MdB auf Abruf

Politik

Manchmal wird Janosch Dahmen von seinem Chef gefragt, wie lange er noch für ihn arbeiten wird – mitten in einer OP. “Bisher konnte ich immer die Wasserstandsmeldung geben, dass alles beim Alten ist”, erzählt der 33-Jährige. Er ist Chirurg in der Notfallambulanz der Unfallklinik Duisburg. Vor einem Jahr wäre er um ein Haar für die Grünen in den Bundestag eingezogen. Seit der verlorenen Wahl ist er wieder am OP-Tisch und im Rettungshubschrauber im Einsatz.

Doch nicht nur das. Janosch Dahmen ist MdB auf Abruf. Wie so einige: Dutzende Menschen in Deutschland können von heute auf morgen Bundestagsabgeordnete werden. Sie sind Nachrücker Nummer eins auf der Landesliste ihrer Partei. Dass es zum Ernstfall kommt, kann ganz unterschiedliche Gründe haben: der Tod eines Abgeordneten, schwerwiegende persönliche Motive, Krankheit, der Wechsel zurück in den alten Job oder eine Landesregierung – all das sind denkbare Szenarien.

Diese Unwägbarkeiten im Hinterkopf, fällt es manchen potenziellen Nachrückern gar nicht so leicht, sich auf ihre neue Rolle einzulassen. Janosch Dahmen war “lange Zeit sicher davon ausgegangen”, den Einzug in den Bundestag zu schaffen. Selbst am Wahlabend “sah es zwischenzeitlich so aus, als würde es klappen”, erinnert er sich. Doch dann kam alles anders. Im Gegensatz zur Bundestagswahl 2009 reichte Platz 14 auf der grünen Landesliste Nordrhein-Westfalens vier Jahre später nicht mehr für ein Bundestagsmandat.

Weil ihm erfahrene Parlamentarier dazu geraten hatten, war Janosch Dahmen schon früh auf Mitarbeitersuche für sein Abgeordnetenbüro in Berlin gegangen, hatte Vorvereinbarungen getroffen. Umso bitterer war die Niederlage. Nach der Wahl bat er seinen Chef um drei Wochen Urlaub, “um das alles zu sortieren”. Doch zur Ruhe kam er nicht. “Am Anfang war es ganz schlimm. Als es zeitweise Sondierungsgespräche zwischen CDU und Grünen gab, habe ich jede Agenturmeldung verfolgt. Drei Monate lang habe ich bei jeder Nachricht überlegt, ob das bedeuten könnte, dass ich nachrücke”, erzählt er.

Angelika Glöckner hatte einen Notfallplan

Auch Angelika Glöckner (SPD) hat die Nachrichtenlage eine Zeitlang besonders aufmerksam beobachtet. Nach der knappen Wahlniederlage stellte sich bei der 52-Jährigen, die auf Listenplatz elf der SPD Rheinland-Pfalz kandidiert hatte, der Alltag schnell wieder ein. Während der Kabinettsbildung im Dezember 2013 war der Wechsel nach Berlin dann aber plötzlich wieder zum Greifen nah. “Als klar war, dass Andrea Nahles Bundesarbeitsministerin wird, kam die Frage auf, ob sie ihr Abgeordnetenmandat zurückgibt. In diesem Fall wäre ich nachgerückt”, erinnert sich Glöckner. Mit ihrer Familie hatte sie schon vor der Wahl einen Notfallplan aufgestellt – ihr jüngster Sohn ist gerade elf Jahre alt. Nach wenigen Tagen legte sich die Aufregung: Andrea Nahles wurde Ministerin, behielt ihr Mandat – und Angelika Glöckner ihren Job als Personalratsvorsitzende bei der Stadtverwaltung Pirmasens.

Kathrin Rösel bleibt gelassen

Kathrin Rösel erlebte am Tag der Bundestagswahl ein Wechselbad der Gefühle. Dass sie tatsächlich über die Landesliste der CDU Niedersachsen ins Hohe Haus einziehen könnte, stand für sie gar nicht zur Debatte. “Für mich war klar, dass die Liste auf keinen Fall bis Platz 32 ziehen würde. Am Wahlabend kam dann ein Anruf: ‚Wir sind schon bei Platz 28‘. Da dachte ich: ‚Hups! Das wird knapp‘”, erzählt die 43-Jährige. So nüchtern sie ihre Chancen vor der Wahl bewertete, so unaufgeregt lebt sie heute ihre Rolle als potenzielle Nachrückerin. In der Samtgemeinde Meinersen leitet sie nach wie vor die Fachbereiche Personal und Bildung. Hin und wieder kommt die Frage auf: “Was passiert denn, wenn du gehst?” Kathrin Rösel wiegelt ab: “Das ist ziemlich unwahrscheinlich.”

