Nudging: Schöne neue Regierungswelt?

Politik

Spätestens seit der Stellenausschreibung, mit der das Bundeskanzleramt im August drei Psychologen für die Projektgruppe “Wirksam Regieren” suchte, ist Nudging auch in Deutschland angekommen. Inzwischen hat das Team, das “Erkenntnisse zu menschlichem Verhalten” nutzbar machen soll, seine Arbeit im Kanzleramt aufgenommen. Im politischen Berlin ist Nudging in aller Munde – doch was steckt eigentlich dahinter?

Nudging entstand in den USA zunächst als Theorie, fand unter Präsident Barack Obama aber schnell den Weg in die Praxis. Das Konzept beruht auf dem grundlegenden Buch “Nudge” von Cass Sunstein, einem Juristen, und Richard Thaler, einem Verhaltensökonomen, aus dem Jahr 2009. Bereits 2010 entdeckte die britische Regierung Nudging als Regulierungsinstrument. Dänemark und die EU-Kommission folgten. Selbst die Weltbank hat ihren Weltentwicklungsbericht 2015 diesem Thema gewidmet und hofft, damit bessere Resultate bei der Armutsbekämpfung zu erzielen. Ist Nudging ein neues Allheilmittel der Regulierung? Und das auch noch ohne Risiken und Nebenwirkungen?

Nudging lässt sich auf Deutsch mit “anstupsen” übersetzen und meint, jemandem in seinem eigenen Interesse einen kleinen Schubs zu geben, damit er sich so verhält, wie es in seinem oder dem gesellschaftlichen Interesse ist. Diese Regulierungstechnik beruht darauf, dass Menschen, wie die psychologische Forschung in den vergangenen 30 Jahren gezeigt hat, in zwei Systemen denken: in einem schnellen, emotionalen, intuitiven System 1 und einem langsamen, überlegten, kalkulierenden System 2. Nudges zielen zumeist auf das System 1, welches eben auch Fehler macht, wie etwa bei Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Der Bürger oder Konsument wird dabei nicht zu seinem Glück gezwungen, weswegen in diesem Zusammenhang auch von einem liberalen oder “soften” Paternalismus die Rede ist. Die Rationalitätsgrenzen werden aber bewusst ausgenutzt.

Nudging ist allerdings nicht gleich Nudging, auch wenn (zu) oft alles in einen Topf geworfen wird. Nudges unterscheiden sich sowohl in der Zielsetzung als auch in der Wahl der Mittel. Diese Unterscheidungen sind notwendig, nicht nur, um die Diskussion differenzierter zu führen, sondern auch für eine verfassungsrechtliche Beurteilung. Es gibt Nudges, die darauf abzielen, den Menschen vor sich selbst zu schützen, und somit in ihrer Stoßrichtung paternalistisch sind. Sogenannte “Lifestyle Nudges” sollen insbesondere Anreize für eine gesunde Lebensweise schaffen. Es geht darum, die Menschen dazu zu bringen, gesünder  zu leben, also beispielsweise weniger zu rauchen, Alkohol zu trinken oder ungesunde Lebensmittel zu essen. Um dies zu erreichen, wird nicht nur auf traditionelle Regulierung wie einem Rauchverbot in öffentlichen Räumen zurückgegriffen. Zigaretten werden unter die Ladentheke verbannt oder die Schachteln mit abschreckenden Bildern versehen. Auch wenn Obst und Salat in der Schulmensa nach vorne und kalorienreiche Gerichte nach hinten wandern, ist Nudging am Werk. Michael Bloomberg, Ex-Bürgermeister von New York, ließ Ein-Liter-Softdrink-Becher ganz verbieten.

Eine andere Stoßrichtung, nämlich Allgemeinwohlziele, verfolgen Nudges in verkehrsberuhigten 30er-Zonen. Tatsächlich beeindrucken Emoticons Raser weit mehr  als neutrale Verkehrsschilder. Auch die viel diskutierten Regeln zur Organspende gehören in diese Kategorie. Es ist gut erforscht, dass Länder, in denen man sich aktiv für eine Organspende entscheiden muss (“Opt-in”-Vorgabe), erheblich niedrigere Quoten an Organspenden haben als diejenigen Länder, in denen eine “Opt-out”-Regel gilt. Das liegt am “Status-Quo-Bias”: Menschen tendieren dazu, den jetzigen Zustand gegenüber einer Veränderung zu bevorzugen. Eine kleine Änderung der Vorgabe könnte also dem Organmangel begegnen.

