„Merz’ Großtat, wo er über seinen Schatten springt, steht noch aus“

Interview


Kurzbiografie: Mariam Lau
Mariam Lau wurde am 21. März 1962 in Teheran als Tochter des iranischen Publizisten Bahman Nirumand geboren und wuchs in Tübingen und Berlin auf. Nach einer Ausbildung zur Krankenschwester studierte sie Amerikanistik in Berlin und Bloomington, Indiana. Ihre journalistische Laufbahn begann bei der „Taz“, führte über die „Welt“ und seit 2010 ist sie politische Korrespondentin bei der „Zeit“. In ihrer Arbeit konzentriert sie sich auf die CDU und Innenpolitik. Lau ist mit dem Journalisten Jörg Lau verheiratet, hat drei Töchter und hat mehrere Bücher veröffentlicht, unter anderem über Harald Schmidt, Angela Merkel und nun Friedrich Merz.

Frau Lau, Sie haben Friedrich Merz schon kurz nach den ersten Tagen im Amt gesprochen. Wie haben Sie ihn erlebt?

Lau: Es fühlt sich, glaube ich, auch für ihn ganz schön beeindruckend an. Andererseits sagte er, die Leute, die er jetzt in Paris, Brüssel und Warschau getroffen habe, kenne er ja alle schon. Aber man merkte, das hatte einen ganz schönen Wumms. Er wirkt begeistert, will sich reinstürzen und hat Tatendrang, das wurde deutlich.

Hat er Ihr neues Buch über ihn schon gelesen und vielleicht kommentiert?

Lau: Nein, nein. Ich habe ihm auch die PDF-Fahnen nicht geschickt, weil ich dachte, er muss das richtige Buch bekommen. Das mache ich dann mit Widmung, wenn ich es in der Hand habe. Ich selbst habe ja noch kein fertig gedrucktes Exemplar gehabt.

Ihr Buch hat den Untertitel: „Die Suche nach der verlorenen Mitte“. Was meinen Sie damit?

Lau: Der Titel entstand vor der verunglückten Kanzlerwahl, die dann aber die perfekte Illustration dafür war. Denn da war Merz darauf angewiesen, dass Parteien wie die Linke oder die Grünen über ihren parteipolitischen Schatten springen und einen weiteren Wahlgang mittragen – zugunsten der Stabilität des Ganzen und der Demokratie, wenn man jetzt pathetisch sprechen will. Sie hätten ja auch sagen können: Soll er doch mit seinem Kurs vor die Wand fahren. Haben sie aber nicht. Da muss sich Merz die Frage gefallen lassen: Wo würde er denn mal über seinen Schatten springen? Bei der Zeitenwende hat die Union mit der Ampelregierung für das Sondervermögen gestimmt. Die Union macht auch geltend, dass sie 50 Prozent aller Anträge der Ampel mit abgestimmt hat. Das waren aber oft Vollzugssachen mit Brüssel-Bezug. Eine echte Großtat, bei der er sich überwindet, steht ihm noch bevor.

Sie schreiben von Riesenerwartungen an Merz. Gibt es eine Prioritätenliste, was er zuerst anpacken sollte, oder prasselt alles gleichzeitig auf ihn ein?

Lau: Ich glaube schon, dass es eine Prioritätenliste gibt. Einmal das Thema Migration. Das war zwar von einem gewissen Chaos begleitet – haben wir jetzt eine Notlage oder nicht? Aber wichtig war eben die Geste: Wir legen jetzt hier den Schalter um. Dieses Signal spielt bei Migrationsbewegungen eine Rolle. Dann auf jeden Fall die Wirtschaft: bessere Abschreibemöglichkeiten für Investitionen oder die Senkung der Energiepreise – da hoffen sie, das bis zur Sommerpause hinzukriegen, sodass die Leute wirklich merken, da wird jetzt was leichter. Und eine dritte Priorität, und ich glaube, in seinem Herzen ist es umgekehrt, ist der europäische Zusammenhalt. Das ist für ihn, ich will nicht sagen rührend, aber man merkt schon, dass hier jemand ist, der in Europa, in Brüssel seine ersten politischen Schritte gemacht hat. Das war 1989, in der Zeit der größten Euphorie der EU, der Siegeszug der liberalen Demokratie, Maastricht, man wollte enger zusammenrücken. Das ist die Zeit, in der Friedrich Merz im Europäischen Parlament saß, und das merkt man ihm immer noch an.