Was sagt die Statistik?

Das kann man auch anders sehen: Ein Jahr nach der Wahl sind schon vier Abgeordnete nachgerückt. Auf Annette Schavan (CDU), die ihr Mandat niederlegte, um Botschafterin im Vatikan zu werden, folgte im Juli Waldemar Westermayer. Für Sebastian Edathy, der im Zuge der Kinderpornografie-Vorwürfe auf sein Mandat verzichtete, rückte im Februar Gabriele Groneberg nach. Priska Hinz (Grüne) schied im Januar aus dem Bundestag aus, um in Hessen Umweltministerin zu werden. Sie wurde durch Wolfgang Strengmann-Kuhn ersetzt. Und Christian Petry (SPD) rückte im Januar für Reinhold Jost nach, der seither Justizminister des Saarlandes ist.

Der Blick in die Statistik zeigt: Bei vier Nachrückern wird es bis zur nächsten Bundestagswahl nicht bleiben. In der vergangenen Legislaturperiode (2009 bis 2013) schieden 32 Abgeordnete vorzeitig aus dem Bundestag aus, in den vier Jahren davor waren es 29. Doch warum rückten jeweils nur 30 beziehungsweise 26 Parlamentarier nach? Klaus Pötzsch, Pressesprecher des Bundeswahlleiters, klärt auf: Bis zur Wahlrechtsreform 2013 wurden ausscheidende Abgeordnete, die ein Überhangmandat hatten, nicht nachbesetzt. Seitdem es Ausgleichsmandate gebe, die einen theoretischen Überhang de facto neutralisieren, gelte die Regel: Eine Person scheidet aus, die nächste auf der Landesliste der jeweiligen Partei rückt nach. Nur wenn die Liste erschöpft ist, bleibt der Sitz unbesetzt.

Wie das Nachrücken im Ernstfall genau ablaufen würde, davon haben Janosch Dahmen, Kathrin Rösel und Angelika Glöckner nur eine vage Vorstellung. Wer offiziell feststellt, dass sie Nachrücker Nummer eins sind (Landeswahlleiter), wie viel Bedenkzeit sie bekämen (eine Woche) – mit den Details haben sie sich bislang nicht beschäftigt. Und tatsächlich hängt viel davon ab, ob ein Platz im Parlament überraschend oder mit einem gewissen Vorlauf frei wird.

Es wird schnell gehen müssen

Auf gepackten Koffern sitzen die drei jedenfalls nicht. “Wenn Tag X kommt, dann bekomme ich das organisiert“, sagt Janosch Dahmen, der wenige Monate nach der Bundestagswahl Vater geworden ist. Auch Angelika Glöckner blickt dem Ernstfall gelassen entgegen: “Wenn ich nachrücken sollte, würde der Notfallplan von 2013 greifen. Der Rest würde sich ergeben”, sagt sie. Und auch Kathrin Rösel bleibt entspannt. “Es wird schnell gehen müssen und dazu wäre ich auch in der Lage. Mein Sohn wird jetzt 18 Jahre alt. Er steht auf eigenen Füßen.”

Am Können dürfte es also nicht scheitern, sollten die drei potenziellen Nachrücker eines Tages zum Zuge kommen – eher am Wollen. Einzig Janosch Dahmen zögert bei der Frage keinen Augenblick: “Ich würde sofort nach Berlin gehen”, so der Unfallchirurg. Kathrin Rösel äußert sich da schon etwas vorsichtiger: “Je weniger Zeit von der Legislaturperiode übrig wäre, umso länger müsste ich nachdenken. Ich weiß nicht, ob ich für nur ein Jahr nach Berlin gehen würde”, sagt sie. Und auch Angelika Glöckner will sich im Falle einer “sehr fortgeschrittenen Legislatur” nicht festlegen: “Das wäre eine schwierige Situation.”

Nicht jeder reißt sich darum, im Nachhinein einen Platz im Plenarsaal zu ergattern. So bleibt es nicht nur für jene spannend, die auf der Nachrückerliste ganz oben stehen. Ein Beispiel: Tobias Lindner (Grüne) rückte im Juni 2011 für Ulrike Höfken nach, die Umweltministerin in Rheinland-Pfalz wurde – allerdings erst, nachdem zwei andere Kandidaten das Ticket nach Berlin nicht gelöst hatten.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Die andere Perspektive. Das Heft können Sie hier bestellen.