Lasst auch mal Tränen zu!

Politik

Mein Freund weinte, als er seine Tochter in die Arme nahm. Sie war sieben Wochen zuvor in Berlin zur Welt gekommen. Er hatte sie drei lange Wochen nicht mehr gesehen. 800 Kilometer hatte er mit dem Auto in zwölf Stunden zurückgelegt, bei 37 Grad Celsius im Stau, die letzten 100 Kilometer durch die engen Täler Tirols. Es brach aus ihm heraus, als er in die weit geöffneten Augen blickte. Eine Eruption von Emotionen. Tränen kullerten über seine Wangen. Schluchzend drückte er das Baby an seine Brust. Zwei Tage später weinte er wieder, diesmal waren es keine Freudentränen. Es waren Tränen des Abschieds, der Ungewissheit, der Angst. Der Angst, sein Kind zu verlieren. Die Eltern hatten sich Monate vor der Geburt getrennt, es sollte ein Sorgerechtsstreit in Berlin folgen.

Was hat das alles mit Barack Obama, Hillary Clinton, Wladimir Putin, Peer Steinbrück oder gar Sirimavo Bandaranaike, der ersten frei gewählten Regierungschefin der Welt, zu tun? Auch sie haben geweint, allerdings umringt von Kameras. Das Publikum reagierte vielstimmig. Von „das ist menschlich“, über „wie peinlich ist das denn“ bis „das ist ja alles gespielt“ reichen die Kommentare. Eine der stärksten Gefühlsregungen, das Weinen, ist ein Affekt, der verunsichert. Nicht nur den Weinenden, auch den Betrachtenden. Es bleibt ihm überlassen, ob Tränen als gut oder schlecht, als Stärke oder Schwäche wahrgenommen werden. Es kommt darauf an, in welchem Rahmen das Bild fixiert und analysiert wird. Genauso wie Frauen und Männer aus unterschiedlichen Motiven weinen und kommunizieren, bewerten sie auch aus unterschiedlichen Motiven und Perspektiven. Auch geben Kultur, Religion, Erziehung und Sozia­lisation den Frame für das Verhalten vor, das sie von Politikern erwarten. Mit diesem Bild im Rahmen navigieren sie durch ihre Gefühlswelten und fällen Urteile.

Mir wird immer wieder die Frage gestellt, ob man Lachen oder Weinen strategisch einsetzen und planen oder gar antrainieren kann. Ja, man kann. Es gibt ausgezeichnete Schauspieler, die das können. Diese haben nicht nur das Talent, sondern auch eine beinharte Ausbildung und Schule hinter sich, um etwa Trauer spielen zu können. Aber Politiker sind, mit wenigen Ausnahmen, Amateure in diesem Genre. Wer will schon heulende Laiendarsteller sehen oder gar wählen?

Man merkt die Absicht und ist verstimmt, hat sich in den deutschen Sprachgebrauch eingeschlichen. Goethe lässt Tasso im Original allerdings sagen: „So fühlt man Absicht, und man ist verstimmt.“ Aus Fühlen wurde Merken, typisch deutsch möchte man meinen. Alles rationalisieren, sich auf die Fakten konzentrieren. Der Appell an den Verstand erzielt aber nur seine Wirkung, wenn er in einen emotionalen Rahmen eingebettet ist. Goethe nimmt mit dem Wort „fühlen“ vorweg, was die Wissenschaft erst in den vergangenen Jahrzehnten über Geschichten und Emotionen belegt hat. Wir entscheiden vornehmlich aus dem Bauch, das Unterbewusstsein lässt uns an etwas oder an jemanden glauben oder nicht.

Die Rezipienten können sehr wohl zwischen „echt“ und „gespielt“ unterscheiden, auch bei Tränen. Die Tränen seh’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube, könnte Goethe Faust in diesem Kontext sagen lassen. Fühlen, Denken, Reden und Tun müssen im Einklang stehen. Es muss stimmen und als stimmig wahrgenommen werden.

Natürlich dürfen Politiker große Emotionen zeigen und wecken, sie dürfen auch weinen. Speziell dann, wenn sie ihre stimmige Geschichte erzählen. Gemeinsam mit einem deutschen Politiker habe ich eine Parteitagsrede entwickelt und darin die Geschichte Europas mit seiner eigenen verwoben. Die Aufgabe war, die etwa fünfminütige Schluss-Passage frei zu erzählen. Es war eine Steißgeburt, weil er schon im Coaching mit den Tränen kämpfte. Er wollte sich auf der Bühne keinesfalls blamieren. In seinem Denken war das Weinen Schwäche, etwas, das an seiner Männlichkeit rüttelte. Er hätte das doch noch nie gemacht und sei dennoch erfolgreich. Ich konnte ihn schließlich überzeugen – es klappte.

Die „German Angst“ vorm Weinen

Das Narrativ war dermaßen stark, dass es den Redner in seinen emotionalen Bann zog. Leise Töne und Pausen bei einer Wahlkampfrede. Die eigene Geschichte überwältigte ihn, die Stimme begann am Höhepunkt zu brechen, er wischte sich Tränen aus den Augen. Im Auditorium wurde es ganz still. Gänsehaut und Emotion pur, die sich nach dem Schlussappell in einem stehenden Applaus-Gewitter entlud. Selbst nach diesem Begeisterungssturm und einem sensationellen Wahlergebnis war er sich nicht sicher, ob es gut war. Er hatte doch alles anders gemacht als bisher. Er hatte einen unkonventionellen Weg eingeschlagen. Noch ein Jahr später würden ihn Parteifreunde ansprechen und seine Rede loben. Ganz will es ihm noch immer nicht einleuchten, wie das sein konnte.

