4 auf 18,6 Prozent in Brandenburg, von 10,2 auf 18,9 Prozent in Sachsen und – besonders drastisch – von 9,7 auf 28,2 Prozent in Thüringen.
Ähnliche Szenarien
Die Aufregung ist gegenwärtig groß, da in dem einen oder anderen Bundesland angesichts der Stärke der AfD eine Mehrheit für CDU und SPD nicht zustande kommen kann. Bei der Landtagswahl 2016 in Sachsen-Anhalt etwa hatten AfD (23,4 Prozent) und Die Linke (17,2 Prozent) mehr als CDU (29,8 Prozent) und SPD (10,6 Prozent) erreicht. Wären die Grünen (5,2 Prozent) nicht in den Landtag eingezogen, hätten AfD und Linke eine Mandatsmehrheit im Parlament gehabt. Das Problem ist nicht nur die AfD: Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine etwa ließen im Spätsommer 2018 in Anlehnung an andere europäische Staaten eine linke, sich gegen den Neoliberalismus richtende Sammlungsbewegung namens „Aufstehen“ ins Leben rufen.
Unkonventionelle Vorschläge aus den Reihen der Volksparteien sind die Folge. So verkündete Ingo Senftleben, Brandenburger CDU-Chef und als Fraktionsvorsitzender Oppositionsführer im Brandenburger Landtag, im April 2018 gegenüber der „Welt“, Gespräche mit der AfD seien ebenso vorstellbar wie mit der Linkspartei. Und der schleswig-holsteinische CDU-Ministerpräsident Daniel Günther sagte im August in einem Interview der „Rheinischen Post“, Pragmatismus der CDU sei für den Fall gefordert, sollten Wahlergebnisse eine Koalition gegen Die Linke nicht erlauben. Mit der AfD allerdings komme ein Bündnis nicht infrage. Auch wenn beide Politiker nach heftiger Kritik aus den eigenen Reihen etwas zurückgerudert sind, zeigen diese Vorstöße doch die Nervosität der Union. Bei der SPD, die noch stärker an Stimmen verloren hat, sieht es keineswegs anders aus.
Ein Jahr vor den Wahlen mag eine Prognose kühn sein. Zu viele Unwägbarkeiten sind mit Blick auf die Angebots- und Gelegenheitsstrukturen der AfD im Spiel. Und umgekehrt weiß niemand, ob die Sammlungsbewegung „Aufstehen“ den Linken nützt oder schadet. Was jedoch sicher ist: Die AfD profitiert weniger von den eigenen Stärken als von den Schwächen der Konkurrenz. Und die Volksparteien dürften 2019 nicht den Stimmenanteil erreichen, den sie bei den Landtagswahlen 2016 erreicht haben, wie die Ergebnisse der Bundestagswahl 2017 und aktuelle Umfragen vermuten lassen (Tabelle 2).
Sachsen
Sachsen galt lange als „die“ Hochburg der CDU. Alle vier Ministerpräsidenten stamm(t)en aus den Reihen der Sächsischen Union, wie sie sich im Freistaat nennt: Kurt Biedenkopf (1990 bis 2002), Georg Milbradt (2002 bis 2008), Stanislaw Tillich (2008 bis 2017) und Michael Kretschmer (seit 2017). Während die beiden Erstgenannten Importe aus dem Westen waren, sind die beiden anderen hiesige „Gewächse“. Bis 2004 gab es eine Alleinregierung der CDU, danach eine Koalition unter ihrer Führung, sei es mit der SPD, sei es mit der FDP. Unter Kurt Biedenkopf hatte die CDU Resultate erreicht, wie sie die Partei in keinem anderen Bundesland erzielt hatte, auch nicht vor der Deutschen Einheit.
Nach den Unruhen in Chemnitz noch mehr gefordert: Sachsens CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer (c) Pawel Sosnowski
Das Schockierende für die sächsische CDU: Bei der Bundestagswahl 2017 überholte die AfD sie mit 27,0 Prozent hauchdünn. Und Michael Kretschmer verlor seinen Wahlkreis an einen Kandidaten der AfD. Die CDU steuert einen klaren Konfrontationskurs gegen AfD und die Linke gleichermaßen. Sie zielt auf die Fortsetzung der Koalition mit der SPD und einer weiteren Kraft (FDP oder Bündnis 90/Die Grünen). Aber was geschieht, wenn das angesichts einer starken AfD und einer etwas weniger starken Linkspartei arithmetisch unmöglich ist?
Thüringen
Auch Thüringen dominierte lange die CDU – in wechselnden Koalitionen, von 1999 bis 2009 regierte sie sogar allein. Dem ersten einheimischen Ministerpräsidenten Josef Duchač (1990 bis 1992) folgte der frühere rheinland-pfälzische Landesvater Bernhard Vogel (1992 bis 2003), dann dessen „Ziehsohn“ Dieter Althaus (2003 bis 2009) und schließlich Christine Lieberknecht (2009 bis 2014). Sie musste Bodo Ramelow von der Linken, der 1990 nach Thüringen gezogen war, Platz machen. Er führt seit 2014 ein linkes Dreierbündnis aus Linkpartei, SPD und Grünen an. Dieses hat ungeachtet gewisser Friktionen insgesamt gut funktioniert. Knappe Mehrheiten schweißen zusammen.
Die Stärke der AfD in Thüringen bedroht den Fortbestand des Bündnisses, an dessen Spitze Bodo Ramelow steht. (c) Die Linke
Damit konnte Die Linke, die in den neuen Bundesländern deutlich gemäßigter agiert als in den alten, zum ersten und bisher einzigen Mal Seniorpartner in einer Landesregierung werden, 25 Jahre nach der Friedlichen Revolution. Angesichts der Stärke der AfD ist eine Fortsetzung dieser Konstellation wenig wahrscheinlich. Die AfD fördert indirekt die Bildung einer Koalition aus CDU und SPD. Das gilt nicht nur für Thüringen. Ob dafür die arithmetischen Voraussetzungen gegeben sind?