Hatten Sie bei seinen Antrittsbesuchen, auch der Reise in die Ukraine mit Keir Starmer und Macron, das Gefühl, dass sich wirklich etwas bewegt? Oder ist das noch symbolisch, und zu Hause wartet der triste Alltag?

Lau: Ob die Europäer, ganz egal, was die Amerikaner machen, zu eigenen Sanktionen kämen, da bin ich nicht sicher. Aber wenn es wirklich gelänge, eine Art Ultimatum zu etablieren: Wenn du, Putin, weiterhin zivile Ziele in der Ukraine beschießt, dann werden wir antworten, zum Beispiel auch mit dem Taurus – diese Möglichkeit ist jetzt jedenfalls irgendwie näher. Der Countdown läuft ja zu dem Termin am Donnerstag, wo Selenskyj nach Istanbul fahren will und Putin ein direktes Gespräch dort verlangt hat. Ich glaube noch nicht, dass Putin da auch hinfährt. Aber es kommt auf den entscheidenden europäischen Zusammenhalt an und ob die Europäer unabhängig von den Amerikanern irgendwas auf die Beine gestellt kriegen. Das ist für Merz eine absolute Priorität.

Buchcover: Merz. Auf der Suche nach der verlorenen Mitte

Mariam Lau
Merz. Auf der Suche nach der verlorenen Mitte

Ullstein Verlag. 2025.
336 Seiten. 24,99 Euro.

Merz ist ein sehr außenpolitischer Kanzler, hat den Nationalen Sicherheitsrat ins Kanzleramt geholt. Bleibt da noch etwas übrig für Außenminister Johann Wadephul?

Lau: Der Besuch Wadephuls in Israel war jedenfalls der Versuch, eigenständige Töne anzuschlagen. Einerseits hat er die Staatsräson bekräftigt, Israels Existenz sei Teil unserer Staatsräson – was inzwischen sehr hohl klingt, weil man nicht mehr weiß, was konkret daraus folgt. Er hat aber auch gesagt, die Israelis seien zu humanitären Hilfen verpflichtet. Ob und wie weit da die Bundesregierung bereit ist, Druck auszuüben, weiß ich nicht. Aber man spürt, dass es da ein Außenministerium gibt, das eigene Aktivitäten entfaltet. Ich glaube nicht, dass Wadephul auf Kollisionskurs zu Merz gehen wird, aber man merkt, dass da jemand sitzt, der auch was will.

Sie zitieren Merz in Ihrem Buch als einen „Konservativen in einer Ära der Autoritären, der sich den Titel konservativ immer wieder neu verdienen muss, weil er ihn gelegentlich verspielt.“ Das müssen Sie erklären.

Lau: Wenn man Konservatismus als einen gewissen Staatsernst definiert, als Verantwortung für das Gelingen des Ganzen und die Stabilität der Institutionen, dann hat Merz an einem entscheidenden Moment, im Januar bei der Migrationswende, einen Unfall gebaut. Er hat eine gemeinsame Abstimmung mit der AfD herbeigeführt und sagte „Ich gucke nicht rechts, ich gucke nicht links, ich gehe einfach durch“. Das war hart und vollkommen unnötig. Der Antrag bewirkte nichts außer einer Willensbekundung, hatte keinen bindenden Effekt. Es brachte nichts, außer der Welt zu zeigen, dass Merz im Zweifel doch Dinge zusammen mit der AfD macht. Dann hatte man Demonstrationen im ganzen Land, Sturm auf CDU-Geschäftsstellen – für nichts und wieder nichts. Das ist nicht konservativ. Konservativ wäre große Vorsicht.