Auch die in Großbritannien angewendeten Nudges zum Energieverbrauch gehören in die zweite Kategorie. Verbraucher bekamen in der Rechnung die Information, dass sie viel mehr Energie verbrauchten als ihre Nachbarn. Ein anderes Beispiel: Bei der Steuereintreibung wurde säumigen Zahlern vorgehalten, dass die meisten Nachbarn ihre Steuern längst bezahlt hätten. In beiden Fällen wird die Gefühlsebene angesprochen und Gruppendruck erzeugt, um Menschen zum Handeln zu bewegen.

Der Staat verbietet nicht, er stupst nur. Das Individuum entscheidet.

Nudging bietet einige Chancen. Es wird oft als milderes regulatorisches Mittel betrachtet als Steuern oder Verbote. Der Staat verbietet und gebietet nicht mehr, er “stupst” nur. Die Entscheidung liegt beim Individuum. Es wird nur in die erwünschte Richtung geschubst. Der Mensch ist jedoch nach wie vor grundsätzlich frei in seiner Entscheidung. Und oft ist Nudging wirksam, wie die genannten Beispiele zeigen.

Aber funktionieren diese Stupser auch immer? Aus der Forschung wissen wir, dass Menschen zwar systematisch (und nicht nur zufällig) begrenzt rational sind. Wir wissen auch, dass das individuelle Verhalten sehr stark vom Kontext und auch von der Kultur abhängt. Nudges, die in Nordeu­ropa funktionieren, können eine ganz andere Reaktion in Südeuropa provozieren. Nudges funktionieren also nur unter sehr spezifischen Bedingungen. Diese sind im Labor einfach zu kontrollieren. Aber haben diese Erkenntnisse auch Gültigkeit in der realen Welt? Bevor Nudging als Regulierungsinstrument eingesetzt wird, müssen sowohl der Kontext als auch unintendierte Nebenfolgen bekannt sein und genau geprüft werden – damit der Teufel nicht mit Beelzebub ausgetrieben wird.

Auch die verschiedenen Mittel des Nudging müssen unterschiedlich beurteilt werden. Manche Nudges sind offen, informieren und warnen  den Konsumenten. So fallen etwa Informationen über genveränderte Lebensmittel und Nanotechnologie in Kosmetik darunter oder Angaben über Kalorien in Restaurants, wie es sie in New York gibt. Hier bedeutet Nudging, dem Konsumenten Informationen für eine aufgeklärte Entscheidung an die Hand zu geben. Auch Labels wie “klimafreundlich”, die letztlich die Umwelt schützen sollen, sind nichts anderes als Nudging. Hier werden gedankliche Stoppschilder aufgestellt, die den Bürger veranlassen sollen, von System 1 (emotional) auf System 2 (kalkulierend) zu wechseln. Das ermöglicht Lernprozesse, ist nicht manipulativ und ein harmloserer Eingriff als ein Verbot.

Andere Nudges aber sind verdeckt. Und hier kommen die Kritiker ins Spiel: Nudging sei manipulativ, sagen sie. Der Bürger könne sich nicht dagegen wehren und noch schlimmer, er wisse gar nicht, dass er manipuliert werde. Diese Kritik ist berechtigt. Verdeckte Nudges sind in einem liberalen Rechtsstaat problematisch. Man kauft auch nicht gern Kleider in Läden mit manipulierten Spiegeln.

Nudging ist jedoch eine gezielte staatliche Maßnahme, die sich wie andere auch an rechtsstaatlichen Maßstäben messen lassen muss, da sie einen Eingriff in die Freiheitsrechte der Bürger darstellt, auch wenn der Bürger noch anders entscheiden kann. Damit können Nudges selbstverständlich auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft werden. In Deutschland ist der Grundrechtsschutz lückenlos gewährleistet. Die erste Hürde, die ein Nudge nehmen muss, ist die Frage des legitimen Ziels. Hierbei ist entscheidend, welches Ziel der Nudge verfolgt. Staatlicher Paternalismus (auch in der “soften” Form) ist in einer freiheitlichen Grundordnung grundsätzlich problematisch, anders als allgemeinwohlverfolgende Nudges. Diese Hürde kann auch nicht mit dem Verweis auf den Schutz der Versichertengemeinschaft einfach umgangen werden.

