Die Politik ist älter, als uns die moderne Politikwissenschaft glauben machen möchte. Die Lehrpläne der Politologen begnügen sich heute mit einer historischen Tiefe, die bis auf den Anfang neuzeitlicher Staatstheorien bei Hobbes und Locke zurückgeht und allenfalls noch Machiavelli einbezieht. Dieser Kurzsichtigkeit entgehen gut viertausend Jahre bereits vorangegangener, politischer Geschichte. So kann es nicht verwundern, dass sich heute bereits bei dem kleinsten Wandel politischer Konstellationen ein Krisenbewusstsein einstellt, das augenblicklich den „Herbst“ oder gar das „Ende“ der Demokratie gekommen sieht.
Nimmt man hingegen größere Zeiträume in den Blick, in denen die Politik mehr als bloß Krisen, sondern größte Katastrophen überstanden hat, kann sich mit dem größeren Wissen auch ein gefestigtes Vertrauen in das politische Handeln einstellen.
Dafür liefern die ganz und gar neuzeitlich erscheinenden Begriffe der Partizipation und der Publizität ein anschauliches Beispiel. Für die meisten scheint es selbstverständlich zu sein, dass die politische Öffentlichkeit erst mit dem Aufkommen der Zeitungen im 16. und 17. Jahrhundert entstanden ist. Und welchen Sinn sollte es haben, vor der Verabschiedung erster demokratischer Verfassungen im späten 18. Jahrhundert von Partizipation zu sprechen?
Tatsächlich aber ist es so, dass die Partizipation zu den ältesten Begriffen der politischen Theoriebildung im vierten vorchristlichen Jahrhundert gehört. Großzügig verstanden, kann man das durch ihn Bezeichnete sogar zum Elementarvorgang des Politischen rechnen. Jede Herrschaft, so primitiv sie auch gewesen sein mag, ist auf eine mehr oder weniger große Zahl von Menschen angewiesen, die sich dem Regenten als Ratgeber, Helfer oder ausführende Organe zur Verfügung stellen.
Wer immer dabei erfolgreich ist, ist an der Macht beteiligt und möchte darin auch mindestens anerkannt sein. Er partizipiert – was in den ersten Jahrtausenden der voreuropäischen Politik oft nicht mehr hieß, als von der Macht begünstigt zu sein. Wir wissen aber, dass schon in den phönizischen Städten am Ende des zweiten Jahrtausends vor Christus eine echte Mitbestimmung im Sinne einer Volksherrschaft praktiziert worden ist.
Teilhabe als tragender politischer Akt
Im antiken Griechenland wird die Herrschaft der Könige bereits im siebten vorchristlichen Jahrhundert beendet und die Macht der Priester ist auf die Verwaltung des Kultus beschränkt. Die Freiheit des Individuums avanciert zur bestimmenden Größe, und wenn man den mit ihr gegebenen Anspruch auf Gleichheit hinzunimmt, kann das Geschehen in der polis nur als Teilhabe aller an der Macht des Ganzen angesehen werden.
So kann es nicht wundern, dass in der ersten überlieferten Verfassungslehre der europäischen Politik, in Platons „Nomoi“ (geschrieben zwischen 367 und 347 v. Chr.), das „Teilhaben“ der Bürger zum tragenden politischen Akt erklärt wird. Platons Schüler Aristoteles nimmt dies auf und entwickelt eine Definition des Politischen als „Teilnahme am Gericht und an der Verwaltung“.
Das ist alles andere als eine Trivialität. Man sieht es schon an dem, was Aristoteles damit ausschließen will: Die polis gewinnt ihren politischen Charakter nicht dadurch, dass die in ihr lebenden Menschen blutsverwandt sind, noch dadurch, dass sie sich durch Sprache und Überlieferung verbunden fühlen oder innerhalb derselben Stadtmauern leben. Modern gesprochen: Nationale, kulturelle oder territoriale Identität reichen nicht aus, um einen Staat zu begründen. Es kann allein die tätige Mitwirkung aller an den allgemeinen Aufgaben sein, durch die eine polis entsteht, die ihren Namen verdient.
Diese die Politik konstituierende Teilhabe wird in den ersten mittelalterlichen Übersetzungen der aristotelischen Politik ins Lateinische mit participatio übertragen und nimmt von dort den Weg in alle europäischen Sprachen. Damit haben wir das para-doxe Ergebnis, dass der heute am wenigsten verbrauchte Grundbegriff des Politischen zugleich der älteste kategoriale Terminus zur Auszeichnung des Politischen ist.
Der Mensch ist ein homo publicus
In paralleler Rekonstruktion lässt sich zeigen, dass auch die Öffentlichkeit zu den ältesten Strukturmerkmalen des Politischen gehört. Das kodifizierte Recht, von dem die ersten schriftlichen Zeugnisse aus der Zeit um 2000 v. Chr. überliefert sind, musste öffentlich verkündet werden, um es allgemein zur Geltung zu bringen. Die griechischen Stadtstaaten, insbesondere das Athen des Perikles, hatte bereits ein stolzes Bewusstsein von seiner vor keinem Thema und vor keiner Kritik Halt machenden Öffentlichkeit. Und das antike Rom hielt auch nach dem Übergang zu einer imperialen Herrschaftsform am basalen Selbstverständnis der Politik als res publica fest.
Die besondere Pointe dieser bis in die Anfänge der Zivilisation reichenden Geschichte der Öffentlichkeit liegt nicht nur darin, dass wir ihr keineswegs nur die Formen politischer Verständigung, sondern auch den Aufschwung der Künste und der Wissenschaften verdanken. Selbst die derzeit von den Kulturwissenschaften so stark gescholtenen monotheistischen Religionen sind ohne die vermittelnde Leistung der Öffentlichkeit nicht denkbar; allein das erschwert die nur auf den ersten Blick so plausibel erscheinende Gleichsetzung patriarchaler Glaubenslehren mit dem politischen Despotismus.
Geht man schließlich der zunächst absurd erscheinenden Vermutung nach, dass nicht nur die Politik, sondern sogar das menschliche Bewusstsein auf Öffentlichkeit angewiesen ist, dann wird der Politik eine kulturgeschichtliche Dimension eröffnet, von der die eng geführten politologischen Theorien der Gegenwart noch nicht einmal träumen.
Eine Dimension, die deutlich macht, dass die Politik sich schwerlich bloß als gleichrangiger Spezialbereich neben Kunst, Wissenschaft und Religion fassen lässt. Sie ist vielmehr die elementare Lebensform des auf die Zivilisation angewiesenen Menschen, der bis in sein Selbstverständnis hinein ein homo publicus ist. In seinem gesellschaftlichen Dasein ist er auf partizipative Beteiligung angewiesen und trägt insofern die aristotelische Bezeichnung als zoon politikon nach wie vor zu Recht.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Die andere Perspektive. Das Heft können Sie hier bestellen.