Sie nehmen ihm ab, dass er mit der AfD nichts zu tun haben will. Warum tun das so viele andere nicht?

Lau: Ich glaube, viele Leute sind nicht bereit, den Unterschied zwischen rechts und rechtsextrem zu machen. Und Merz hat gelegentlich, obwohl das selten geworden ist, Ausbrüche ins Ressentiment gewagt. Etwa der Spruch, Flüchtlinge ließen sich hier die Zähne machen, während deutsche Patienten keinen Termin bekämen. Solche Sprüche sind erstens schlecht recherchiert und bewirken zweitens nichts als Ressentiment. Das nährt bei vielen den Verdacht, er habe Neigungen nach ganz rechts. Ich würde ihm die nicht unterstellen, aber die CDU hat es noch vor sich, da einen guten Ton im Umgang mit der AfD zu finden.

Donald Trump fährt mit Populismus und einem gewissen „Sofortismus“ – also alles gleich am ersten Tag zu erledigen – ziemlich gut. Ist Populismus nur ein Problem für diejenigen, die ihn nicht mit Vollgas fahren?

Lau: Das Problem bei Donald Trump ist nicht der Populismus. Unser beliebtester Politiker, Boris Pistorius, ist offenbar in der Lage, auch unpopuläre Botschaften umstandslos, klar und entschieden zu formulieren und damit Leute zu begeistern. Man kann also Populist sein, ohne Schaden anzurichten. Trumps Problem ist das Ressentiment: Amerika wird von allen übers Ohr gehauen, er wird gemein behandelt. Er agiert aus Hass und Verachtung – für Frauen, für Schwarze, letztlich eine Art White Supremacy. Das ist das Problem, nicht das Populäre.

Wie viele Emotionen tun einem Kanzler gut? Scholz setzte auf „never complain, never explain“, was nicht lange funktionierte.

Lau: Dass da jemand aus Fleisch und Blut steht, der ein Herz hat und den Dinge erschrecken, ist völlig in Ordnung. Aber man kann von jedem Erwachsenen, erst recht von einem Kanzler, erwarten, dass er sich davon nicht wegtragen lässt.

Friedrich Merz hat mit den Emotionen gekämpft, als er im ersten Kanzlerwahlgang durchfiel. Was haben Sie da gedacht?

Lau: Ich habe mich gefragt, ob er sich das selbst eingebrockt hat. Sein Wahlkampf hat eben nicht zuverlässig in die Mitte und aus der Mitte heraus agiert, sondern war oft von Verachtung geprägt. Ich erinnere an eine Szene, ich glaube in Halle, vor der Wahl, da sagte er sinngemäß: Was glauben Sie, wie sinnlich SPD und Grüne werden, wenn ich denen den Schlüssel für die Dienstwagen vor die Nase halte? Und dann muss man Wochen später um deren Zustimmung bitten, nachdem man verkündet hat „linksgrün ist vorbei“. Merz macht jetzt den Punkt, der auch nicht falsch ist, dass sowohl Kohl als auch Merkel sehr viel mehr Abweichler hatten, aber die führten andere Koalitionen. Umgekehrt: Jemand, der seinen Vorsitzenden in so einem Moment hängen lässt, agiert auch schon sehr klein.

Wie beurteilen Sie die Personalpolitik von Merz im Kabinett? Angela Merkel wurde vorgeworfen, sich nie eine starke Nummer zwei an die Seite geholt zu haben.

