p&k: Herr Reinhardt, warum ist der Denker Machiavelli heute noch so populär?
Volker Reinhardt: Machiavelli ist der Tabubrecher unter den politischen Denkern, er ist ein Querdenker und Provokateur. Er hat schon zu Lebzeiten Anstöße gegeben. Nicht nur Denkanstöße, sondern auch Anstößigkeiten.
Was ist so anstößig bei Machiavelli?
Er hat ein extrem negatives Bild vom Menschen. Der Mensch ist für ihn durch und durch destruktiv. Er will immer mehr Macht, Einfluss, Genuss und Besitz. Damit stößt er jedoch an Grenzen, denn die anderen folgen ja denselben Antrieben. Die andere Hauptanstößigkeit Machiavellis besteht darin, dass er Moral als untauglich für die Politik betrachtet. Er geht davon aus, dass sich Politiker in ihrem politischen Handeln von der im Privatleben gültigen Moral konsequent ablösen müssen.
Wäre Machiavelli heute noch ein guter Berater für Politiker?
Ja, und er war es schon immer. Bald nach seinem Tod empörte sich das christliche, konfessionalisierte Europa über seine Lehre, Machiavelli wurde zur Inkarnation des Bösen in der Politik. Trotzdem wurde er gelesen, er war der heimliche Ratgeber der Mächtigen in Europa. Da passt es gut, dass eine seiner Hauptregeln besagt, dass Politik vor allem die Kunst der Täuschung ist. Nach Machiavelli dürfen, sollen Politiker sich sogar ein Image zulegen, das mit der Realität nichts gemein hat. Als ethisch denkende Menschen werden wir nicht damit einverstanden sein, aber bei nüchterner Betrachtung ist es so. Wahlkämpfe etwa sind doch nichts anderes als gigantische Maschinerien zur Erzeugung eines schönen Scheins, von dem die Wähler sich nur zu gern einlullen lassen.
Machiavelli wäre also der perfekte Kampagnenmanager für eine Partei?
Oder ein Enthüllungsjournalist, der die Machenschaften der Mächtigen mit luzider Transparenz nach außen tragen würde. Als Person war er übrigens absolut unbestechlich. Nützliche Netzwerke hat er konsequent abgelehnt. Er sah sich zu Recht als den schlecht bezahlten, uneigennützigen Staatsdiener, dessen Verdienste eigentlich nicht honoriert wurden, der aber in seiner unwandelbaren Loyalität zum Staat nicht wankt.
Bundeskanzlerin Angela Merkel agiert zuweilen so, als würde Machiavelli als Ratgeber im Kanzleramt sitzen: Sie handelt pragmatisch, ist nicht gerade idealistisch und weiß, wie man Konkurrenz aus dem Weg räumt. Wäre der Meister zufrieden mit ihr?
Vermutlich, in dieser Hinsicht ja, denn damit folgt sie sicherlich seinen Regeln. Eine seiner großen Entdeckungen lautet ja, dass Politik ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten hat, und diese scheint die Kanzlerin zu verstehen. Allerdings mussten die eigenen Gesetze der Politik dem Staat zugutekommen. Ob das heute der Fall ist, müssen spätere Historiker entscheiden.
Nach Machiavelli ist es wichtig, die Launen Fortunas, der Glücksgöttin, im Auge zu behalten. Merkel hat nach dem Unglück von Fukushima, scheinbar prinzipienlos, mal eben ihre Energiepolitik auf den Kopf gestellt. Hätte Machiavelli applaudiert?
Vermutlich hätte er gelobt, dass die Kanzlerin in diesem Fall eine Gelegenheit am Schopfe gepackt hat. Denn Fortuna wird von einer weiteren mythologischen Gottheit begleitet, die nicht minder unberechenbar ist: von der günstigen Gelegenheit. Beide treten zusammen auf. Die Politik hat in diesem Fall die Gelegenheit ergriffen, die darin bestand, dass die Öffentlichkeit zutiefst beunruhigt war und ein Politiker sich populär machen konnte. So unberechenbar Fortuna auch ist – sie bietet mindestens einmal eine Gelegenheit. Wer diese nicht ergreift, der wird ihr ewig nachtrauern.
Lehrt Machiavelli letztlich politischen Opportunismus?
Persönlich war er kein Opportunist, im Gegenteil: Er hat zwar versucht, sich mit seinen Schriften der florentinischen Herrscherfamilie der Medici anzudienen, doch auf eine so kritische und für diese unannehmbare Weise, dass die Abstoßungsreaktion vorhersehbar war. Machiavelli sieht den perfekten Politiker nicht opportunistisch, aber geschmeidig und anpassungsfähig; in dem Sinne, dass er auf veränderte Situationen und Konstellationen reagieren kann, ohne dabei das große Ziel aus den Augen zu verlieren. Und das Ziel entscheidet alleine über die Rechtmäßigkeit der Zwecke. Ziel ist die Größe, Stärke und Dominanz des Staats. Das erlaubt einen Opportunismus im kleinen Stil, nicht aber im großen. Opportunismus im Großen wäre, wenn einem Politiker Privatangelegenheiten wichtiger sind als die des Staats. Dann wäre auch das politische Handeln nicht erlaubt. Der Zweck heiligt auch moralisch verwerfliche Mittel, aber nur, sofern diese den Staat stärken.
Der Denker Machiavelli ist zum personifizierten Bösen geworden. Welches Bild haben Sie vom Menschen gewonnen?
Ich glaube, dass er ein sehr gewinnender Mensch war, der außerordentlich überzeugungsmächtig reden konnte. Seine vielen diplomatischen Missionen wurden immer sehr gelobt. Er war ein vor Witz überströmender, sarkastischer und ironischer Mensch. Er war auch mutig, unbestechlich, und übrigens ein großer Liebhaber des schönen Geschlechts. Man sollte jedoch nicht übersehen, dass er uneinsichtig war, was eigene Fehler betraf.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Alles Fake – Wenn Bürgerdialog nur PR ist. Das Heft können Sie hier bestellen.