Allerdings gibt es ein paar Sündenfälle des Bundesverfassungsgerichts, etwa bei Gurt- und Helmpflicht. Dort wurde, weil Paternalismus offiziell eben nicht grundgesetzkonform ist, mit dem Schutz der Versichertengemeinschaft argumentiert. Das ist aber nur ein indirekter Effekt und akzeptiert man solche, dann können dem paternalistischen Staat wenig Grenzen gezogen werden. Auch für Ökonomen sind Externalitäten wie beispielsweise Preiseffekte, die über den Markt vermittelt werden, kein Marktversagen. Sonst könnte mit diesem Argument immer und überall eingegriffen werden.

Für alle Nudging-Maßnahmen, die das Allgemeinwohl betreffen, kommt es also darauf an, die Mittel des Nudging zu prüfen. Hier sind die verfassungsrechtlichen Hürden insbesondere bei Manipulation und der Erzeugung von Gruppendruck zu sehen. Wann immer offene Information möglich ist, muss diese auch eingesetzt werden, da sie ein milderes Mittel ist und auch Lernprozesse ermöglicht. Alles andere wäre nicht verhältnismäßig. Ein aktuelles Beispiel ist die Debatte über den Impfschutz gegen Masern. Zwang ist eine rechtlich umstrittene Möglichkeit. Denkbar wäre es, Kinder in der Schule einfach zu impfen ohne besondere Aufklärung darüber, es sei denn, die Eltern verweigern die Impfung explizit (“Opt-out-Modell”). Das wäre nicht gerade das mildeste Mittel. Eine Informationskampagne würde dagegen Lerneffekte generieren, das System 2 ansprechen und klare Entscheidungen ermöglichen. Auch verpflichtende Aufklärungsgespräche zum Thema Impfung, wie das etwa bei Schwangerschaftsabbrüchen der Fall ist, sind denkbar. Auf diese Weise stellt der Staat ein “Stoppschild” auf mit dem Appell: Überlege selbst, was gut für Dich ist!

Nudging hat großes Potenzial sowohl für die staatliche als auch für die politische Kommunikation. Experimente zeigen, dass die Art und Weise, wie Informationen bereitgestellt werden, entscheidend für die Reaktion darauf ist. Sagt ein Arzt bei der Frage, ob operiert werden soll, dass die Sterbenswahrscheinlichkeit 25 Prozent beträgt, entscheiden sich die meisten Patienten gegen eine OP. Ganz anders reagieren sie, wenn der Arzt eine Überlebenschance von 75 Prozent in Aussicht stellt. Die Eindrücklichkeit, Verfügbarkeit und Reihenfolge, in der die  Informatio­nen weitergegeben werden, führen zu jeweils anderen Ergebnissen. Dies alles sollte für effektive Kommunikation beachtet werden. Es braucht nicht viel Phantasie, um zu erkennen, wie der politische Diskurs auf diese Weise bewusst manipuliert werden kann und wie sich auch Ängste schüren lassen. Dieser Missbrauchsgefahr sollte mit Vorsicht begegnet werden.

Wie würden wohl Mill, Humboldt und Kant über Nudging denken?

Der liberale Staat geht von mündigen Konsumenten und Bürgern aus, die ihre Interessen kennen und diese rational verfolgen. Zumindest bei wichtigen Entscheidungen greifen sie auf das System 2 zurück. Dieses Menschenbild liegt auch weiten Teilen des Rechts zugrunde, dem Privatrecht wie dem Verfassungsrecht. Liberale Denker wie John Stuart Mill, Wilhelm von Humboldt und Immanuel Kant sahen die Aufgabe des Staates primär darin, die Rechtssphären der Menschen voneinander abzugrenzen. Es ging ihnen nicht darum, den Bürger zu seinem Glück zu bewegen. Die Beweislast liegt daher bei den Vertretern des Nudging.

In Berlin, der Heimatstadt Wilhelm von Humboldts, sollte seine Abhandlung über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates nicht vergessen werden: Der Staat “sucht nämlich seinen Zweck entweder unmittelbar zu erreichen, seis durch Zwang – befehlende und verbietende Gesetze, Strafen – oder durch Ermunterung und Beispiel; … oder endlich, indem er sogar, ihre Neigung mit demselben übereinstimmend zu machen, auf ihren Kopf oder ihr Herz zu wirken strebt. Im ersten Falle bestimmt er zunächst nur einzelne Handlungen, im zweiten schon mehr die ganze Handlungsweise und im dritten endlich Charakter und Denkungsart.” Letzteres ist einem liberalen Staat nur bedingt angemessen – die 200 Jahre alte Warnung Humboldts sollten wir nicht vergessen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Denken. Das Heft können Sie hier bestellen.