Brandenburg
Brandenburg gilt als „rotes“ Bundesland. Alle Ministerpräsidenten, jeweils keine Westimporte, kamen von der SPD: Manfred Stolpe (1990 bis 2002), Matthias Platzeck (2002 bis 2013) und Dietmar Woidke (seit 2013). Mal regierte die SPD allein (1994 bis 1999), mal mit Bündnis 90 und der FDP (1990 bis 1994), mal mit der CDU (1999 bis 2009). Seit 2009 ist Die Linke der Juniorpartner, ohne dass es zu großen Querelen gekommen wäre.
Brandenburg ist traditionell „rot“. Doch die Partei von Ministerpräsident Woidke steckt in Umfragen Verluste ein. (c) Die Hoffotografen GmbH Berlin
Das rote Brandenburg ist das Pendant zum schwarzen Sachsen. Zeichnet sich der „sächsische Weg“ unter anderem durch die Stilisierung des Freistaats als Kernland der Friedlichen Revolution aus, so sind für den „Brandenburger Weg“ die frühe Integration der PDS in den politischen Prozess sowie eine gewisse Abgrenzung gegenüber „dem“ Westen charakteristisch. Mittlerweile bröckelt jedoch die Zustimmung zur jeweiligen „Staatspartei“. Mitte August lag die AfD in Brandenburg in einer Insa-Umfrage nur knapp hinter der SPD und vor der CDU. Die SPD dürfte mit einer Partei koalieren, die weniger Madate als sie aufweist, um erneut den Ministerpräsidenten zu stellen. Für den Fall, dass sie stärkste Partei wird, kommt wohl wieder die Linke als Partner infrage. Aber gelangen die beiden politischen Kräfte zu einer regierungsfähigen Mehrheit?
Auswirkungen auf den Bund
Ist in Sachsen die Dominanz der CDU offenkundig nicht bedroht, scheint das in Brandenburg für die SPD zu gelten, wenngleich weniger klar. In Thüringen spricht vieles für die folgende Annahme: Wegen des Zuwachses für die AfD dürfte das bisherige Linksbündnis keine Mehrheit mehr erhalten, so dass die CDU als stärkste Kraft den Ministerpräsidenten stellen kann. Angesichts der hohen Volatilität sind Umschwünge jedoch leicht möglich. Das Paradoxe: SPD und CDU müssen ein Interesse daran haben, dass in den drei Ländern die Grünen oder die Liberalen ins Parlament einziehen, um eine Majorisierung durch AfD und Linke zu vermeiden. Bei der Bundestagswahl 2017 hatten diese beiden Parteien in Sachsen mehr Stimmen als CDU und SPD. Und aktuellen Umfragen nach zu urteilen, trifft das nicht nur auf die Landtagswahlen in Sachsen zu, sondern auch auf die in Thüringen.
Gewiss: Brandenburg (2,5 Millionen Einwohner), Sachsen (vier Millionen) und Thüringen (2,2 Millionen) sind kleine Bundesländer und stellen zusammen lediglich etwas mehr als zehn Prozent der Bevölkerung in Deutschland. Die Auswirkungen auf den Bund können dennoch groß sein. Damit ist nicht in erster Linie der Bundesrat gemeint. Zum einen haben die im Bund regierenden Parteien dort ohnehin keine Mehrheit, zum anderen besteht nur in Sachsen eine schwarz-rote Koalition. Sollte es in diesen drei ostdeutschen Ländern zu starken Gewinnen für die AfD und zu Einbußen für CDU wie SPD kommen – was wahrscheinlich ist –, sind weitere Erschütterungen im Bund nicht auszuschließen.
Die Volksparteien verfügen in den neuen Bundesländern über deutlich weniger Mitglieder: In Sachsen hatte die CDU Ende 2017 10.623 Mitglieder, die SPD 4.698; in Thüringen lag die CDU bei 9.682 und die SPD bei 3.839, in Brandenburg zählte die CDU 5.786 und die SPD 6.346 Mitglieder. Sie müssen nun nach eigenen Fehlern suchen. Wer die Schuld an der Misere dem Populismus der beiden Randparteien AfD und Linke oder deren Wählern in die Schuhe schiebt, macht es sich zu einfach. Haben CDU und SPD die Bodenhaftung verloren? Wieso verstehen sie es nicht (mehr), die Bürger von sich zu überzeugen? Wie kann die Entfremdung zwischen ihnen und den Wählern gestoppt werden? Sind die beiden Parteien bei der Migrationspolitik, die die Bürger bewegt, durch Kosmopolitismus geprägt, der im Elektorat nicht verfängt?
Die Volksparteien müssen Haltung zeigen, Probleme klar benennen und für Abhilfe sorgen. So leuchtet es vielen Bürgern nicht ein, dass Ausreisepflichtige im Land bleiben. Wir haben ein hohes Maß an Vollzugsdefizit. Eine offene Debattenkultur hilft den großen Parteien. Wer Missstände auszusitzen sucht, liefert populistischen Kräften Argumente. Diese sind nicht durch ihre Lösungskompetenz stark geworden, sondern durch die Schwächen von CDU und SPD. In den neuen Bundesländern besteht ein feines Gespür dafür, ob sich die etablierten Kräfte zu weit von den Bürgern entfernt haben.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 124 – Thema: Die Macht der Länder. Das Heft können Sie hier bestellen.