Lau: Armin Laschet hatte Kabinette mit lauter sehr eigenständigen Köpfen, wie einem Herbert Reul, die auch für sich genommen einen Bekanntheitsgrad hatten. Laschet wollte ein Kabinett voller Leute, die auf eigene Faust was hermachen. Dieses Risiko ist Merz nicht eingegangen. Sein Kabinett besteht, auch unter den Neulingen, aus Leuten, mit denen er persönlich gut bekannt ist und wo er das Gefühl hat, auf die kann er sich verlassen – Leute, die nicht aus der Reihe tanzen. Ganz anders bei der Besetzung im Kanzleramt: Die Spitzenbeamten dort gelten durchweg als exzellent, auch solche, die aus SPD- oder Grünen-geführten Häusern kommen. Da hat er auf Kompetenz geachtet, nicht zwingend darauf, dass sie aus demselben Stall kommen. Im Maschinenraum sitzen also Leute, die echt wissen, was sie tun.

Trotzdem vermissen viele ein prominentes Gesicht aus Ostdeutschland in der ersten Reihe. Warum hat er nicht zum Beispiel einen Reiner Haseloff überredet?

Lau: Merz weiß, dass er im Osten nicht sehr beliebt ist. Ich glaube, bei Reiner Haseloff war die Überlegung: Den brauchen wir in Sachsen-Anhalt. Die Union hat große, nicht unberechtigte Angst, dass die AfD dort nächstes Jahr eine absolute Mehrheit bekommt. Was Katherina Reiche als Wirtschaftsministerin angeht: Sie ist Brandenburgerin. Klar, sie hat eine Weile nicht mehr dort gelebt. Aber brauchen wir jemanden, der immer nur auf Strukturprobleme fokussiert ist? Sie ist Energiepolitikerin, und Energiepreise sind ein Kernproblem. Da zu sagen, ich nehme so jemanden und kümmere mich nicht um Regionalproporz, leuchtet mir ein.

Woran liegt es, dass die Eigenschaft „ostdeutsch“ etwas ist, das man nicht erwirbt, wenn man hinzieht, aber leicht verliert, wenn man weggeht?

Lau: Guter Punkt. Es gibt da große Ungerechtigkeiten. Die Zahl der Universitätspräsidenten aus dem Osten ist absurd niedrig. Das kann nicht nur daran liegen, dass die aus dem Westen alle so grandios sind. Dass man sich da, gerade weil der Osten ein heißes politisches Pflaster ist, mehr Repräsentanz wünscht, kann ich verstehen. Aber die Gesamtlage ist brenzlig.

Olaf Scholz hatte mit der FDP einen Partner im Überlebenskampfmodus und die Hypothek der nicht verfassungsgemäßen Haushalte. Sehen Sie ähnliche Fliehkräfte in der Merz-Regierung?

Lau: Ja, aber ganz eigene Probleme. Die SPD muss sich neu sortieren: Will sie die Partei der arbeitenden Bevölkerung sein oder die der Akademiker und Beamten, die sie soziologisch mehrheitlich ist? Die Auseinandersetzung ums Bürgergeld war paradigmatisch. Wie verhält sich die SPD dazu, dass gerade in Nordrhein-Westfalen immer mehr Leute zur AfD abwandern? Wie will sie mit Migration umgehen? Viele Sozialdemokraten sind, glaube ich, heimlich der CDU dankbar für deren harte Linie. Schaut man nach Dänemark, sieht man erfolgreiche Sozialdemokraten, denen es durch eine sehr harte migrations- und leistungsorientierte Sozialpolitik gelungen ist, die Autoritären klein zu machen.

Welche konkreten Konfliktpunkte sehen Sie in der Koalition zwischen Merz und der SPD?

Lau: Die Sozialpolitik wird immer wieder ein Problem sein. Und dann die Frage, wie man im Zusammenhang mit Migration mit europapolitischen Fragen umgeht. Wenn es zu Interessenkonflikten zwischen deutschen und europäischen Interessen kommt – wofür wird Merz sich entscheiden? Sozialdemokraten würden oft reklamieren, europäische Interessen voranzustellen, etwa den Erhalt von Schengen. Merz und die Union würden vielleicht sagen, Schengen muss im Zweifelsfall leiden, wenn wir an unserer Grenze Kontrolle zeigen müssen.

