Die Fraktionschefs im Bundestag sind nicht immer die Bekanntesten und Populärsten in der Politik. Doch ohne sie läuft nichts im Maschinenraum der parlamentarischen Demokratie. Insbesondere die Köpfe von Koalitionsfraktionen verfügen über Macht und Einfluss wie sonst nur der Bundeskanzler oder die wichtigsten Minister – und selbst diese sind auf die Unterstützung der Fraktionschefs angewiesen. „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung“, heißt es im Grundgesetz. Doch damit Verfassung und Verfassungswirklichkeit übereinstimmen, bedarf es ausreichender Mehrheiten im Bundestag und vor allem der Zustimmung der Regierungsfraktionen – insbesondere der Zustimmung der Fraktion, der der Kanzler angehört. Das zu bewerkstelligen ist die vornehmste Aufgabe ihres Vorsitzenden.
Regierungschefs legen großen Wert auf nahezu nahtlose Übereinstimmung mit „ihrem“ Fraktionsvorsitzenden – erst bei der Auswahl und später im politischen Alltag. Die Fraktionschefs wirken an den Richtlinien des Kanzlers mit. Sie haben sie in der Fraktion durchzusetzen. Kanzler wissen das. Die andere Seite: Der Fraktionschef der Kanzlerpartei muss dem Regierungschef gegenüber loyal sein. Die selbstbewussten Abgeordneten seiner Fraktion hat er zu überzeugen und nötigenfalls mit politischen Mitteln zu zwingen, die Vorhaben des Regierungschefs zu unterstützen.
Bisweilen muss er die Peitsche zücken. Zugleich hat er persönliche Interessen und Karriereziele zurückzustellen. Er darf sich nicht in Konkurrenz zum Kanzler begeben. Vielen Herren und Herrinnen hat er zu dienen und zugleich die selbstbewusst agierenden Abgeordneten zusammenzuhalten. Keine leichte Aufgabe ist das.
Mützenich führt modern
Die Lasten der damit eingehenden Pflichten können ordentlich drücken. Dem amtierenden SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich war und ist das anzusehen. Er gehört anders als Bundeskanzler Olaf Scholz zum linken Parteiflügel. Promoviert wurde er mit einer friedenspolitischen Arbeit. Seine Bundestagsrede über die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine („Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?“) ist Ausdruck davon.
Mützenich hatte das Amt des Fraktionschefs nicht aktiv angestrebt. 2019, nach dem Rücktritt von Andrea Nahles, fiel ihm als Dienstältesten ihrer Stellvertreter das Amt in den Schoß. Man kann davon ausgehen, dass der Parteilinke bei der SPD-Mitgliederbefragung, wer Parteichef der Sozialdemokraten werden solle, nicht zu den Unterstützern von Scholz zählte. Gleichwohl befürwortete er dessen Kanzlerkandidatur.
Nach der Bundestagswahl 2021 war das Amt des Bundestagspräsidenten sein erstes Ziel. Weil das nicht zu erreichen war, blieb Mützenich Fraktionsvorsitzender. Fortan hatte er die Pflicht, Scholz zu unterstützen. Er tat und tut es, ohne viel Aufhebens von sich und von Macht und Einfluss zu machen. Er kam Scholz nicht in die Quere.
Seine Rede über das „Einfrieren“ des Krieges Russlands gegen die Ukraine war der erste Fall, in dem er sich als Chef präsentierte. Abgeordnete in seiner Fraktion auf dem linken Flügel wie auch beim Seeheimer Kreis, die sich selbst als künftige Vorsitzende sehen, fügten sich und unterstützten ihn. Das Nein von Scholz zu Taurus-Lieferungen erleichterten ihm diesen Vorstoß. Doch ohne Mützenich wird es Scholz weiterhin schwerfallen, seine sogenannte Richtlinienkompetenz durchzusetzen.
Große Namen
So gesehen reiht sich Mützenich in die Reihe großer Namen ein. Herbert Wehner war der erste SPD-Fraktionsvorsitzende, der SPD-Kanzlern zu dienen hatte – von 1969 bis 1982. Er tat es nicht bedingungslos. Von Willy Brandt war er nicht überzeugt. Wehners auf Brandt gemünzter Spruch „Der Herr Bundeskanzler badet gerne lau“ leitete den Rücktritt Brandts ein. Die Politik Helmut Schmidts aber setzte er in seiner Fraktion mit Härte durch. „Zuchtmeister“ wurde er genannt. Alle Nachfolger wurden an ihm gemessen.
Wehner und Schmidt bildeten das SPD-Führungsduo in der sozialliberalen Koalition. Wehner verstand sich nicht als Konkurrent, sondern als Diener der beiden Kanzler, mit denen er es zu tun hatte. Das war auch das Selbstverständnis der beiden weiteren SPD-Fraktionsvorsitzenden, die Jahre später einem sozialdemokratischen Bundeskanzler zuarbeiteten. In der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder stand zunächst Peter Struck an der Spitze der Fraktion und später dann, nachdem Struck widerstrebend Bundesminister der Verteidigung geworden war, Franz Müntefering.
Struck war vom Schlag „raue Schale, weicher Kern“. Fraktionschef war er 1998 nach dem Wahlsieg Schröders geworden, als sich die beiden Machthaber der SPD – Schröder und damals noch Oskar Lafontaine – schwertaten mit der Verteilung der Posten in Fraktion und Regierung. Müntefering war von anderer Art. Er strebte das Amt des Fraktionsvorsitzenden aktiv an. Nach der Bundestagswahl 2002 hatte er sein Ziel erreicht. Schröders Politik – vor allem die Vorhaben der Agenda-2010-Sozialreformen – unterstützte er in der Fraktion vorbehaltlos. Wie ein Zuchtmeister wirkte auch er.