Frei nach Max Weber ist auch das Verändern von mentalen Modellen ein Bohren dicker Bretter. Nur plausible Geschichten überzeugen, auch wenn das Bildungssystem im deutschsprachigen Raum uns etwas anderes vorgaukelt. Hierzulande werden Abstraktion und Unverständlichkeit oft mit Intelligenz gleichgesetzt, auch wenn Studien das Gegenteil beweisen.

Eine „German Angst“ gibt es aber auch vorm Weinen, wie mir mein Freund erzählte. Ihm flatterte zwei Wochen nach dem Besuch seiner Tochter ein Schreiben der Rechtsanwältin der Mutter seines Kindes ins Haus. Quintessenz: Er sei psychisch labil, habe seine Emotio­nen nicht im Griff und dies sei schlecht für die Entwicklung des Babys. Als Hauptbeweis wurde das eingangs beschriebene Weinen in die juristische Schlacht geworfen. Die Anwältin meines Freundes, eine strenge Hanseatin Ende 40, riet ihm zum Leugnen, die Sache herunterzuspielen. Es könne wirklich passieren, dass das Gericht dies als Schwäche auslege, warnte sie. Für ihn kam das nicht infrage. Er bestehe darauf, das Weinen nicht nur zuzugeben, sondern als normale menschlich-emotionale Regung zu beschreiben. Er sei Österreicher und da weine man eben, wenn man sich freue oder wenn man traurig sei und er stehe dazu. Genauso sagte er es auch vor Gericht. Richterin und Jugendamt entschieden zu seinen Gunsten.

Ich stellte mir die Frage, wie ich wohl an seiner Stelle entschieden hätte. Hätte ich wie er gehandelt? Wie sehr bin ich in Konventionen gefangen? Ich bin in katholischen Schulen und Internaten groß geworden. Gehöre ich nicht auch dieser „Boys don’t cry“-Generation an,  in der Weinen als Schwäche oder als „Emotionen nicht im Griff haben“ ausgelegt wird? Wo Emotion, wo Weinen gar bestraft wird? Als ich darüber nachdachte, fielen mir mehrere persönliche Geschichten ein, die mir die Antwort gaben. Auch ich werde den 9. November 1989 nie vergessen. Ich saß damals in Wien mit mehreren Freunden vor dem Fernseher. Keiner von uns damals 19-Jährigen war Deutscher oder jemals in Berlin gewesen – und doch überwältigten uns die Bilder. Jeder von uns heulte und keiner kam – trotz spätpubertären Gehabes – auf die Idee, den anderen dafür zu verspotten.

Diese Anekdote von der Macht der Bilder, Emotio­nen und Geschichten erzählte ich vor zehn Jahren Spitzenmanagern eines großen deutschen Konzerns im Medientrainingsstudio. Alle sechs saßen in ihren Uniformen vor mir. Schwarzer Anzug, schwarze Schuhe, weißes Hemd, dunkle Krawatte. Drei von ihnen trugen Schnauzbart. Ich begann, sie anhand dieses Beispiels in die Welt der Geschichten einzuführen. Mit all ihren Rollen, dem dramaturgischen Dreigestirn Täter, Opfer, Helfer bis hin zur Bedeutung von Emotionen. Ich war noch ganz am Anfang meiner Ausführungen, als der CFO mich mit den Worten unterbrach: „Entschuldigen Sie bitte, aber bei uns sind Emotionen verboten!“ Ich atmete tief durch und holte zum Gegenschlag aus: „Okay, dann bedanke ich mich für Ihr Kommen. Das Coaching ist somit beendet, weil wir heute fast nur über Geschichten reden würden und diese funktionieren ohne Emotion einfach nicht.“

Menschen lieben Geschichten

Nach dieser Intervention wurde es emotional, weil wir in einer intensiven Diskussion das Missverständnis aufklären konnten. Es war ein unumstößliches Gesetz in der Firmenkultur gewesen, dass man keine Emotio­nen zeigen dürfe. Gemeint war aber, dass man sich nicht vor seinen Mitarbeitern anbrüllen solle. Emotion wurde dort als Ausrasten, sich nicht unter Kontrolle zu haben, definiert. Das gehört der Vergangenheit an, genauso wie Krawatten- und Anzugpflicht.

Was vor zehn Jahren verpönt war, ist heute erwünscht. Die Macht der Emotion wird meiner Meinung nach immer – auch in der digitalisierten Welt – wirken. Sirimavo Bandaranaike ist dafür ein gutes Beispiel. Nach der Ermordung ihres Mannes wurde sie 1960 Premierministerin Ceylons, dem heutigen Sri Lanka, und damit die erste frei gewählte Premierministerin der Welt. Sie ließ reichlich Tränen fließen, die Bevölkerung stattete sie mit einem Mitleidsbonus aus. Bald wurde die „weinende Witwe“ wegen ihres autoritären Regierungsstils und Vetternwirtschaft unbeliebt. Die Tränen flossen weiter, aus Mitleid wurde Häme und Hass. Der Grat ist eben schmal.

Menschen wählen Menschen, keine uniformierten Fakten-Roboter. Menschen lieben Geschichten, vom Flurfunk bis zu „House of Cards“. Sie brauchen Emotionen, um zu verstehen. Genauso wie Politiker lernen müssen, komplexe Materien in plausible Geschichten zu verpacken, müssen sie sich im Haifischbecken Politik das Menschsein bewahren. Sie müssen lernen, sich kennen zu lernen und ihre Stärken zu einem Profil entwickeln, mit dem sie im Reinen sind. Dann kommen Emotionen im richtigen Moment, auch die echten Tränen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe politik&kommunikation I/2016 Emotionen. Das Heft können Sie hier bestellen.