Wie balancieren Sie in einem Buch über einen Politiker Privatleben und öffentliches Leben? Was muss rein, was kann raus?

Lau: Ich nutze, was ich weiß. Vieles weiß ich ja auch gar nicht. Merz hat mal gesagt, wenn er ein Chauvinist wäre, bekäme er zu Hause Ärger von Frau und Töchtern. Ob das stimmt, wüsste ich gern, aber die wollen nicht, dass man da reinhorcht, und das respektiere ich. Ich mag nicht in anderer Leute Privatleben rumschnüffeln. Was jemand nicht öffnen möchte, bleibt zu. Aber man merkt, dass diese Familienorientiertheit von Merz eine Rolle spielt. Der Gedanke, welche Welt wir den Enkeln hinterlassen – er ist sehr eng mit seinen sieben Enkeln. Früher sind er und seine Frau auch zu zweit mit denen in Urlaub gefahren, ohne die Eltern. Das lasse ich immer mal wieder einfließen, aber wirklich in Grenzen.

Was sind die ersten Quellen? Fährt man in den Heimatkreisverband und fragt den Förster?

Lau: Ich wollte ja gerade keine Biografie schreiben, sondern bin radikal nach den Themen gegangen, die mich interessieren. Ich versuche, Merz in eine Kulisse von Leuten zu stellen, die ihn entweder geprägt haben oder die ein bestimmtes Thema oder die Partei prägen. In dieser Kulisse wird er für mich deutlicher, als wenn ich seinen Fußballcoach treffen würde. Es ist ein Versuch, sich mit Tortenstücken den ganzen Kuchen zu erarbeiten.

Der Soziologe Andreas Reckwitz spricht von Verlusterfahrungen in der Spätmoderne. Hat Friedrich Merz darauf eine Antwort, die eine Chance hat?

Lau: Auf jeden Fall. Der Schrecken, wenn man hört, VW muss 40.000 Arbeitsplätze streichen oder Siemens ist nicht mehr, was es war, oder „Ich erkenne den Jungfernstieg nicht wieder“ – diese Verlusterfahrungen haben viele. Ein Politiker muss klarmachen, was er retten kann. Die Autoindustrie in ihrer gewohnten Form ist nicht zu retten; sie hat zu viele Gelegenheiten zur Modernisierung verpasst. Diese behutsame Vermittlung zwischen Bewahren und der Notwendigkeit, dass wir echt aus dem Quark kommen müssen, das ist Merz’ Aufgabe. Die Besetzung des Kulturstaatsministeriums mit Wolfram Weimer ist so ein Signal: Der Blick auf die gesamte deutsche Geschichte, auch auf Vertriebene, soll geweitet werden, nicht nur auf Kolonialismus, wie Claudia Roth es tat – obwohl Kolonialismus ein unterbelichtetes Thema ist. Geborgenheit zu erzeugen, indem man an gemeinsame vergangene Zeiten erinnert – die Weimarer Republik nicht nur als Katastrophenszenario, sondern auch ihre großartigen Entwicklungen in Fotografie oder Tanz. Oder die 50er Jahre, über die Harald Jähner großartig geschrieben hat. Solche Dinge kann eine Regierung anregen.

Merz war lange aus dem Politikbetrieb raus, hat gewartet, bis „die Alte“ – Angela Merkel – weg ist. Hat er sich geupdatet oder sprechen noch die Nullerjahre aus ihm?

Lau: Ichglaube, er war mit vielem, etwa den Rechten von Schwulen und Lesben, nicht so vertraut. Da hat er sich früher im Ton wahnsinnig vergriffen, brutale Sachen gesagt. Als der frühere Regierende Bürgermeister in Berlin, Klaus Wowereit, sein Coming-out hatte, meinte Merz sinngemäß, Hauptsache, er lasse ihn in Ruhe. Mein Eindruck war, dass er es selbst genoss, aus dieser sehr piefigen Ecke rauszukommen und seine Scheuklappen abzuwerfen.