Wegen der knapp gewordenen Mehrheitsverhältnisse setzte er immer wieder namentliche Abstimmungen an, um die Kritiker in der Fraktion zu disziplinieren: Wer abweichen wollte, musste das schwarz auf weiß tun. Auf Parteitagen trat Müntefering machtbewusst auf und wurde bejubelt. 2004 überließ Schröder ihm sogar den Parteivorsitz. Erstmals seit den 1950er Jahren, als zunächst Kurt Schumacher und dann Erich Ollenhauer Partei- und zugleich Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Sozialdemokraten waren, lagen in der SPD die beiden Ämter in einer Hand. Schröder und Müntefering agierten gemeinsam und auf Augenhöhe. Eine Grenze für sich hatte Müntefering gezogen: Das Kanzleramt strebte er nicht an. Das war Grundlage seiner Zusammenarbeit mit Schröder.
Konrad Adenauer war wenige Wochen CDU/CSU-Fraktionschef, bevor er Kanzler wurde. Auch für Helmut Kohl und Angela Merkel war die Rolle an der Spitze der Bundestagsfraktion – neben dem CDU-Parteivorsitz – die Basis und Vorstufe zur späteren Kanzlerschaft. Auch Rainer Barzel, der von 1964 bis 1973 der CDU/CSU-Fraktion vorstand, hatte – vergeblich – das Kanzleramt im Blick. Kohl und Merkel sorgten in den Oppositionsjahren der Unionsparteien dafür, die Spitzenämter in der Bundestagsfraktion – Geschäftsführer, Stellvertreter und Sprecher der Arbeitskreise – auf sich auszurichten.
Das wichtigste Amt, das sie nach ihrer Wahl an die Spitze des Kanzleramtes zu vergeben hatten, war die Auswahl des Fraktionsvorsitzenden. Loyal musste er sein, durchsetzungsfähig in der Fraktion und die verschiedenen Parteiflügel integrierend, nicht aber Konkurrent. Adenauer hatte Heinrich von Brentano und Heinrich Krone. Kohl hatte Alfred Dregger und Wolfgang Schäuble. Merkels Fraktionschef war Volker Kauder. Selbstbewusst führte Kauder die Fraktion, zugleich aber Merkels Politik durchsetzend und eigene Zweifel zurückstellend.
Als die CDU/CSU-Fraktion 2018 Kauder abwählte und Ralph Brinkhaus zum Vorsitzenden bestimmte, war Merkels Machtbasis zerbröselt. Wenig später verzichtete sie auch auf den Parteivorsitz. Friedrich Merz hat sich mit seiner Entscheidung, nach seiner Wahl zum CDU-Vorsitzenden auch das Amt des Fraktionschefs und damit des Oppositionsführers zu beanspruchen, die Option einer Kanzlerkandidatur offengehalten: so wie einst Kohl und Merkel, die ihm ja nach der Bundestagswahl 2002 das Spitzenamt der Fraktion entrissen hatten.
Akteure und Diener zugleich
Die Fraktionschefs der kleineren Parteien haben ähnliche Pflichten wie diejenigen der großen. Den Zusammenhalt und die Geschlossenheit der Fraktionen haben auch sie zu gewährleisten. Interne Machtkämpfe kommen auch bei Anhängern von Grünen, FDP, den diversen Linksparteien und der AfD nicht gut an. Zumal sollten die Vorsitzenden von Oppositionsfraktionen rhetorisch begabt sein. Manche Fraktionsvorsitzende aus diesem parlamentarischen Spektrum verstehen ihr Amt als Sprungbrett, um später als Koalitionspartner ein Ministeramt zu übernehmen.
Joschka Fischer wollte die Grünen in die Bundesregierung führen. 1998 war er am Ziel und wurde Außenminister der rot-grünen Bundesregierung. Seitens der FDP taten es ihm Guido Westerwelle und Christian Lindner nach. Nach seiner Tätigkeit als Fraktionschef wurde Westerwelle – 2009 war das – Außenminister einer schwarz-gelben Bundesregierung unter Angela Merkel (CDU), Lindner 2021 Bundesfinanzminister der amtierenden Ampelregierung.
Vorsitzende von kleineren Koalitionsfraktionen aber haben besondere Aufgaben. Einerseits haben sie dafür zu sorgen, interne Unzufriedenheiten mit „ihrer“ Bundesregierung zu kanalisieren, Eskalationen zu verhindern und Koalitionsabsprachen durchzusetzen. Sie sind Akteure und Diener zugleich. Das waren etwa Thomas Oppermann (SPD), Rezzo Schlauch und Kerstin Müller (Grüne). Aktuell haben das Christian Dürr (FDP) sowie Britta Haßelmann und Katharina Dröge (Grüne) zu gewährleisten. Keiner aber schaffte das so lange wie Wolfgang Mischnick (FDP).
23 Jahre, von 1968 bis 1991, stand der Bundestagsabgeordnete an der Spitze seiner Fraktion: erst in der Rolle des Oppositionsführers, dann in Zeiten der sozialliberalen Koalition und schließlich neun Jahre lang, als die FDP mit den Unionsparteien unter Helmut Kohl koalierte. Der Spagat der Aufgaben des gebürtigen Sachsen klang in seinen Bundestagsreden an. Wenn Mischnick von „Koalition“ sprach, hörte sich das stets an wie „Kollision“. Zuverlässig und koalitionstreu war er trotzdem, was auch daran lag, dass er keine weitergehenden Ambitionen hegte. Oft geraten Politiker dieser Qualität und Leistungen in Vergessenheit. Zu Unrecht.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 147 – Thema: 25 Jahre Hauptstadtjournalismus. Das Heft können Sie hier bestellen.