Die wirtschaftspolitische Kehrtwende mit dem Schuldenpaket beschreiben Sie als Paradigmenwechsel. Schafft es die Regierung, dieses Geld effektiv einzusetzen, anders als beim Digitalpakt, wo Millionen liegen blieben?

Lau: Merz wirkt wild entschlossen, das zu machen. Zweifel bleiben wegen der vielen sozialpolitischen Forderungen im Koalitionsvertrag, die primär konsumtive Ausgaben sind: Mütterrente, Pendlerpauschale, Agrardiesel, Gastro-Mehrwertsteuererlass. Das kreiert kein Wachstum. Schade, dass man darauf nicht verzichten konnte, aber das waren wohl aus Merz’ Sicht politische Notwendigkeiten, wo die „S-Parteien“ CSU und SPD gegen die ordoliberale CDU ein Bündnis schlossen, gegen das er sich nicht wehren konnte. Meine Hoffnung ist, dass das Budget für Infrastrukturmaßnahmen so groß und festgelegt ist, dass man nicht dran vorbeikommt. Aber da haben wir ja schon Pferde kotzen sehen.

Neben der SPD muss Merz die CSU im Blick haben. Wie beurteilen Sie sein Verhältnis zu Markus Söder?

Lau: Ich würde immer sagen: Vorsicht ist geboten, von Loyalität kann man da nicht ausgehen. Es herrscht jetzt ein Burgfrieden, auch weil man in der Migrationsfrage anders als vor zehn Jahren eng beieinander ist. Aber wir haben gesehen: Am ersten Tag, als Merz in Warschau auf der Bühne stand, rief er Alexander Dobrindt an und bat ihn, nicht seinerseits auch an die polnische Grenze zu fahren und dort Strongman-Auftritte hinzulegen. Das deutet an, dass man jederzeit wieder in Konfliktlagen geraten kann, etwa wenn deutsche und europäische Interessen kollidieren.

Carsten Linnemann will als CDU-Generalsekretär der Partei eine „eigene Stimme“ geben. Hat er eine Chance?

Lau: Ich glaube schon, dass Merz ihn das machen lässt, solange es nicht zum Konflikt kommt. Die ordoliberale Stimme zu sein, das erwartet Merz wohl auch von der Partei. Aber Carsten Linnemann war schon sehr enttäuscht, glaube ich, dass Merz nicht mehr um das Ressort Arbeit und Soziales gekämpft hat. Da hätte Linnemann gerne noch mehr Reformen durchgesetzt.

Ein Kopf, den wir noch diskutieren müssen: Fraktionschef Jens Spahn. Viele sagen, es sei ein Fehler gewesen, ihm die Fraktion zu geben, da er sofort eine eigene Machtbasis baue.

Lau: Es ist jedenfalls sehr riskant, weil Spahn definitiv zu den Kronprinzen gehört. Mit der Fraktion schafft er sich eine Bastion, die Merz gefährlich werden kann. Als derjenige an vorderster Front in der Konfrontation mit der AfD wird Spahn gezwungen sein, die Abgrenzung vorzunehmen. Wenn Merz eine Regierungserklärung hält, Alice Weidel antwortet, dann ist der Nächste, der auf Weidel antwortet, der Fraktionsvorsitzende der Union. Da kann Spahn sich nicht hinstellen und sagen, Alice Weidel hat Recht. Ich unterstelle ihm schon, dass er in vielen Fragen durchaus ähnlich tickt, aber nicht, dass er mir nichts, dir nichts Bündnisse mit der AfD eingehen würde. Aber er hält ab und zu mal den Zeh ins Wasser, um die Temperatur zu prüfen und zu sehen, wie das so ankommt.

Frau Lau, Danke für das Gespräch.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 151 – Thema: Rising Stars 2025. Das Heft können Sie hier bestellen.